JurPC Web-Dok. 24/2024 - DOI 10.7328/jurpcb202439225

VG Freiburg

Beschluss vom 26.01.2024

6 K 4402/23

Verwertbarkeit des Inhalts von Chatverläufen

JurPC Web-Dok. 24/2024, Abs. 1 - 19


Leitsatz:

1. Relevanz der Einstellung des Strafverfahrens gemäß § 170 Abs. 2 StPO für eine Maßnahme der erkennungsdienstlichen Behandlung (sog. Strafverfolgungsvorsorge) nach § 81b Abs. 1 Alt. 2 StPO.

2. Verwertbarkeit des Inhalts von Chatverläufen des Krypto-Messengerdienstes "Anom" (hier für Zwecke der Gefahrenabwehr im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität bejaht).

Gründe:

I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen, da die beabsichtigte Rechtsverfolgung gemäß den nachfolgenden Ausführungen keine hinreichende Erfolgsaussicht bietet (§ 166 Abs. 1 VwGO, § 114 ZPO).Abs. 1
II. Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig. Der Antragsteller begehrt, sachdienlich ausgelegt, die Wiederherstellung und Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die Verfügung des Polizeipräsidiums Konstanz vom 19.12.2023 (zugestellt am 22.12.2023). Darin ist er nach vorheriger Anhörung aufgefordert worden, sich beim Polizeirevier ... spätestens eine Woche nach Zustellung der Verfügung während der allgemeinen Bürostunden Montag bis Freitag, von 8:00 Uhr bis 16:00 Uhr, einzufinden und gemäß § 81b Abs. 1 Alt. 2 StPO erkennungsdienstlich behandeln zu lassen. Die Anfertigung von Finger- und Handflächenabdrücken, 5-teiligen Fotos (2 x Profil, 2 x Halbprofil und Frontalaufnahme), Ganzaufnahmen sowie die Erhebung und Beschreibung der äußerlich erkennbaren körperlichen Merkmale ist hierzu angeordnet worden (Ziffer 1). Für den Fall, dass er dieser Aufforderung nicht innerhalb der gesetzten Frist Folge leistet, ist ferner ein Zwangsgeld i.H.v. 250,-- EUR angedroht worden (Ziffer 2). Schließlich ist der Sofortvollzug der Verfügung angeordnet worden (Ziffer 3). Dem hiergegen (rechtzeitig) am 02.01.2024 erhobenen Widerspruch des Antragstellers, über den bislang noch nicht entschieden worden ist, kommt gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO (bezogen auf Ziffer 1) bzw. § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. § 12 Abs. 1 LVwVG (bezogen auf Ziffer 2) keine aufschiebende Wirkung zu.Abs. 2
Der Antrag ist indessen unbegründet. Das öffentliche Interesse an einer zügigen, nicht durch den Suspensiveffekt des § 80 Abs. 1 VwGO gehinderten erkennungsdienstlichen Behandlung überwiegt das private Interesse des Antragstellers, vor unanfechtbarem Abschluss eines Hauptsacheverfahrens von einer Vollziehung verschont zu bleiben. Ausgehend hiervon bestehen ferner keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Zwangsgeldandrohung.Abs. 3
1.) Die in der Verfügung vom 19.12.2023 für die Anordnung des Sofortvollzugs gegebene Begründung genügt dem (nur) formellen Begründungsgebot des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. In der Begründung einer Vollziehungsanordnung hat die Behörde schlüssig, konkret und substantiiert darzulegen, aufgrund welcher Erwägungen sie gerade im vorliegenden Einzelfall ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung als gegeben ansieht und das Interesse des Betroffenen am Bestehen der in § 80 Abs. 1 VwGO gesetzlich vorgesehenen aufschiebenden Wirkung ausnahmsweise zurückzutreten hat. Diesen Anforderungen hat der Antragsgegner genügt. Den Sofortvollzug erachtet er als geboten, da er aus den von ihm aufgeführten Vorgängen in den Jahren 2021 und 2023 den Antragsteller als Drogenkonsumenten und aktiven Unterstützer des Rauschgifthandels ansieht und daraus die Befürchtung ableitet, dass dieser kurzfristig wieder Drogen zum Eigenkonsum oder gewinnbringenden Weiterverkauf erwerben bzw. den Betäubungsmittelhandel anderer Mittäter aktiv unterstützen werde. Zur Aufklärung solcher Taten erachtet es der Antragsgegner daher für erforderlich, dass die erkennungsdienstlichen Daten, soll die Maßnahme effektiv ihre präventive Wirkung entfalten können, sofort und nicht erst nach Abschluss eines mehrjährigen Widerspruchs- und Verwaltungsstreitverfahrens zur Verfügung stehen, da sie dazu dienen, tatsächliche Hilfsmittel für künftige Strafverfahren vorsorglich bereitzustellen.Abs. 4
2.) In materieller Hinsicht überwiegt nach der im summarischen Verfahren möglichen Erkenntnis das öffentliche Interesse am Sofortvollzug. Dies folgt daraus, dass die formell-rechtlich nicht zu beanstandende Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung und die dazu ergangene Vorladung sehr wahrscheinlich auch materiell rechtmäßig ist. Das darüber hinaus erforderliche besondere Vollzugsinteresse wird durch die der Anordnung zugrundeliegende Prognose der Wiederholungsgefahr indiziert (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 05.04.2016 - 1 S 275/16 - juris Rn. 3):Abs. 5
Eine ausreichende Anhörung des Antragstellers gemäß § 28 Abs. 1 LVwVfG erfolgte im Vorfeld der Verfügung vom 19.12.2023. Mit Schreiben vom 20.11.2023 (zugestellt am 23.11.2023) wurde auf das im Jahr 2022 eingeleitete geführte Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz und die beabsichtigte erkennungsdienstliche Behandlung gemäß § 81b Abs. 1 Alt. 2 StPO hingewiesen und (auf anwaltliche Einschaltung und Bitte hin) im Wege der Fristverlängerung bis zum 18.12.2023 - mithin ausreichend - Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Es kann kein Zweifel bestehen, dass der Antragsteller damit wusste bzw. hätte wissen müssen, welcher Vorgang Anlass einer erkennungsdienstlichen Behandlung sein sollte, nachdem er im Rahmen der Ermittlungen bereits unter dem 12.07.2023 zur Vernehmung als Beschuldigter geladen worden war (ohne dem nachzukommen).Abs. 6
In materieller Hinsicht liegen mit hoher Wahrscheinlichkeit die Voraussetzungen für eine präventiv-polizeiliche erkennungsdienstliche Behandlung vor. Rechtsgrundlage für Ziffer 1 der Verfügung ist § 81b Abs. 1 Alt. 2 StPO (in der Fassung seit 01.10.2022). Danach dürfen, soweit es für die Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig ist, Lichtbilder und Fingerabdrücke des Beschuldigten auch gegen seinen Willen aufgenommen und Messungen und ähnliche Maßnahmen an ihm vorgenommen werden. Es handelt sich um die Ermächtigung zu Maßnahmen der Strafverfolgungsvorsorge, die außerhalb konkreter Strafverfahren erfolgen und zum Recht der Gefahrenabwehr gehören (vgl. zur inhaltsgleichen, bis 30.09.2022 geltenden alten Fassung des § 81b Alt. 2 StPO: BVerwG, Beschluss vom 18.05.2011 - 6 B 1.11 - juris Rn. 3/4).Abs. 7
Gegen den Antragsteller ist bei Erlass der Anordnung vom 19.12.2023 ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen § 29a Abs. 1 Nr. 2, § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG (unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Mitführung einer Schusswaffe) anhängig gewesen. Beschuldigter ist der Tatverdächtige, gegen den ein Ermittlungs-/Strafverfahren geführt oder eingeleitet wird (Monka, in: BeckOK StPO, 49. Ed. 01.10.2023, StPO § 157 Rn. 1). Zwar wurde dieses Verfahren mit Verfügung der Staatsanwaltschaft Konstanz vom 27.12.2023 und damit vor Erlass eines Widerspruchsbescheids eingestellt. Für die Rechtmäßigkeit einer Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen reicht es indessen aus, dass der Betroffene im Anordnungszeitpunkt Beschuldigter war. Fällt die Beschuldigteneigenschaft vor Erlass des Widerspruchsbescheids infolge strafrechtlicher Verurteilung, Einstellung des Verfahrens oder Freispruchs weg, wird die Rechtmäßigkeit der Anordnung nach § 81b Abs. 1 Alt. 2 StPO dadurch nicht zwingend infrage gestellt. Die der Strafverfolgungsvorsorge dienende Anordnung wird nur anlässlich des laufenden Ermittlungs- oder Strafverfahrens getroffen, nicht aber zu dessen Förderung, so dass ihre Rechtmäßigkeit nicht vom Fortbestand der Beschuldigteneigenschaft bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids abhängt (BVerwG, Urteil vom 27.06.2018 - 6 C 39.16 - juris Rnr. 14 und 17).Abs. 8
Sehr wahrscheinlich zu Recht hat der Antragsgegner aus den von ihm angeführten Ermittlungserkenntnissen darauf geschlossen, dass eine erkennungsdienstliche Behandlung des Antragstellers notwendig ist. Diese Notwendigkeit bemisst sich danach, ob der anlässlich des gegen den Betroffenen gerichteten Strafverfahrens festgestellte Sachverhalt nach kriminalistischer Erfahrung angesichts aller Umstände des Einzelfalls - insbesondere angesichts der Art, Schwere und Begehungsweise der dem Betroffenen im strafrechtlichen Anlassverfahren zur Last gelegten Straftaten, seiner Persönlichkeit sowie unter Berücksichtigung des Zeitraums, während dessen er strafrechtlich nicht (mehr) in Erscheinung getreten ist - Anhaltspunkte für die Annahme bietet, dass der Betroffene künftig oder anderwärts gegenwärtig mit guten Gründen als Verdächtiger in den Kreis potentieller Beteiligter an einer noch aufzuklärenden strafbaren Handlung einbezogen werden könnte und dass die erkennungsdienstlichen Unterlagen die dann zu führenden Ermittlungen - den Betroffenen schließlich überführend oder entlastend - fördern könnten (BVerwG, Urteil vom 19.10.1982 - 1 C 29.79 - juris Rn. 33; Urteil vom 23.11.2005 - 6 C 2.05 - juris Rn. 22). Hinsichtlich der Notwendigkeit ist nicht (nur) auf den Zeitpunkt des Erlasses der Anordnung, sondern auf den Zeitpunkt der tatsächlichen Vornahme der Maßnahmen abzustellen (BVerwG, Beschluss vom 14.07.2014 - 6 B 2.14 - juris Rn. 5; Urteil vom 27.06.2018, a.a.O., Rn. 20). Im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle einer noch nicht vollzogenen Anordnung kommt es deshalb für die Notwendigkeit erkennungsdienstlicher Maßnahmen auf die Sachlage - hier anlässlich des Eilverfahrens - im Zeitpunkt der Entscheidung der Kammer an.Abs. 9
Die vom Antragsgegner getroffene positive Prognose zukünftiger Betäubungsmittelstraftaten des Antragstellers ist aller Voraussicht nach nicht zu beanstanden. Der Antragsteller wurde - was von ihm nicht bestritten wird - am 18.04.2023 vom Amtsgericht ... wegen in den Jahren 2020 und 2021 versuchter Einfuhr von Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 60 EUR verurteilt. Anlass des vorliegenden Verfahrens einer erkennungsdienstlichen Behandlung war schließlich der durch Auswertung von Chatgesprächen mit Krypto-Handys unter Nutzung des Anbieters „Anom“ begründete Verdacht, dass der Antragsteller zusammen mit seinem Bruder ohne betäubungsmittelrechtliche Erlaubnis im Zeitraum März bis Mai 2021 von einer getrennt verfolgten Person in Frankfurt/Main mehrfach Marihuana, Kokain, Haschisch und Amphetamin in größeren Mengen gekauft und sodann im Raum ... gewinnbringend weiterverkauft hat und hierbei ohne waffenrechtliche Erlaubnis scharfe Schusswaffen mit sich führte. Im Zuge dieser Ermittlungen erfolgten am 29.06.2023 richterlich angeordnete Durchsuchungen der Wohnungen des Antragstellers, dessen Bruders sowie deren Mutter. Hierbei wurden der Signal-Chatverlauf zwischen dem Antragsteller und einem „...“ und „..." vom 28.04. bis 06.05. sichergestellt, wo die Rede von „Hase", „Hasch", „Felgen" und Kosten war sowie, dass „die Ware am Montag 100% rausgeht“. Beim Bruder des Antragstellers wurden 11,6 Gramm netto Marihuana und 180,29 Gramm netto Cannabissamen, sowie 1.000,-- EUR vermutliches Dealgeld sichergestellt. In der Wohnung der Mutter schließlich, in welcher der Antragsteller seit der Trennung von seiner Ehefrau laut deren Auskunft tatsächlich wohnte und die er im Gerichtsverfahren auch als ladungsfähige Anschrift angegeben hat, wurde eine Marihuana-Blüte mit 0,2 Gramm netto vorgefunden und sichergestellt. Diese Erkenntnisse rechtfertigen die Annahme, dass es sich beim Antragsteller um einen Drogenkonsumenten und/oder in den Handel mit Drogen aktiv einbezogenen Täter handelt, der folglich auch künftig zum Verdächtigen einer einschlägigen Straftat werden kann. Drogenstraftaten gehören wegen der damit häufig verbundenen Drogensucht zu einem Deliktstypus, bei dem nach kriminalistischem Erfahrungswissen generell eine hohe Rückfallwahrscheinlichkeit besteht. Der präventiven Arbeit der Polizei kommt bei der Bekämpfung der Drogenkriminalität gerade in solchen Fällen besondere Bedeutung zu, um entsprechende Straftaten aufklären und eindämmen zu können (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 05.04.2016, a.a.O., Rn. 11). Für den vorliegend möglicherweise ebenfalls einschlägigen organisierten Drogenhandel gilt dies erst recht.Abs. 10
Dass das Anlassverfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurde (vgl. Verfügung der Staatsanwaltschaft Konstanz vom 27.12.2023), geht nicht zugunsten des Antragstellers. Weder eine Strafaussetzung zur Bewährung noch die Einstellung eines Strafverfahrens durch die Staatsanwaltschaft gemäß § 170 Abs. 2 StPO lassen die Notwendigkeit einer erkennungsdienstlichen Behandlung von vornherein entfallen (BVerwG, Urteil vom 27.06.2018, a.a.O., Rn. 23). Grundlage der Prognose der künftigen Begehung von Straftaten können danach auch Erkenntnisse aus einem nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellten Ermittlungsverfahren sein. Die Verfahrenseinstellung als solche steht der Annahme eines (Rest-)Tatverdachts nicht entgegen. Die Berücksichtigung von Verdachtsgründen, die auch nach einer Verfahrenseinstellung fortbestehen können, stellt keine Schuldfeststellung oder -zuweisung dar, wenn und soweit sie anderen Zwecken, insbesondere der vorbeugenden Straftatenbekämpfung, dient. Sie verstößt daher auch nicht gegen die in Art. 6 Abs. 2 EMRK verbürgte Unschuldsvermutung (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13.07.2011 - 1 S 350/11 - juris Rn. 21; ebenso im Kontext der Speicherung und weiteren Verwendung der in einem Strafverfahren gewonnenen personenbezogenen Daten selbst nach einem rechtskräftigen Freispruch: BVerwG, Beschluss vom 25.03.2019 - 6 B 163.18 - juris Rn. 8). Die von der Staatsanwaltschaft Konstanz im Schreiben vom 03.01.2024 (GAS. 35) angegebenen Gründe für eine Einstellung des Verfahrens, wonach die „Anom“-Erkenntnisse sowie im geringen Umfang Erkenntnisse aus Handyauswertung nicht genügten (sc. als Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage, vgl. § 170 Abs. 1 StPO), sind nicht geeignet, einen Restverdacht in tatsächlicher Hinsicht auszuräumen. Für die Annahme eines Restverdachts bedarf es keiner überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung, so dass er nicht bereits bei bloßen Zweifeln oder durch Rückgriff auf den - insoweit unanwendbaren, lediglich strafprozessualen Grundsatz "Im Zweifel für den Angeklagten" - entfällt. Andererseits muss die Tatbegehung zum Ausschluss des Restverdachts nicht bereits naturwissenschaftlich zwingend unmöglich gewesen sein. Ausreichend, aber auch erforderlich ist vielmehr auch insoweit die unter Berücksichtigung aller Umstände gewonnene Überzeugung, dass kein vernünftiger Mensch mehr an der Unschuld des Betroffenen zweifelt (OVG Lüneburg, Beschluss vom 12.09.2011 - 11 LA 209/11 - juris Rn. 4).Abs. 11
Dies zugrunde gelegt, gibt es hier keinen vernünftigen Zweifel am (Fort-)Bestehen eines durch die staatsanwaltliche Einstellungsentscheidung unberührten Restverdachts. Zu einschlägig, was die darin zur Sprache kommenden Drogen (Haschisch, Marihuana, Kokain, Amphetamin) und Waffen sowie den Transport und Umgang damit betrifft, sind die zwischen dem Antragsteller und seinem Bruder sowie einer weiteren Person dokumentierten Gesprächsinhalte, als dass in tatsächlicher Hinsicht eine Verwicklung des Antragstellers in Betäubungsmittelstraftaten vernünftigerweise bezweifelt werden könnte. Die in den Akten dokumentierte ausführliche Analyse weist neben der in den Chats erfolgten häufigen Nennung der Vornamen des Antragstellers und seines Bruders ferner wesentliche weitere Schritte (u.a. Geostandortdaten-Auswertung) zur Identifizierung der den beiden Brüdern zugeordneten User-Namen „...“ undAbs. 12
„...“ auf (vgl. die betreffenden Aktenvermerke vom 28.03.2022 und vom 27.10.2022). Vor diesem Hintergrund kann keine Rede davon sein, es sei - wie der Antragsteller behauptet - nicht geklärt, wer letztendlich kommuniziert habe.Abs. 13
Sehr wahrscheinlich schließlich kann sich der Antragsteller in rechtlicher Hinsicht auch nicht auf ein Verwertungsverbot betreffend den Inhalt der „Anom“-Chatverläufe berufen. Die „Anom“-App wurde durch die US-Bundespolizei FBI selbst entwickelt. Ziel des Inverkehrbringens des Krypto-Handys „Anom“ war, Zugriff auf die Kommunikation von kriminellen Organisationen zu erhalten. Die „Anom“-Geräte waren Ende-zu-Ende verschlüsselt; ein angehefteter Master-Key ermöglichte es dem FBI, die Nachrichten zu entschlüsseln und zu speichern. Jedem „Anom“-Benutzer war nach Erhalt eines Geräts eine eindeutige Jabberidentifikation zugewiesen, die nicht geändert werden konnte. Nach Installierung der „Anom“-App auf ein Smartphone konnte nur noch mit „Anom“-Nutzern kommuniziert werden. Das FBI stellte die gelesenen Nachrichten den Strafverfolgungsbehörden der jeweiligen Länder - in Deutschland dem Bundeskriminalamt Wiesbaden - zur Verfügung. Die Generalstaatsanwaltschaft ersuchte im Wege der Rechtshilfe um Erlaubnis der Verwendung der Daten, die durch die US-amerikanischen Behörden erteilt wurde (vgl. die in der Akte des Antragsgegners befindliche Verfügung der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main vom 20.05.2021; vgl. ferner die entsprechende Darstellung der Hintergründe im Beschluss des OLG Frankfurt vom 22.11.2021 - 1 HEs 427/1 - juris Rn. 4). Ob „Anom“-Chatverläufe strafprozessual verwertbar sind, wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung überwiegend bejaht (vgl. Saarländisches OLG, Beschluss vom 30.12.2022 - 4 HEs 35/22 - juris Rn. 4 ff.; OLG Frankfurt, Beschluss vom 22.11.2021, a.a.O., Rn. 5 ff.; dagegen bzw. zweifelnd indessen: OLG München, Beschluss vom 19.10.2023 - 1 Ws 525/23 - juris Rn. 43 ff.). Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist bislang nur zur Verwertbarkeit von durch französische Behörden übermittelten Daten des Kryptoanbieters „EncroChat“ ergangen und bejaht worden, wenn sie der Aufklärung schwerer Straftaten - wie dem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge - dienen (BGH, Beschluss vom 02.03.2022 - 5 StR 457/21 - juris).Abs. 14
Unabhängig von strafprozessualen Erwägungen besteht im hier maßgeblichen Bereich der Gefahrenabwehr indessen mit überaus hoher Wahrscheinlichkeit eine Verwertbarkeit der Chatverläufe. Wie bereits ausgeführt, setzt die Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung im Interesse der Strafverfolgungsvorsorge lediglich einen bestehenden (Rest-)Tatverdacht, nicht aber die Feststellung strafrechtlicher Schuld voraus. Ein Tatverdacht kann aber auch dann fortbestehen, wenn es lediglich mangels Beweisbarkeit zur Einstellung des Verfahrens kommt, bei der es sich - wie auch hier - nicht um einen Freispruch handelt. Die Feststellung des Tatverdachts ist etwas substantiell anderes als eine Schuldfeststellung, der ein strafprozessrechtliches Beweisverwertungsverbot entgegenstehen würde (vgl. für die Strafverfolgungsvorsorge: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13.07.2011 - 1 S 350/11 - juris Rn. 28 (Verwertung von Aussagen trotz erfolgter Zeugnisverweigerung der Ehefrau); OVG Lüneburg, Beschluss vom 12.09.2011, a.a.O., Rn. 5 (unterbliebene Belehrung über Anwesenheitsrecht der Eltern eines jugendlichen Beschuldigten)). Auch im Rahmen einer Abwägung zwischen dem Integritätsinteresse des von dem Eingriff betroffenen Grundrechtsträgers und dem Gewicht der sonst zu beachtenden Belange spricht weitaus Überwiegendes für eine Verwertung der „Anom“-Chatverläufe. Während Beweisverwertungsverbote im vorrangig repressiven Zwecken dienenden Strafprozess dem Spannungsverhältnis zwischen dem staatlichen Strafverfolgungsanspruch einerseits und dem Grundrechtsschutz des Betroffenen andererseits Rechnung tragen, sind im rein präventiven Polizeirecht mit erheblichem Gewicht auch Rechtsgüter einer unbestimmten Zahl Dritter, namentlich im Betäubungsmittelbereich deren Leben und Gesundheit, zu beachten, sodass deren Schutz regelmäßig überwiegt (vgl. für das Recht der Fahrerlaubnisentziehung: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.06.2010 - 10 S 4/10 - juris Rn. 11; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26.09.2016 - 16 B 685/16 - juris Rn. 15).Abs. 15
Die Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen ist schließlich aller Voraussicht nach auch auf der Rechtsfolgenseite, auf welcher dem Antragsgegner - wie er ausweislich der Begründung (vgl. Seite 3 der Verfügung) erkannt hat - Ermessen eingeräumt ist (zum Umfang der gerichtlichen Überprüfung vgl. § 114 VwGO), nicht zu beanstanden. Das Entschließungsermessen der Behörde ist bei bejahtem Tatbestandsmerkmal der Notwendigkeit weitgehend in Richtung auf den Erlass einer Anordnung determiniert (BVerwG, Urteil vom 27.06.2018, a.a.O., Rn. 25). Der Antragsgegner hat seine Maßnahme auf eine ausschließlich für den Bereich der Betäubungsmittelkriminalität angenommene Wiederholungsgefahr gestützt. Insoweit ist es unschädlich, dass er in seiner Verfügung auch weitere Straftaten des Antragstellers (Körperverletzung und Betrug) aufführt. Diese spielten nämlich - wie aus der weiteren Begründung zur Verhältnismäßigkeit und ergänzend auch aus den Erwägungen zur Anordnung des Sofortvollzugs hervorgeht - für das Entschließungsermessen keine Rolle. Geeignete erkennungsdienstliche Unterlagen, auf die der Antragsgegner bereits zurückgreifen könnte, gibt es schließlich bislang noch nicht, weshalb ein Absehen von der Maßnahme auch sonst nicht in Betracht kam. Die Betätigung des Auswahlermessens ist sehr wahrscheinlich ebenfalls rechtmäßig erfolgt. Die vom Antragsteller angeforderten bzw. von ihm zu duldenden erkennungsdienstlichen Maßnahmen sind hinreichend bestimmt (vgl. insoweit auch die Aufzählung in § 41 Abs. 2 PolG). Der Antragsgegner hat diese auch nicht etwa unreflektiert als eine Art „Gesamtpaket“ angeordnet (vgl. dazu, dass jede Einzelmaßnahme als gesonderter Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung am Übermaßverbot zu messen ist: BVerwG, Urteil vom 27.06.2018, a.a.O., Rn. 26). An der Eignung und Erforderlichkeit aller erkennungsdienstlichen Unterlagen als unterstützendes Ermittlungsinstrument spezifisch bei der Aufklärung von Betäubungsmitteldelikten bestehen keine durchgreifenden Zweifel. Entsprechendes gilt angesichts der von Betäubungsmitteln ausgehenden Gefahren und der besonderen Bedeutung der präventiven Arbeit der Polizei im Bereich der Drogenkriminalität für die Angemessenheit der Maßnahme (so ausdrücklich für Finger- und Handflächenabdrücke, Lichtbilder (fünfteilige Aufnahme und Ganzaufnahme) sowie die Beschreibung der Person aufgrund äußerlich erkennbarer Merkmale: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 05.04.2016, a.a.O., Rn. 14/15).Abs. 16
Die für den Zweck der vorgenannten erkennungsdienstlichen Behandlung des Antragstellers erfolgte Vorladung ist damit sehr wahrscheinlich ebenfalls rechtmäßig; sie findet ihre Grundlage in § 28 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 PolG.Abs. 17
Die Androhung des Zwangsmittels, auf die sich die Anhörung vom 20.11.2023 gemäß § 28 Abs. 2 Nr. 5 LVwVfG nicht beziehen musste, beruht auf § 28 Abs. 3 Nr. 2, § 63 Abs. 1 PolG, § 1, § 2 Nr. 2, § 4 Abs. 1, § 20 Abs. 1 bis 4, § 19 Abs. 1 Nr. 1, § 23 LVwVG. Ernstliche Zweifel an ihrer Rechtmäßigkeit oder Anhaltspunkte für eine unbillige Härte (§ 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO in entsprechender Anwendung) bestehen nicht. Zwangsmittelauswahl und Höhe des Zwangsgeldes sind voraussichtlich nicht zu beanstanden. Die Höhe ist nach pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles zu bestimmen. Dabei werden regelmäßig - im Sinne eines intendierten und hier folglich auch keine nähere Begründung erfordernden Entscheidungsprogramms - die Dringlichkeit und Bedeutung der Angelegenheit, etwaiges bisheriges Verhalten des Pflichtigen sowie seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit herangezogen. Angesichts der (zulässigen) Höchstgrenze des Zwangsgeldes (50.000,-- EUR) ist der konkrete Betrag von 250,-- EUR im unteren Bereich festgesetzt worden und nicht zu beanstanden; auch der Antragsteller hat insoweit nichts eingewendet.Abs. 18
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 und 2 GKG in Verbindung mit Nummern 35.5, 1.5 und 1.7.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.Abs. 19

(online seit: 13.02.2024)
Zitiervorschlag: Gericht, Datum, Aktenzeichen, JurPC Web-Dok, Abs.
Zitiervorschlag: Freiburg, VG, Verwertbarkeit des Inhalts von Chatverläufen - JurPC-Web-Dok. 0024/2024