JurPC Web-Dok. 2/2024 - DOI 10.7328/jurpcb20243912

LG Gießen

Urteil vom 01.12.2023

9 O 67/22

Zeitpunkt elektronischer Zustellung

JurPC Web-Dok. 2/2024, Abs. 1 - 28


Leitsätze:

1.Eine wirksame Zustellung nach § 173 ZPO setzt neben der Übermittlung des Schriftstückes in Zustellungsabsicht dessen Entgegennahme durch den Empfänger in dem Willen voraus, es als zugestellt gegen sich geltend zu lassen. Dieser Wille muss durch Unterzeichnung beziehungsweise Signatur des Empfangsbekenntnisses beurkundet werden.

2. Fehlt es an den Voraussetzungen einer wirksamen Zustellung nach § 173 ZPO gilt ein Schriftstück nach § 189 ZPO als zugestellt, wenn (i) das Schriftstück so in den Machtbereich des Adressaten gelangt, dass er es behalten kann und Gelegenheit zur Kenntnisnahme von dessen Inhalt hat; (ii) Zustellungswille gegeben ist, das heißt eine formgerechte Zustellung vom Gericht wenigstens angestrebt worden ist; sowie (iii) zumindest konkludent ein Empfangswille dokumentiert ist. Das Schriftstück gilt dann nach § 189 ZPO an dem Tag als zugestellt, an dem die vorbenannten Voraussetzungen erfüllt sind.

3. Der Zugang in den Machtbereich des Adressaten tritt im Falle der elektronischen Zustellung, sofern keine technischen Probleme bestehen, zuverlässig innerhalb weniger Minuten ein.

4. Ein Empfangswille - des bereits in den Machtbereich des Empfängers gelangten Schriftstücks - wird auch durch die Bitte um dessen Übersendung dokumentiert.

Tatbestand:

In der mündlichen Verhandlung vom 05.06.2023 hat der Klägervertreter erklärt, keinen Antrag zu stellen (Bl. 175 d. A.). Auf Antrag der Beklagten hat die Kammer am Schluss der Sitzung, zu dem niemand erschienen ist, antragsgemäß klageabweisendes Versäumnisurteil (Bl. 177 f. d. A.) erlassen. Mit Verfügung vom gleichen Tag ist die Versendung des Versäumnisurteils an die Parteivertreter gegen elektronisches Empfangsbekenntnis angewiesen worden (Bl. 179 d. A.). Gemäß Erledigungsvermerk der Geschäftsstelle vom 21.06.2023 (Bl. 180 d. A.) ist das Versäumnisurteil an diesem Tag elektronisch an die Parteivertreter gegen Empfangsbekenntnis übermittelt worden. Mit elektronischen Empfangsbekenntnis vom gleichen Tag hat der Beklagtenvertreter den Empfang des Versäumnisurteils bekannt (Bl. 186 d. A.).Abs. 1
Ausweislich Eingangsbestätigung des elektronischen Anwaltspostfachs („BeA“) (Ausdruck in Aktenlasche) ist das Versäumnisurteil dem elektronischen Postfach des Klägervertreters am 21.06.2023 um 14:23 Uhr und 17 Sekunden zugegangen. Die Eingangsbestätigung weist den Klägervertreter als Empfänger sowie als übermitteltes Dokument u. a. „(…)UrschriftVersäumnisurteilnachmündlicherVerhandlung.pdf.“ aus.Abs. 2
Mit schriftsätzlicher Mitteilung vom 14.07.2023 (Bl. 189 d. A.) hat der Klägervertreter Nachreichung des Versäumnisurteils vom 05.06.2023 erbeten, da dieses ihm nicht vorliege. Gemäß weiterem Erledigungsvermerk der Geschäftsstelle vom 19.07.2023 (Bl. 193 d. A.) ist das Versäumnisurteil dem Klägervertreter sodann erneut gegen elektronisches Empfangsbekenntnis übermittelt worden. Ausweislich weiterer Eingangsbestätigung des elektronischen Anwaltspostfachs („BeA“) (Ausdruck in Aktenlasche) ist es dem Postfach des Klägervertreters am 19.07.2023 um 12:57 und 47 Sekunden zugestellt worden. Erneut weist die Eingangsbestätigung den Klägervertreter als Empfänger sowie als übermitteltes Dokument u. a. „(…)UrschriftVersäumnisurteilnachmündlicherVerhandlung.pdf.“ aus.Abs. 3
Mit Empfangsbekenntnis vom 23.08.2023 (Bl. 195 d. A.) hat der Klägervertreter den Zugang des Versäumnisurteils bekannt.Abs. 4
Mit Schriftsatz vom 06.09.2023 (Bl. 201 f. d. A.) hat der Klägervertreter Einspruch gegen das Versäumnisurteil vom 05.06.2023 eingelegt. Der Einspruch ist bei Gericht gleichentags zugegangen (Bl. 203 d. A.).Abs. 5
Mit Schreiben der Kammer vom 14.09.2023 (Bl. 207 d. A.) ist der Klägervertreter darauf hingewiesen worden, dass der Einspruch verfristet sein dürfte. Ihm ist mitgeteilt worden, dass das Versäumnisurteil ausweislich Eingangsbestätigungen des elektronischen Anwaltspostfachs bereits am 21.06.2023 sowie erneut am 19.07.2023 zugegangen ist, ohne dass ein technischer Fehler ersichtlich wäre. Dem Klägervertreter ist insoweit Gelegenheit zur Stellungnahme binnen einer Woche gewährt worden. Wegen der näheren Einzelheiten des Schreibens wird auf Bl. 207 d. A. Bezug genommen.Abs. 6
Der Klägervertreter hat mit Schriftsatz vom 24.09.2023 (Bl. 211 f. d. A.) Stellung zum Schreiben der Kammer vom 14.09.2023 genommen. Er hat ausgeführt, dass Versäumnisurteil habe ihn erst am 23.08.2023 erreicht. Die entsprechenden Protokolldateien seien beigefügt. Es könne nicht verifiziert werden, dass die Eingangsbestätigung (sic) bereits am 21.06.2023 zugegangen sei. Hilfsweise hat der Klägervertreter Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt sowie erneut Einspruch gegen das Versäumnisurteil eingelegt. Den Wiedereinsetzungsantrag hat der Klägervertreter damit begründet, dass ausweislich der Protokolldateien das Versäumnisurteil ihm erst am 23.08.2023 zugestellt worden sei. Ferner habe er bereits mit Schriftsatz vom 14.07.2023 darauf hingewiesen, dass ein Versäumnisurteil vom 05.06.2023 nicht vorliege und um Nachreichung gebeten werde. Wegen der weiteren Einzelheiten des Schriftsatzes wir auf Bl. 211 f. d. A. Bezug genommen.Abs. 7
Da die angekündigten Protokolldateien dem Schriftsatz vom 24.09.2023 nicht beigefügt gewesen sind, ist dem Klägervertreter unter Hinweis auf deren Fehlen mit Schreiben der Kammer vom 17.10.2023 (Bl. 216 d. A.) aufgegeben worden, diese binnen einer Woche zur Akte zu reichen. Daraufhin hat der Klägervertreter mit Schriftsatz vom 21.10.2023 (Bl. 221 d. A.) sein Empfangsbekenntnis vom 23.08.2023 sowie die BeA-Übermittlung zu seinem Schriftsatz vom 14.07.2023 (Bl. 225 bis 230 d. A.) zur Akte gereicht.Abs. 8
Unter Bezugnahme auf das Schreiben der Kammer vom 14.09.2023 ist der Klägervertreter mit weiterem Schreiben der Kammer vom 31.10.2023 (Bl. 236 d. A.) darauf aufmerksam gemacht worden, dass in seinen Schreiben vom 24.09.2023 und 21.10.2023 nicht dargelegt sei, weshalb ihm das Versäumnisurteil vom 05.06.2023 – trotz der anderslautenden Eingangsbestätigungen – weder am 21.06.2023 noch am 19.07.2023 zugegangen sein sollte. Insbesondere sei kein Vortrag zu etwaigen technischen Schwierigkeiten gehalten worden. Es ist darauf hingewiesen worden, dass der Einspruch nach § 341 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 ZPO als unzulässig zu verwerfen wäre und es ist dessen Rücknahme anheimgestellt worden. Gelegenheit zur Stellungnahme ist binnen einer Woche gewährt worden. Wegen der weiteren Einzelheiten des Schreibens wird auf Bl. 236 d. A. Bezug genommen.Abs. 9
Ausweislich Zustellungsurkunde vom 03.11.2023 (Bl. 241 d. A.) ist dem Klägervertreter das Schreiben der Kammer vom 31.10.2023 am 03.11.2023 zugegangen. Eine Stellungnahme des Klägervertreters ist nicht erfolgt.Abs. 10

Entscheidungsgründe:

Der Einspruch gegen das Versäumnisurteil vom 05.06.2023 war gemäß § 341 ZPO Abs. 1 S. 2, 1 ZPO als unzulässig zu verwerfen, da er nicht in der gesetzlichen Frist eingelegt wurde.Abs. 11
Nach § 339 Abs. 1 ZPO beträgt die Frist zwei Wochen und beginnt mit der Zustellung des Versäumnisurteils. Abseits eines – hier nicht gegebenen – Versäumnisurteils im schriftlichen Vorverfahren ist die Zustellung an den Rechtsbehelfsführer maßgeblich (BGH, Beschl. v. 17.04.2002 – XII ZB 186/01 = NJW 2002, 2252, 2252).Abs. 12
Zustellung ist nach § 166 Abs. 1 ZPO die Bekanntgabe eines Dokuments an eine Person in der in den §§ 166 ff. ZPO bestimmten Form. Ist ein Dokument unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, so gilt es gemäß § 189 Alt. 2 ZPO in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war, tatsächlich zugegangen ist.Abs. 13
I.Abs. 14
Nach diesen Maßgaben begann die Frist am 14.07.2023, da das Versäumnisurteil an diesem Tag dem Klägervertreter als zugegangen gilt, und endete mithin nach § 222 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 187 Abs. 1 BGB am 28.07.2023.Abs. 15
Allerdings wurde die Zustellung vor dem 23.08.2023 nicht gemäß § 173 ZPO bewirkt. Die Norm eröffnet unter anderem gegenüber Rechtsanwälten die Möglichkeit der elektronischen Bekanntgabe gegen elektronisches Empfangsbekenntnis. Voraussetzung einer wirksamen Zustellung gegen Empfangsbekenntnis ist neben der Übermittelung des Schriftstückes in Zustellungsabsicht die Entgegennahme durch den Empfänger in dem Willen, es als zugestellt gegen sich gelten zu lassen. Dieser für eine wirksame Zustellung gegen Empfangsbekenntnis erforderliche Wille muss durch Unterzeichnung beziehungsweise Signatur des Empfangsbekenntnisses beurkundet werden. Die Pflicht eines Rechtsanwalts nach § 14 BORA ein Empfangsbekenntnis unverzüglich abzugeben oder unverzüglich die Mitwirkung zu verweigern, ändert hieran nichts (OVG Saarlouis, Beschl. v. 10.03.2022 – 1 A 267/20 = juris Rn. 9 f.; OVG Schleswig, Beschl. v. 23.01.2020 – 4 LA 211/18 = juris Rn. 4; LSG Hamburg, Urt. v. 24.03.2021 – L 2 U 12/20 = BeckRS 2021, 11272 Rn. 23). Nach diesen Maßstäben fehlt es vorliegend vor dem 23.08.2023 an der erforderlichen Dokumentation eines Empfangswillens.Abs. 16
Jedoch ist auch bei elektronischer Übermittlung § 189 ZPO anwendbar (OLG Karlsruhe, Urt. v. 11.01.2023 – 6 U 233/22 = juris Rn. 75; OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.05.2019 – 13 ME 136/19 = BeckRS 2019, 10125 Rn. 3; LSG Chemnitz, Beschl. v. 20.10.2022 – L 4 AS 396/22 B ER = juris Rn. 50; VG Leipzig, Urt. v. 13.05.2019 – 7 K 2184/16.A = juris Rn. 13). Voraussetzung der Fiktion nach § 189 ZPO ist im Falle der Zustellung nach § 173 ZPO, dass (i) das Schriftstück so in den Machtbereich des Adressaten gelangt, dass er es behalten kann und Gelegenheit zur Kenntnisnahme von dessen Inhalt hat; (ii) Zustellungswille gegeben ist, das heißt eine formgerechte Zustellung vom Gericht wenigstens angestrebt worden ist; sowie (iii) ein zumindest konkludent dokumentierter Empfangswille (OLG Karlsruhe, Urt. v. 11.01.2023 – 6 U 233/22 = juris Rn. 75; OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.05.2019 – 13 ME 136/19 = BeckRS 2019, 10125 Rn. 3; LSG Chemnitz, Beschl. v. 20.10.2022 – L 4 AS 396/22 B ER = juris Rn. 50; Biallaß, in: NJW 2019, 3495, 3496). Das Schriftstück gilt dann an dem Tag als zugestellt, an dem alle vorgenannten Voraussetzungen erfüllt sind (OLG Karlsruhe, Urt. v. 11.01.2023 – 6 U 233/22 = juris Rn. 75; OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.05.2019 – 13 ME 136/19 = BeckRS 2019, 10125 Rn. 3; Biallaß, in: NJW 2019, 3495, 3496). Diese Voraussetzung sind vorliegend seit dem 14.07.2023 erfüllt.Abs. 17
Der Zugang in den Machtbereich des Adressaten – also unmittelbar des Anwalts selbst – tritt im Falle der elektronischen Zustellung, sofern keine technischen Probleme bestehen, zuverlässig innerhalb weniger Minuten ein (LSG Hamburg, Urt. v. 24.03.2021 – L 2 U 12/20 = BeckRS 2021, 11272 Rn. 24). Dies ist vorliegend zudem durch die Eingangsbestätigung des elektronischen Anwaltspostfachs vom 21.06.2023 dokumentiert. Technische Probleme haben entsprechend der Eingangsbestätigung nicht bestanden und sind trotz explizit eingeräumter Gelegenheit hierzu auch nicht geltend gemacht worden. Auch Zustellungswille des Gerichts bestand, da die formgerechte Zustellung nach § 173 ZPO angestrebt wurde. Dabei ist nach § 172 Abs. 1 S. 1 ZPO der Prozessbevollmächtigte in einem anhängigen Verfahren der richtige Adressat.Abs. 18
Es ist auch ein Empfangswille zumindest konkludent dokumentiert. Mit dem Schriftsatz vom 14.07.2023 hat der Klägervertreter zum Ausdruck gebracht, dass Versäumnisurteil entgegennehmen zu wollen; andernfalls die Bitte um erneute Übersendung sinnlos wäre. Unbeachtlich ist dabei nach dem Vorstehenden im Sinne des § 189 ZPO, dass er zugleich vortrug, das Versäumnisurteil liege ihm nicht vor, da es am 21.06.2023 in seinen Machtbereich gelangte.Abs. 19
Unerheblich für die Zustellungsfiktion am 14.07.2023 ist das am 23.08.2023 abgegebene Empfangsbekenntnis. Ein später abgegebenes Empfangsbekenntnis vermag die kraft Gesetzes eingetretene Heilungswirkung des § 189 ZPO nicht mehr rückgängig machen (BFH, Beschl. v. 26.04.2017 – X B 22/17 = BeckRS 2017, 112838 Rn. 4; OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.05.2019 – 13 ME 136/19 = BeckRS 2019, 10125 Rn. 5;).Abs. 20
Gleichermaßen ist die am 19.07.2023 veranlasste erneute Zustellung des Versäumnisurteils an den Klägervertreter ohne Relevanz; eine erneute Zustellung setzt keine neue Frist in Gang (BGH, Beschl. v. 17.12.1986 – VIII ZB 47/86 = AP ZPO § 516 Nr. 3; BFH, Beschl. v. 26.04.2017 – X B 22/17 = BeckRS 2017, 112838 Rn. 4; OLG Köln, Urt. v. 08.10.1997 – 27 U 36/97 = BeckRS 1997, 9274 Rn. 14)Abs. 21
II.Abs. 22
Es war auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Nach § 233 S. 1 Var. 1 ZPO ist dies der Fall, wenn eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert war, eine Notfrist einzuhalten. Nach § 85 Abs. 2 ZPO steht Verschulden des Prozessbevollmächtigten Verschulden der Partei gleich. Die die Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen sind glaubhaft zu machen, § 236 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 ZPO.Abs. 23
§ 233 ZPO ist anwendbar, da es sich bei der Frist nach § 339 Abs. 1 Hs. 1 ZPO um eine Notfrist handelt, § 339 Abs. 1 Hs. 2 ZPO. Ihre Voraussetzungen sind jedoch nicht erfüllt. Der Klägervertreter hat bereits keine Umstände vorgetragen, aus denen sich ergäbe, dass er ohne eigenes Verschulden verhindert gewesen wäre, die Frist einzuhalten; geschweige denn, dass dies glaubhaft gemacht worden wäre. Insbesondere stellt eine erneute Zustellung keinen Gesichtspunkt dar, der ein Verschulden an der Fristversäumnis ausschlösse (BGH, Beschl. v. 17.12.1986 – VIII ZB 47/86 = AP ZPO § 516 Nr. 3).Abs. 24
III.Abs. 25
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO analog.Abs. 26
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 708 Nr. 3 ZPO.Abs. 27
Die Festsetzung des Gerichtsgebührenstreitwertes folgt aus §§ 63 Abs. 2 S. 1; 48 Abs. 1 S. 1; 43 Abs. 1 GKG in Verbindung mit § 3 ZPO.Abs. 28

(online seit: 09.01.2024)
Zitiervorschlag: Gericht, Datum, Aktenzeichen, JurPC Web-Dok, Abs.
Zitiervorschlag: Gießen, LG, Zeitpunkt elektronischer Zustellung - JurPC-Web-Dok. 0002/2024