JurPC Web-Dok. 87/2023 - DOI 10.7328/jurpcb202338687

Hessischer VGH

Beschluss vom 28.04.2023

6 A 2124/22.Z.A

Beweiskraft eines elektronisch abgegebenen Empfangsbekenntnisses

JurPC Web-Dok. 87/2023, Abs. 1 - 13


Leitsätze:

1. Bestehen an der Echtheit eines elektronisch abgegebenen Empfangsbekenntnisses sowie der Integrität und Gültigkeit seiner qualifizierten Signatur keine Zweifel, so erbringt es den vollen Beweis für die Entgegennahme des darin bezeichneten Schriftstücks und für den Zeitpunkt der Kenntnisnahme. Dieser kann nur erschüttert werden, wenn der Gegenbeweis geführt wird, dass es ausgeschlossen ist, dass die Angaben in dem Empfangsbekenntnis richtig sind.

2. Organisiert ein Rechtsanwalt den Umgang mit elektronischen Empfangsbekenntnissen in seiner Kanzlei so, dass es möglich ist, dass diese ohne sein Wissen von seinem Personal abgegeben werden, dann handelt es sich um einen Fall von grobem Anwaltsverschulden. Der Anwalt kann sich seiner persönlichen Verantwortung, den Zeitpunkt seiner Kenntnisnahme von dem zuzustellenden Schriftstück mit seiner Signatur zu bestätigen, nicht durch Delegierung und Berufung auf Fehler seines Personals entledigen.

Gründe:

Der gemäß § 78 Abs. 4 des Asylgesetzes – AsylG – fristgerecht gestellte und begründete Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das im Tenor bezeichnete Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen – dem Prozessbevollmächtigten des Klägers zugestellt am 19. Dezember 2022 – bleibt in der Sache ohne Erfolg.Abs. 1
Der mit Schriftsatz vom 21. Dezember 2022 – eingegangen an demselben Tag – geltend gemachte Zulassungsgrund der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO) rechtfertigt die Zulassung der Berufung nicht. Ein Gehörsverstoß ist weder schlüssig geltend gemacht worden, noch liegt er vor.Abs. 2
Der verfassungsrechtlich verbürgte Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs garantiert den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens, dass sie sich zu dessen Gegenstand in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht äußern können. Zugleich verpflichtet Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz – GG – das Gericht, seiner Entscheidung nur solche Gesichtspunkte zugrunde zu legen, zu denen die Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung hatten, und ferner, ihre Äußerungen zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Rechtliches Gehör setzt aber nicht nur die Bereitschaft des Gerichts voraus, die Partei anzuhören und ihren Vortrag zu würdigen; die Partei, die den Anspruch auf rechtliches Gehör hat, muss auch ihrerseits imstande sein, von ihrem Recht Gebrauch zu machen, d. h. sie darf nicht gehindert sein, sich rechtliches Gehör bei Gericht zu verschaffen, etwa weil sie die Ladung zum Verhandlungstermin nicht erreicht hat (BVerfG, Beschluss vom 24. März 1976 – 2 BvR 804/75 –, Rn. 54, juris). Denn die mündliche Verhandlung stellt ein Mittel zur Verwirklichung des rechtlichen Gehörs im Prozess dar. Wenn Art. 103 Abs. 1 GG auch nicht ausnahmslos die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erfordert, so begründet der Anspruch auf Gehör doch für den Fall, dass – wie hier – eine mündliche Verhandlung stattfindet, das Recht der Partei auf Äußerung in dieser Verhandlung. Diesem Gebot ist in der Regel dadurch genügt, dass die mündliche Verhandlung anberaumt wird, die Beteiligten ordnungsgemäß geladen werden und die mündliche Verhandlung zu dem festgesetzten Zeitpunkt (oder nach einer den Umständen nach angemessenen Wartefrist auf das Erscheinen der Beteiligten) eröffnet sowie in ihr Gelegenheit zur Äußerung gegeben wird (Sächs. OVG, Beschluss vom 5. Juli 2019 – 3 A 608/19.A –, Rn. 14 - 15, juris).Abs. 3
Der Kläger und sein Prozessbevollmächtigter sind zur mündlichen Verhandlung am 2. Dezember 2022, in deren Anschluss das angefochtene Urteil erging, nicht erschienen. Die Kanzlei des Bevollmächtigten war für das Verwaltungsgericht an diesem Vormittag auch telefonisch nicht erreichbar, weshalb nach einer Wartefrist von über einer Stunde in Abwesenheit der Beteiligten verhandelt und entschieden wurde. Der Kläger war zur mündlichen Verhandlung am 2. Dezember 2022 nicht persönlich geladen worden. Die Ladung ging am 19. September 2022 per beA an seinen Prozessbevollmächtigten (Bl. 125 ff. der Gerichtsakte – GA), der gehalten gewesen wäre, die Ladung an den Kläger weiterzuleiten oder ihn in anderer Weise über den Termin zu informieren. Dieser behauptet jedoch nun in der Begründung des Zulassungsantrags, er habe keine Ladung zur Sitzung erhalten, und versichert dies an Eides statt.Abs. 4
Damit können der Bevollmächtigte und folglich auch der Kläger indes nicht gehört werden. Denn in den Akten befindet sich ein elektronisch abgegebenes Empfangsbekenntnis des Bevollmächtigten, das seine Kenntnisnahme von der Ladung am 20. September 2022 und mithin deren ordnungsgemäße und rechtzeitige Zustellung beweist (Bl. 131a GA). An der Echtheit des Empfangsbekenntnisses und der Gültigkeit und Integrität der Signatur bestehen keine Zweifel (vgl. die Prüfvermerke Bl. 191 f., 206 GA). Mit der schlichten Behauptung, weder er noch seine Mitarbeiterinnen hätten eine Ladung oder ein Empfangsbekenntnis für den Termin am 2. Dezember 2022 zu Gesicht bekommen, vermag der Bevollmächtigte die Beweiskraft dieser Urkunde nicht zu erschüttern. Daran ändert auch seine – leichtfertig abgegebene – eidesstattliche Versicherung nichts, die nicht mit dem Akteninhalt vereinbar ist. Als Privaturkunde (§ 416 ZPO) erbringt das Empfangsbekenntnis nicht nur den vollen Beweis für die Entgegennahme des darin bezeichneten Schriftstücks, sondern auch für den Zeitpunkt des Empfangs (vgl. BayObLG, Beschluss vom 9. November 2021, Rn. 77, juris, m. w. N.; Bartels in: Dutta/Jacoby/Schwab, FamFG, Kommentar, § 15 Bekanntgabe; formlose Mitteilung, Rn. 30). Der Gegenbeweis für die Unrichtigkeit der im Empfangsbekenntnis enthaltenen Angaben ist zwar zulässig, erfordert aber, dass die Richtigkeit der Angaben im Empfangsbekenntnis nicht nur erschüttert wird, sondern die Möglichkeit, die Angaben in dem Empfangsbekenntnis könnten richtig sein, ausgeschlossen ist (BGH, Beschluss vom 7. Oktober 2021 – IX ZB 41/20 –, Rn. 10, juris; BayObLG, Beschluss vom 11. Januar 2023 – Verg 2/21 –, Rn. 57, juris; Bartels in: Dutta/Jacoby/Schwab, FamFG, Kommentar, § 15 Bekanntgabe; formlose Mitteilung, Rn. 33). Der Klägerbevollmächtigte hat diesen Gegenbeweis nicht angetreten und nicht einmal eine mögliche andere Erklärung für die Existenz des ausgefüllten Empfangsbekenntnisses geben können, die nicht auf ihn bzw. seine Kanzlei als Urheber weist. Im elektronischen Rechtsverkehr wird die notwendige eigenhändige Unterschrift des Ausstellers unter ein Empfangsbekenntnis ersetzt durch die anwaltliche Signatur. Vorliegend wurde das streitige Empfangsbekenntnis vom Klägervertreter (oder seinem Büro) qualifiziert mit seiner Signatur versehen und am Vormittag des 20. September 2022 nach der – ausweislich seiner Datierung – am selben Tag erfolgten Kenntnisnahme von der Ladung (Bl. 131a GA) an das Gericht übermittelt (Bl. 191 ff. GA).Abs. 5
Soweit der Klägervertreter hilfsweise vorträgt, an einem etwaigen Fehler seiner beiden Büroangestellten im Zusammenhang mit der streitgegenständlichen Ladung treffe ihn jedenfalls kein Verschulden, verkennt er die Rechtslage. Wenn der Bevollmächtigte ausführt, „nach Kenntnis des Unterzeichners erfolgt keine Automatik der Eintragung des Datums bei der Zurücksendung an das Gericht; vielmehr bedarf dies einer Handlung durch die Sekretärinnen, so, wie dies dem Unterzeichner von beiden erklärt worden ist“, ist zwar die Information, dass das Datum der Kenntnisnahme von dem zuzustellenden Schriftstück in das Empfangsbekenntnis händisch eingefügt werden muss, zutreffend und war der anderslautende richterliche Hinweis vom 9. Februar 2023 deswegen insoweit sachlich falsch, doch lässt diese Einlassung darauf schließen, dass der Klägerbevollmächtigte die Abgabe von Empfangsbekenntnissen seinem Sekretariat überlässt. Sollte dies in seiner Kanzlei tatsächlich so gehandhabt werden, würde es sich um ein grobes anwaltliches Organisationsverschulden handeln. Denn die Sekretärinnen sind nicht befugt, den Empfang einer Ladung an seiner Stelle zu bestätigen. Insofern unterscheidet sich ein elektronisches Empfangsbekenntnis nicht von einem in Papierform, bei dem der Adressat (oder dessen Vertreter) seine Kenntnisnahme persönlich durch Unterschrift unter Angabe des Datums zu quittieren hat (vgl. § 56 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 175 Abs. 3 ZPO; Bartels in: Dutta/Jacoby/Schwab, a. a. O., Rn. 30). Denn rechtlich maßgeblich ist der Zeitpunkt, an dem der Anwalt - und nicht sein Büropersonal - von dem zugestellten Schriftstück Kenntnis nimmt, weshalb er diesen zu bestätigen hat. Würden die Mitarbeiterinnen des Sekretariats die anwaltliche Kenntnisnahme ohne Rücksprache mit dem sachbearbeitenden Anwalt nach Eingang des zuzustellenden Dokuments durch das Ausfüllen und Zurücksenden des Empfangsbekenntnisses bestätigen, würden sie eine inhaltlich falsche Urkunde ausstellen. Ein Anwalt muss folglich auch im elektronischen Rechtsverkehr sicherstellen, dass seine in dem abgegebenen Empfangsbekenntnis beurkundete Kenntnisnahme von dem zuzustellenden Schriftstück auch tatsächlich und an dem angegebenen Datum erfolgt ist. Er kann sich nicht – wie hier – darauf berufen, er sei erst im Zusammenhang mit der Versäumung eines Termins von seinen Mitarbeiterinnen über die Modalitäten der Abgabe eines elektronischen Empfangsbekenntnisses informiert worden. Nach § 55a Abs. 3 VwGO muss ein elektronisches Dokument entweder mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden. Für ein elektronisches Empfangsbekenntnis ist keine Ausnahme vorgesehen. Der Anwalt kann sich seiner Verantwortung nicht durch Delegierung entledigen.Abs. 6
Da hier das Empfangsbekenntnis qualifiziert elektronisch signiert wurde, lässt dies zudem nur zwei mögliche Schlussfolgerungen zu, die beide ein Verschulden des Klägerbevollmächtigten implizieren. Entweder hat er selbst seine Signaturkarte eingesetzt, um den strukturierten Datensatz, der das Empfangsbekenntnis darstellt, nach Eintragung des Datums vor dem Absenden zu signieren, dann hatte er entgegen seiner Erinnerung Kenntnis von der Ladung. Oder er hatte sein Personal mit dem Signieren beauftragt, was ein eklatanter Pflichtenverstoß wäre. Denn dazu hätte dieses seine Signaturkarte, die er nicht aus der Hand geben darf, und seine persönliche PIN benötigt, die er niemanden preisgeben darf. Organisiert ein Rechtsanwalt den Umgang mit elektronischen Empfangsbekenntnissen in seiner Kanzlei so, dass es möglich ist, dass diese ohne sein Wissen von seinem Personal abgegeben werden, handelt es sich infolgedessen um einen Fall von Anwaltsverschulden, den sich der Kläger nach § 173 VwGO i. V. m. § 85 Abs. 2 ZPO wie eigenes Verschulden zurechnen lassen muss.Abs. 7
Dass der Bevollmächtigte des Klägers, wie er vorbringt, keine Möglichkeit sieht, den Sachverhalt zu überprüfen, weil seine beA-Ein- und Ausgänge vom 19./20. September 2022 von dem Programm längst gelöscht wurden, vermag ihn ebenso wenig zu entlasten. Wie oben dargelegt, ist es seine Sache, den Gegenbeweis zu führen, dass er vom Verwaltungsgericht keine Ladung erhalten hat. Angesichts der Beweislastregeln hätte es ihm angeraten erscheinen müssen, elektronische Ein- und Ausgänge standardmäßig von vornherein anderweitig dauerhaft abzuspeichern, da das beA nicht als Archivsystem konzipiert ist. Dazu wäre hier selbst dann noch (wenige Tage) Zeit gewesen, als er am 13. Januar 2023 von der Berichterstatterin sein am 20. September übermitteltes Empfangsbekenntnis zur Kenntnis erhielt (Bl. 135R, 136 GA), da das beA-Programm Ein- und Ausgänge zwar nach 90 Tagen automatisch in den Papierkorb verschiebt, sie aber erst nach 120 Tagen endgültig löscht, so dass sie nach Ablauf der Speicherfrist noch 30 Tage lang wiederhergestellt werden können (vgl. https://portal.beasupport.de/fragen-antworten/kategorie/weitere-funktionen-in-der-bea-anwendung/loeschfristen). Unbenommen wäre es dem Bevollmächtigten auch gewesen, zum Zeitpunkt der Zustellung der Sitzungsniederschrift vom 2. Dezember 2022 am 19. Dezember 2022 sein beA-Postfach auf den Eingang einer Ladung und die Abgabe eines Empfangsbekenntnisses in den vergangenen drei bis vier Monaten hin zu überprüfen, wodurch er hätte fündig werden müssen.Abs. 8
Soweit der Klägerbevollmächtigte im Übrigen – ohne einen diesbezüglichen Zulassungsgrund herauszuarbeiten – behauptet, das Protokoll sei nicht verwertbar, weil es nicht von der die Verhandlung leitenden und das Verfahren entscheidenden Richterin unterschrieben worden sei, sondern von einem „C“, trifft diese Behauptung nicht zu; die Niederschrift trägt die Originalunterschrift von Richterin X... (Bl. 144 GA).Abs. 9
Sollten sich die Abläufe in der Kanzlei des Klägerbevollmächtigten anders darstellen, als nach seinen Schriftsätzen zu vermuten steht, würde dies dem Zulassungsantrag ebenfalls nicht zum Erfolg verhelfen. Denn im Zulassungsverfahren ist es Sache des Antragstellers für ihn günstige Umstände, die auf einen Zulassungsgrund führen, nachvollziehbar darzulegen. Der Klägerbevollmächtigte hat jedoch nur beschrieben, dass er sein Personal angewiesen hat, per beA eingehende Ladungen sofort auszudrucken und ihm mit der Akte vorzulegen, nachdem der Termin im Fristenkalender notiert wurde (Bl. 205 GA). Über den hier entscheidenden Vorgang, wie und von wem nämlich das zugehörige Empfangsbekenntnis datiert und abgegeben wird, lässt er den Senat letztlich im Unklaren. Dies genügt in keiner Weise den Darlegungsanforderungen für den behaupteten Gehörsverstoß.Abs. 10
Soweit der Kläger weiter vorbringt, das Verwaltungsgericht habe ohne seine persönliche Anhörung keinen nachvollziehbaren Einblick in seinen spirituellen Prozess gewinnen können und ihm deshalb eine Gefährdung als überzeugter christlicher Konvertit nicht absprechen dürfen, beruft er sich in der Sache nicht auf einen Gehörsverstoß, sondern macht ernstliche Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit des Urteils geltend; der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zählt aber nicht zu dem im Asylprozess gemäß § 78 Abs. 3 AsylG vom Gesetzgeber vorgegebenen Katalog von Zulassungsgründen. Aber selbst wenn man dies anders sehen wollte, hätte sich der Kläger durch seine von seinem Bevollmächtigten verschuldete Abwesenheit im Termin seiner prozessualen Möglichkeiten zur Durchsetzung seines rechtlichen Gehörs begeben, auf dessen Versagung er sich im Nachhinein nicht mehr berufen kann (Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10. Oktober 2008 – 12 A 1818/07 –, Rn. 11, juris; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 22. Juni 2017 – 2 WD 6/17 –, Rn. 14, juris).Abs. 11
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.Abs. 12
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 78 Abs. 5 Satz 2 und § 80 AsylG).Abs. 13

(online seit: 28.06.2023)
Zitiervorschlag: Gericht, Datum, Aktenzeichen, JurPC Web-Dok, Abs.
Zitiervorschlag: Hessischer VGH, Beweiskraft eines elektronisch abgegebenen Empfangsbekenntnisses - JurPC-Web-Dok. 0087/2023