JurPC Web-Dok. 165/2009 - DOI 10.7328/jurpcb/2009248150

Matthias Kegel *

Die elektronische Akte im Strafverfahren?! - Chancen und Grenzen -

JurPC Web-Dok. 165/2009, Abs. 1 - 97


 
I n h a l t s ü b e r s i c h t
0. Prolog
1. Einleitung
2. Die elektronische (Hilfs-)Akte im Strafverfahren
2.1. Der Beginn in Brandenburg
2.2. Die Integration von DMS-Funktonen in das bestehende Fachverfahren SAS
2.3. Der Einsatz der elektronischen Hilfsakte in Brandenburg
2.4. Ablösung der Papierakte durch die elektronische Akte?
2.4.1. Die elektronische Strafakte der Polizei
2.4.2. Die Ergonomie der elektronischen Akte
2.4.3. Eine vollständige elektronische Aktenführung im Strafverfahren ist nicht a priori effektiv
2.5. Die Öffnung der Strafprozessordnung für Teilbereiche der elektronischen Aktenführung

0.    Prolog

Am 5. Juni 2009 haben der Europarat und die Europäische Kommission das Fachverfahren SAS (Staatsanwaltschaftliches Automatisiertes Schreibwerk) [1], welches bei den Staatsanwaltschaften des Landes Brandenburg im Einsatz ist, mit der "Kristallenen Waage der Strafjustiz" ausgezeichnet. Die "Kristallene Waage der Strafjustiz" soll innovative und erfolgreiche Praktiken bei Strafverfahren und in der gerichtlichen Organisation ausfindig machen und fördern. Damit soll auch eine Verbesserung des öffentlichen Strafjustizsystems in den Mitgliedstaaten des Europarates bewirkt werden.[2]JurPC Web-Dok.
165/2009,   Abs. 1
Basisprodukt von SAS ist FAME der systema Deutschland GmbH. Die Verfügungserstellung in FAME ist nach Vorgaben der Verfahrenspflegestelle ACUSTA der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf auf die Bedürfnisse der Justiz umgestellt worden. Nach dem Erwerb hat Brandenburg das Grundprodukt um die Teile digitales Diktat im Formular sowie um DMS-Komponenten erweitern lassen. Abs. 2
SAS beinhaltet im Wesentlichen drei Teile. Abs. 3
Im sogenannten Formularschrankwerden in SAS für nahezu alle staatsanwaltschaftlichen sowie rechtspflegerischen Entscheidungen und Arbeitsschritte Formulare bereitgestellt. Dabei werden die Personen- und Verfahrensdaten aus der staatsanwaltschaftlichen Datenbank (MESTA[3] unmittelbar in das Formular übertragen. Bei der Formularerstellung am PC wird auf der einen Bildschirmseite die Eingabe in das Formular abgebildet und auf der anderen Seite des Bildschirms wird bereits das fertige Dokument dargestellt. Sekundärschreiben wie z. B. Mitteilungen an andere Behörden oder Verfahrensbeteiligte werden durch das Programm automatisch erzeugt. In der Formularerstellung können auch einfache Berechnungen durchgeführt werden. Abs. 4
Mit dem integrierten digitalen Diktatworkflow, der Verbindung von formularmäßiger Bearbeitung in SAS und digitalem Diktat, wird eine methodische Lücke geschlossen. Abs. 5
Zuvor diktierte der Staatsanwalt bei längeren Textpassagen und wenig ausgeprägten Fertigkeiten beim Schreiben mit der Tastatur die gesamte Verfügung. Die Effizienzeffekte von SAS gingen verloren. Nunmehr nutzt er das SAS-Formular und schreibt in ein Formularfeld, in welchem eine längere Textpassage eingefügt werden muss, das Wort "Diktat". Abs. 6

Abbildung 1
Abs. 7
Das digitale Diktat wird nach dem Einlegen des Diktiergerätes in die Ladeschale auf den Rechner überspielt. Es öffnet sich automatisch eine Bearbeitungsmaske. Hier verknüpft der Staatsanwalt das Diktat mit dem Formular und bestimmt den Adressaten des Diktats. Anschließend schickt er das verknüpfte Diktat an die Schreibkraft. Die Akte bleibt beim Dezernenten liegen. Abs. 8

Abbildung 2
Abs. 9
Die Schreibkraft öffnet in SAS aus dem Posteingang das Formular und schreibt nur noch den längeren Text. Alle Vorteile des Schreibwerks, die Formulare mit Standardtext, die Übernahme der Personen- und Verfahrensdaten sowie die automatische Erstellung aller Begleitdokumente werden genutzt. Anschließend schickt sie das fertige Formular - in der Regel am selben Tag bzw. am Folgetag - an den Dezernenten elektronisch zurück. Durch den Wegfall des Aktentransports werden ca. 4 Arbeitstage eingespart. Abs. 10
Die elektronische (Hilfs-)Akte möchte ich nun näher beschreiben und über unsere praktischen Erfahrungen bei den Staatsanwaltschaften des Landes Brandenburg berichten. Abs. 11

1.    Einleitung

Als der Gesetzgeber im Justizkommunikationsgesetz vom 22. März 2005 die Rechtsgrundlagen für die elektronische Aktenführung in der Zivilprozessordnung, der Verwaltungsgerichtsordnung, dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten und in anderen Verfahrensordnungen schuf, hat er - noch - ausdrücklich das Strafverfahren ausgeklammert (BT-Drucks. 15/4067, S. 26), ohne sich jedoch dem Thema generell zu verschließen (Plenarprotokoll 15/161, S. 15090 A, 15091 C, 15092 B). Abs. 12
In den letzten Jahren verstärken sich praktische und politische Aktivitäten, die elektronische Strafakte in Teilbereichen oder als Ganzes im Strafverfahren zu nutzen bzw. einzuführen: Abs. 13
Diverse Projekte einer parallelen elektronischen Strafakte in den Ländern[4], Abs. 14
Ein Schwerpunktthema auf dem EDV-Gerichtstag 2009[5]Abs. 15
Das Gutachten der Großen Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes zum Thema "Die elektronische Strafakte im Strafverfahren" (2007)[6]. Abs. 16
Die Unterarbeitsgruppe "Elektronische Akte" der Bund-Länder-Kommission für Datenverarbeitung und Rationalisierung[7]. Abs. 17
Die Konzeption einer elektronischen Aktenführung bei der Staatsanwaltschaft im Projekt MODESTA[8]. Abs. 18
Der Bericht der Arbeitsgruppe der Senatsverwaltung für Justiz in Berlin zum Thema "Schaffung der Rechtsgrundlagen für die elektronische Aktenführung in der Strafprozessordnung" (2009). Abs. 19
Die Bildung der Arbeitsgruppe beim Bundesministerium der Justiz "Schaffung der Rechtsgrundlage für die elektronische Aktenführung in der Strafprozessordnung". Abs. 20
Interessant, immer mehr Rechtsanwälte bieten als besondere Dienstleistung im Internet nach erfolgter Akteneinsicht im Strafverfahren eine Digitalisierung nebst einer Übermittlung der eAkte an den Verfahrensbeteiligten an. Abs. 21

2.    Die elektronische (Hilfs-)Akte im Strafverfahren

2.1.    Der Beginn in Brandenburg

"In der Hauptverhandlung haben wir keine Waffengleichheit mehr!". Mit diesem Hilferuf wandte sich ein Behördenleiter&nbps;2005 an die IT-Abteilung der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg. Was war passiert? In einem Umfangsverfahren mit ca.&nbps;11.000 Seiten Sachakten zuzüglich zahlreiche Stehordner, TÜ-Niederschriften und umfangreichen Beiakten hatten die 16 Verteidiger die Vorgänge weitgehend digitalisiert und erschienen mit Notebooks in der Hauptverhandlung. In Sekundenschnelle konnten sie auf das Geschehen in der Hauptverhandlung reagieren und Fundstellen in den Akten auffinden. Abs. 22
Innerhalb kurzer Zeit konnten wir Abhilfe schaffen und scannten die Akten mit dem Programm ELO (Elektronischer Leitordner) ein. Danach war einer der bis zu drei Sitzungsvertreter ständig mit einem Notebook in der Hauptverhandlung anwesend, um bei Bedarf nach Aktenfundstellen zu suchen. Die Waffengleichheit war wieder hergestellt. Parallel konnte die Vorbereitung auf die über 100 Sitzungen effektiviert werden. Die sonst so aufwändige Recherche in den diversen Aktenbände zu den anstehenden Beweisthemen nebst dreifacher Fertigung von Kopien entfiel. Stattdessen gab jeder Sitzungsvertreter im Programm die Suchbegriffe ein und erhielt sogleich die Fundstellen, die er je nach Bedarf am Bildschirm nachlesen oder zum Lesen ausdrucken konnte. Als effizient für die Vorbereitung des Plädoyers erwiesen sich die digitalen Sitzungsmitschriften. Abs. 23
Im Anschluss wurde die elektronische Hilfsakte in mehreren Ermittlungsverfahren erfolgreich erprobt. Abs. 24

2.2.    Die Integration von DMS-Funktonen in das bestehende Fachverfahren SAS

Nach diesen positiven Erfahrungen hatten wir das Schreibwerksprogramm SAS um Funktionen für eine e(Hilfs-)Akte erweitern lassen. Erfahrungen aus den Pilotprojekten flossen in die Programmierung ein. Für eine Ergänzung des Programms statt der Nutzung des Landes-DMS sprachen folgende Argumente: Abs. 25
a)Der Anwender sollte möglichst nur mit zwei Hauptverfahren (hier neben MESTA) arbeiten. Beide Fachverfahren werden ab 2011 nach Abschluss des Redesignsvon MESTA für den Anwender optisch zu einem Verfahren verschmelzen. Abs. 26
b)Der Schulungsaufwand beschränkte sich allein auf die neuen Funktionen. Abs. 27
c)Die mit SAS erstellten Formulare nebst den Reinschriften sowie alle eingehenden und ausgehenden elektronischen Dokumente wurden bereits in SAS verfahrensbezogen gespeichert und konnten für die elektronische (Hilfs-)Akte genutzt werden. Abs. 28
d)Die Elemente des internen Wokflows von SAS können für die e(Hilfs-)Akte genutzt werden und ein weiterer Posteingangsbereich für den Anwender entfällt. Abs. 29
e)Ein Datenaustausch mit anderen Behörden und Fachverfahren ist über standardisierte Schnittstellen unproblematisch möglich. Abs. 30
Die wichtigsten Funktionen möchte ich kurz vorstellen: Abs. 31
1.   Prinzipieller AufbauAbs. 32

Abbildung 3
Abs. 33
2.   SeitennummerierungAbs. 34

Abbildung 4
Abs. 35
Beim Einscannen von Dokumenten werden die Seitenzahlen automatisch vergeben, können aber auch manuell gesetzt werden. Die Seitenzahlen können auch fest mit dem Dokument verknüpft werden. Abs. 36
3.   Texterkennung.Abs. 37
Nach der automatischen OCR-Texterkennung kann sich der Anwender bei Bedarf anzeigen lassen, welche Wörter erkannt worden sind (gelb markiert). Eine fehlerhafte Erkennung kann der Anwender problemlos korrigieren. Er kann auch selber Suchbegriffe an Dokumentenstellen setzen, die von der Texterkennung nicht erkannt worden sind (wie z. B. handschriftlicher Text). Abs. 38

Abbildung 5
Abs. 39

Abbildung 6
Abs. 40

Abbildung 7
Abs. 41
4.   NotizenAbs. 42

Abbildung 8
Abs. 43
Textstellen können mit Notizen versehen werden. Alle Begriffe in der Notiz sind auch gleichzeitig Suchbegriffe. Abs. 44
5.   KlemmbrettAbs. 45

Abbildung 9
Abs. 46
In dem Ordner "Klemmbrett" kann man sich den Akteninhalt strukturiert zusammenstellen. Abs. 47
6.   Farbliche Unterlegung von SuchbegriffenAbs. 48

Abbildung 10
Abs. 49
Die Position der Suchbegriffe wird in SAS gespeichert und rot unterlegt angezeigt. Abs. 50
7.   ExportAbs. 51
Für auswärtige Termine oder auch für externe Partner (Gericht, Verteidiger) steht eine Exportfunktion mit einem Viewer zur Verfügung, der alle wesentlichen Eigenschaften des Fachverfahrens besitzt. Alle Änderungen werden im Anschluss automatisch synchronisiert. Abs. 52
8.   Elektronische BeweismittelAbs. 53
Elektronische Beweismittel wie z. B. Videoaufzeichnungen können verfahrensbezogen im Ordner "Beweismittel" gespeichert werden. Abs. 54

2.3.    Der Einsatz der elektronischen Hilfsakte in Brandenburg

Im Focus beim Einsatz der elektronischen Strafakte stehen in Brandenburg nicht die sog. Massenverfahren (Verfahren der Klein- und mittlere Kriminalität). Hier sehen wir kurzfristig keinen Mehrwert in der Praxis (siehe auch 2.4 Ablösung der Papierakte durch die elektronische Akte). Vielmehr wollen wir die unbestreitbaren Vorteile der elektronischen Akte - Suche, Recherche, Aktenaufbereitung sowie elektronische Akteneinsicht — in ausgewählten Umfangs- und Großverfahren sowie Verfahren mit komplexen Sachverhalten nutzen. Die hierzu notwendigen Vorarbeiten, das Verfahren muss eingescannt werden, die Dateien müssen zu Dokumenten zusammengefasst und bezeichnet werden, lohnen sich. Die praktischen Erfahrungen zeigen eine nicht unbeträchtliche Effizienzsteigerung im Strafverfahren. Abs. 55
Die effiziente Orientierung in der Akte erspart dem Staatsanwalt Arbeitszeit, die Ersparnis kann im Einzellfall nicht nur Stunden oder Tage, sondern auch Wochen betragen. In dem oben angesprochenen Ausgangsfall hätten nach Einschätzung des Hauptverfassers der Anklage die Such- und Recherchemöglicheiten in der elektronischen Akte ca. zwei Wochen Arbeit bei der Erstellung der Anklageschrift gespart. Abs. 56
Die tagesaktuell gehaltene parallele Aktenführung — Papier bei der Polizei und elektronische Akte bei der Staatsanwaltschaft - führte zum Wegfall unproduktiver Zeiten für Aktentransporte, Vervollständigung von Doppelakten oder eines Informationsaustauschs der Beteiligten über "neuen" Akteninhalt. Der einheitliche Sachkenntnisstand aller Beteiligten (Polizeibeamte, Staatsanwälte, Wirtschaftsreferent, Wirtschaftsprüfdienst pp.) ermöglichte es, weitere Ermittlungen oder veränderte Prozess- oder Beweissituationen "aus dem Stand" zu erörtern. Die Polizei übersandte elektronisch die neuesten eingescannten Ermittlungshandlungen. So stand der Staatsanwaltschaft nach dem Ausdruck für Anträge beim Ermittlungsrichter sofort eine Duplikatsakte zur Verfügung. Abs. 57
Die Such- und Recherchefunktionen kamen bei Vernehmungen insbesondere dann zum Tragen, wenn auf veränderte Vernehmungssituationen entsprechende Aktenbestandteile oder Beweismitteldokumente gesucht und vorgehalten werden konnten. Abs. 58
Den Verteidigern wurde Akteneinsicht mittels einer DVD gewährt, was nicht nur zeitersparend, sondern auch ressourcenschonend ist. Der Gesetzgeber hat diese Form der elektronischen Akteneinsicht beim Justizkommunikationsgesetz wohl nicht gesehen. Der neue eingeführte Gebührentatbestand der elektronischen Übermittlung einer elektronisch geführten Akte auf Antrag — Gebührennummer 9003 Nr. 2 in Höhe von 5,00 EUR — trifft sichtlich nicht zu. So haben die Staatsanwaltschaften die Aktenversendungspauschale von 12,00 EUR (Gebührennummer 9003 Nr. 1) in Rechnung gestellt. Abs. 59
Ein nicht unerheblicher Nebeneffekt: Die Anwender werden mit positiven Erfahrungen an das neue Medium herangeführt. Sie lernen ohne Druck "von oben" die Vorteile der neuen Technik kennen und schätzen. Wichtig ist auch das Feedback. Nur so kann die Technik zugeschnitten auf die Bedürfnisse der Praxis angepasst und weiterentwickelt werden. Abs. 60
Die Erfahrungen zeigen aber auch, mit jedem neuen Schritt beim Einsatz der elektronischen Hilfsakte entstehen neue rechtliche, technische und andere Probleme. Es lässt sich daher prognostizieren, dass bei einer grundlegenden Ablösung der Papierakte im Strafverfahren durch eine elektronische Akte sich im Praxisbetrieb neue Fragen und Probleme zeigen würden, die im Vorfeld in der Diskussion und Abwägung nicht oder nur sehr schwer zu erkennen sind. Abs. 61
Weitere potentielle Möglichkeiten der elektronischen (Hilfs-)Akte im Strafverfahren wollen wir in neuen Projekten testen und wertvolle Erfahrungen gewinnen. Abs. 62
Aktuell läuft das Projekt "elektronische Akteneinsicht[9] an. Das ist an sich nichts Neues. Ähnliche Projekte gibt es bereits beispielsweise beim FG Hamburg oder bei den Verwaltungsgerichten in Rheinland-Pfalz mit unterschiedlicher Resonanz. Ein Hauptgrund könnten u. a. die Zugangshürden für Rechtsanwälte sein, die Elemente des elektronischen Rechtsverkehrs nutzen müssen. Daher soll im hiesigen Projekt die konventionelle Legitimierung genutzt werden; nämlich der Antrag auf Akteneinsicht in Papierform oder per Fax unter Übermittlung der Vollmacht. Technisch benötigt der Rechtsanwalt für die elektronische Akteneinsicht nur einen Internetanschluss und eine E-Mail-Adresse. Verfügt der Dezernent Akteneinsicht, wird die Akte eingescannt. Bereits heute müssen in vielen Fällen die Akten für eine Akteneinsicht kopiert werden. Die in Kürze zu ersetzenden geleasten Großkopierer werden auch gleichzeitig leistungsfähige Scanner sein. Die Dateien werden danach auf einem Portalserver beim ZIT-BB (Zentraler IT-Dienstleister des Landes Brandenburg)[10] gestellt. Zusätzlich wird eine Kopplung mit der Bezahlplattform für die automatische Kontrolle des Eingangs der Aktenversendungspauschale erfolgen. Eine automatisch generierte E-Mail wird den Rechtsanwalt über die Bereitstellung der Dateien informieren sowie darüber, dass er nach Zahlung der Aktenversendungspauschale die Dateien downloaden kann. Nach Zahlung der Gebühr werden die Dateien zum Download freigeschaltet und können über eine verschlüsselte Internetverbindung mit einem zuvor übermittelten Passwort herunter geladen werden. Bei bestimmten Bezahlvarianten wird ein sofortiger Download ermöglicht. Die Dateien werden verschlüsselt auf dem Portalserver liegen und sind so für den Administrator des ZIT-BB nicht lesbar. Abs. 63
Studenten der FH Brandenburg im Bachelorstudiengang Wirtschaftsinformatik führten eine Geschäftsprozessanalyse und Simulation der IST- und SOLL-Prozesse durch. Danach wird der erhöhte Aufwand durch das Einscannen der Akten durch den Wegfall von Arbeitsschritten ausgeglichen. Durch die Reduzierung von Transportzeiten werden die Rechtsanwälte erheblich schneller Akteneinsicht nehmen können. Abs. 64
Das Bild, der Sitzungsvertreter mit einem Notebook in der Hauptverhandlung, ist bei uns nicht mehr fernliegend. Sollte sich der Einscannprozess optimal gestalten lassen, dürfte es bald in den Hauptverhandlungen vor der Strafkammer oder bei anderen geeigneten Verfahren die Regel sein. Abs. 65
Am LG Potsdam will demnächst eine Große Strafkammer die elektronische (Hilfs-) Akte der Staatsanwaltschaft nutzen und testen. Hierzu soll das Fachverfahren SAS installiert werden. Abs. 66
Mit diesen als auch möglicher weiterer Projekte wird die staatsanwaltschaftliche Praxis in Brandenburg nicht nur wertvolle Erfahrungen mit der elektronischen Strafakte sammeln können sondern auch nicht unerhebliche Effizienzvorteile im Strafverfahren erzielen. Die relativ unkomplizierte Nutzung der elektronischen Strafakte mit geringem technischen Aufwand heute und demnächst wird ermöglicht durch ein gutes Sicherheitsnetz; die Papierakte. Sicherlich werden mit Hilfe der wertvollen Erfahrungen in der Praxis, dem Feedback der Kollegen und der Weiterentwicklung der Technik der bisher schmale Pfad der elektronischen Strafakte immer breiter angelegt werden können und auch sicherer werden. Und irgendwann wird man das Sicherheitsnetz nicht mehr benötigen. Abs. 67

2.4.    Ablösung der Papierakte durch die elektronische Akte?

Nach unseren praktischen Erfahrungen ist eine vollständige Ablösung der Papierakte durch eine elektronische Akte gegenwärtig - noch - nicht realisierbar. Abs. 68
Zunächst stellen sich zwei grundlegende aber nicht unüberwindliche Hindernisse. Abs. 69

2.4.1.    Die elektronische Strafakte der Polizei

Die Polizei in den Ländern erstellen im Strafverfahren bereits sehr häufig die Dokumente im Strafverfahren elektronisch[11]. Überraschenderweise bedeutet das aber noch nicht, dass diese elektronischen Dokumente für die staatsanwaltschaftliche elektronische Ermittlungsakte auch sogleich nutzbar wären. Denn — soweit ersichtlich — werden zusammen mit diesen Dokumenten undifferenziert elektronische Unterlagen, die die spezifischen Tätigkeiten der Kripo nachweisen[12], gespeichert. Erst beim Ausdruck für die Ermittlungsakte für die Staatsanwaltschaft erfolgt eine Trennung. Abs. 70
Die fehlende elektronische Paginierung der elektronischen Dokumente bei der Polizei stellt ein weiteres Problem dar. Zwar ist diese in einer eAkte zur Sicherung ihrer Vollständigkeit nicht zwingend, wenn auch als mögliche Maßnahme der Akzeptanzförderung sinnvoll[13], mindestens jedoch bei einem parallelen Betrieb noch erforderlich. Bei einem Parallelbetrieb würde nach dem schnellen Auffinden der Fundstelle in der elektronischen Akte ein unmittelbarer Bezug zur Papierakte fehlen. Abs. 71
Klärungsbedürftig ist, ob bei der Polizei eingehende Papierdokumente dort für die eAkte grundsätzlich eingescannt werden. Ungeklärt ist m. E. die Frage, ob die elektronischen Vernehmungsprotokolle zwingend mit einer qualifizierten Signatur von den Beteiligten versehen werden müssen oder ob ein zusätzlicher Ausdruck mit den handschriftlichen Unterschriften ausreichend ist. Abs. 72

2.4.2.    Die Ergonomie der elektronischen Akte

Ein großes Hindernis für einen Siegeszug der elektronischen Strafakte ist die fehlende anwenderfreundliche Ergonomie, da man sie zurzeit nur am Bildschirm lesen kann. Diese Erkenntnis scheint sich auch bei den Justizpolitikern zu verfestigen[14]. Es handelt sich nämlich um ein Problem von durchaus kulturgeschichtlicher Dimension: Abs. 73
Seit Jahrhunderten ist der Mensch den Umgang mit bedrucktem Papier gewohnt. Jeder hat seine Art des für ihn effizientesten Umgangs hiermit entwickelt; es werden Lesezeichen und Aufkleber verwendet und es wird mit Anstreichungen, Unterstreichungen, farblichen Markierungen usw. gearbeitet. Bestimmte Aktenteile - etwa die auf rotem Papier gedruckten Haftbefehle - erkennt man auf den ersten Blick an ihrer Farbe oder ihrer anderweitig individualisierbaren Beschaffenheit. Eine Papierakte kann man zudem in den ergonomisch individuell angenehmsten oder aus orthopädischer Sicht empfohlenen Positionen lesen. Man kann dies am Schreibtisch tun, aber auch dem Stehpult, in der Bahn oder - wie es wohl im richterlichen Bereich nicht unüblich ist - am häuslichen Arbeitsplatz. Das Lesen der Strafakte ist gleichzeitig ein schöpferischer Prozess, der sich in der Körpersprache widerspiegelt; man umkreist ein Problem, bewegt sich hin und her. Das starre Sitzen vor dem Bildschirm behindert hingegen das schöpferische Lesen. Abs. 74
Die elektronische Akte ist in diesem sehr wesentlichen Bereich der Papierakte derzeit ‑ noch — klar unterlegen. Das findet seinen Niederschlag in der fehlenden Akzeptanz durch die Anwender. Abs. 75
Zukunftsversion: Wenn das elektronische Papier - in naher Zukunft - ähnliche Eigenschaften wie Papier aufweisen sollte, so dass man den Vorgang in einer elektronischen Akte mit ca. 250 Seiten elektronischem Papier lesen könnte, dürfte die elektronische Akte auf viel Akzeptanz stoßen. In einer solchen Akte könnte man wie in einer konventionellen Papierakte lesen, blättern, den "Finger dazwischen halten", hochheben, unterstreichen und sonstige Anmerkungen anbringen, die danach gespeichert werden könnten. Man hätte die Vorteile der Papierakte und die Vorteile der elektronischen Akte am Bildschirm. Abs. 76

2.4.3.    Eine vollständige elektronische Aktenführung im Strafverfahren ist nicht a priori effektiv

Weitere Probleme einer vollständigen elektronischen Aktenführung im Strafverfahren sind: Abs. 77
Die Gesamtheit der bisher bekannten rechtlichen und sonstigen Probleme einer vollständigen elektronischen Aktenführung im Strafverfahren ist gegenwärtig unüberschaubar. So werden in dem Bericht der Arbeitsgruppe der Senatsverwaltung für Justiz in Berlin eine Vielzahl hiervon angesprochen. Bei den erörterten Lösungsmöglichkeiten dürften die Probleme im Detail stecken. Abs. 78
Die Sicherheitsanforderungen an die IT-Systeme für eine vollständige elektronische Aktenführung sind nicht zu unterschätzen, auch der finanzielle Rahmen hierfür ist derzeit kaum kalkulierbar. Abs. 79
Die notwendigen bundesweiten Vorarbeiten sowie Abstimmungen zu technischen und organisatorischen Standards stehen in vielen Fällen noch aus. Abs. 80
Aufgrund der Vielzahl von rechtlichen und anderen Problemen ist die Wirtschaftlichkeit der Führung einer vollständigen elektronischen Akte bei Ablösung aller Papierakten überhaupt fraglich. Abs. 81
So werden bestimmte Dokumente wie z. B. Urkunden als Beweismittel wohl weiter in Sonderbänden verwahrt werden müssen. Der Bericht der Arbeitsgruppe der Senatsverwaltung für Justiz in Berlin geht mit überzeugenden Gründen auch davon aus, dass von einer Einführung einer Regelung abgesehen werden sollte, die wie § 110 Abs. 4 OWiG die Übertragung von Schriftstücken - man denke etwa an Niederschriften über Beschuldigten- und Zeugenvernehmungen - in elektronische Dokumente unter anschließender Vernichtung der Urschrift zulässt. Abs. 82
Wegen der damit auf nicht absehbare Zeit notwendigen Führung von Mischakten, des zu berücksichtigenden Aufwandes für den Medientransfer und der doppelten Aktenkontrolle bei gleichzeitig weiter notwendigem physischen Aktentransport dürfte ein erheblicher Einspareffekt kaum zu erzielen sein. Ob aufgrund dessen der drohende — in einigen Bundesländern auch radikale - Abbau von Personal im mittleren Dienst mit der elektronischen Aktenführung kompensiert werden kann, erscheint eher fraglich. Auch gilt es abzuwägen, ob die Übertragung zusätzlicher Arbeitsschritte auf Staatsanwälte, die bei der konventionellen Arbeitsweise der Unterstützungsbereich ausführt, tatsächlich wirtschaftlicher ist als die Ausführung durch den mittleren Dienst. Abs. 83
Aber auch durch den häufigen Ausdruck der elektronischen Akte zum verständlichen Lesen und Bearbeiten werden nicht unerhebliche Teile des Einsparpotentials einer elektronischen Aktenführung wieder "eingefangen". Abs. 84
Hinterfragt werden muss auch die These, eine vollständige elektronische Aktenführung führe durch den Wegfall des physischen Aktentransports zu einer erheblichen Verkürzung der Durchlaufzeiten. Abs. 85
Die Aktenberge, die vor Einführung einer elektronischen Aktenführung sich im Umlauf befunden haben, müssten nach gängigen Theorien vor der Einführung abgebaut werden. Das wäre aber nur bei einer absoluten Unterbrechung des Aktenzulaufs im Eingangsbereich möglich (in dieser Zeit dürften aber auch keine neuen Verfahren entstehen, die bei der Polizei "zwischengespeichert" werden). Erst dann könnten sich deutlich geringere Durchlaufzeiten der Neueingänge ergeben. Dieses Szenario ist im Justizbereich aber nicht möglich. Zusammen mit Prof. Dr. Wikarski von der FH Brandenburg soll dieses Problem demnächst wissenschaftlich näher betrachten werden. Abs. 86
Der Einwand, durch die effektiveren Arbeitsmethoden könnten sich die "Berge", die jetzt nicht mehr auf Transport sind, sondern im Posteingang der Dezernenten liegen, langsam abgebaut werden, ist fraglich. Denn bei einem so radikalen Umbau in der Arbeitsweise und Organisation werden sich diese Einsparpotentiale wohl erst sehr spät verwirklichen. Abs. 87

2.5.    Die Öffnung der Strafprozessordnung für Teilbereiche der elektronischen Aktenführung

Auch wenn in den nächsten Jahren eine rein elektronische Aktenführung im Strafverfahren nicht realistisch sein dürfte, zeigen die bisherigen Erfahrungen sowie die potentiellen Möglichkeiten der IT, es dürfte sinnvoll sein, wenn sich die Strafprozessordnung der elektronischen Aktenführung - zunächst - in Teilbereichen öffnet. Durch diese Öffnung könnten neben Effizienzgewinnen im Strafverfahren weitere wertvolle Erfahrungen mit der elektronischen Aktenführung gesammelt werden. Abs. 88
Mögliche Teilbereiche wären: Abs. 89
a)Eine Hybridakte im Vollstreckungsverfahren (die Akte wird teilweise in Papier, teilweise elektronisch geführt). Abs. 90
Die Nutzung der IT in der Strafvollstreckung ist bereits heute besonders intensiv. Fast alle Dokumente in der Strafvollstreckung werden vom Rechtspfleger elektronisch erzeugt. In der Diskussion und Abstimmung ist die elektronische Schnittstelle zwischen Staatsanwaltschaft und Justizvollzug, womit weitere Dokumente elektronisch vorliegen würden. Ein (sofortiger) Ausdruck für die Papierakte würde Einsparungspotenzial zunichte machen. Muss die Akte z. B. der Strafvollstreckungskammer vorgelegt werden, könnte das in Papierform und in elektronischer Form erfolgen, ebenso bei Akteneinsicht an den Verteidiger. Abs. 91
b)Das Übertragen von länger aufzubewahrenden Schriftstücken (i. d. R. Urteile, Gutachten) in eine rechtsverbindlich elektronische Form für eine alleinige langfristige Aufbewahrung. Abs. 92
Nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist für die Akte müssen die länger aufzubewahrenden Schriftstücke herausgenommen und gesondert verwahrt werden. Könnte man rechtsverbindlich die länger aufzubewahrenden Schriftstücke spätestens bei Abschluss des Verfahrens einscannen und elektronisch archivieren, könnte die Akte nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist umgehend der Vernichtung zugeführt werden. Abs. 93
c)Vereinfachte UJs-Verfahren könnten ausschließlich elektronisch geführt werden. Abs. 94
"Für eine Pilotierung besonders geeignet erscheinen der Kommission (Anm., der Großen Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes) Ermittlungsverfahren gegen unbekannte Täter (UJs-Sachen ), da es sich hierbei um standardisiert ablaufende Vorgänge geringen Umfangs handelt, an denen in der Regel nur die Polizei und die Staatsanwaltschaft beteiligt sind."[15]Abs. 95
d)Die Übertragung der Papierakte in ein elektronisches Medium zur Aufbewahrung und gleichzeitiger Vernichtung der Papierakte sollte ermöglicht werden. Abs. 96
Das ist eine Forderung der Landesjustizverwaltung Saarland, um teuere Mieträume für die Archivierung einzusparen.
JurPC Web-Dok.
165/2009,   Abs. 97

F u ß n o t e n

[1] http://www.all-for-one.de/de/infocenter/news/Dokumentenmanagement/Preis_des_Europarates.htm
[2]Pressemitteilung des Europarates — 448(2009), http://www.coe.int/t/dc/av/allreleases_de.aspund Pressemitteilung des MdJ des Landes Brandenburg; http://www.mdj.brandenburg.de/cms/detail.php/bb1.c.162765.de
[3] Erardo Cristoforo, Zehn Jahre MESTA — Ein Erfahrungsbericht über das ganzheitliche IT-System der Staatsanwaltschaften des Landes Brandenburg, JurPC Web-Dok. 56/2008 http://www.jurpc.de/aufsatz/20080056.htm
[4] als Beispiele Hessen: http://www.hessen-egovernment.de /irj/servlet/prt/portal/prtroot/slimp.CMReader/HMdI_15/eGovernment_Internet/med /b4b/b4b36044-1cd5-021b-30bc-d44e9169fccd ,22222222-2222-2222-2222-222222222222 ,true.pdf
und Nordrhein-Westfalen: http://www.justiz.nrw.de/Presse/reden/archiv/2008_02_Archiv/08_10_08/index.php
[5] https://www.edvgt.de/
[6] http://www.drb.de/cms/fileadmin/docs/kintzi_elektronische_akte_0812.pdf
[7] siehe Beschluss zu TOP 7 der 83. Sitzung der Bund-Länder-Kommission für Datenverarbeitung und Rationalisierung: http://www.justiz.de/BLK/beschluesse/83__Sitzung.pdf
[8] http://archiv.jura.uni-saarland.de/laenderberichte2005/Berlin.pdf
[9] Uwe Berlit, E-Justic — Chancen und Herausforderungen in der freiheitlichen demokratischen Gesellschaft, JurPC Web-Dok. 171/2007, Abs. 75 f. http://www.jurpc.de/aufsatz/20070171.htm#u14)
[10] http://service.brandenburg.de/lis/detail.php/120154#Integration
[11]Beispielsweise POLIKS in Berlin: http://www.t-systems.de/tsi/servlet/contentblob/t-systems.de/de/390454/blobBinary/Download-ps.pdf
[12] Vertikale und horizontale Bewertung der Unterlagen der Polizei in Baden-Württemberg, Dokumentation, Stand: März 2003, Fortschreibung: Generallandesarchiv Karlsruhe, S. 36 http://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/25/bewertung_polizeimodell_glak.pdf
[13] Uwe Berlit, Die elektronische Akte — rechtliche Rahmenbedingungen der elektronischen Gerichtsakte, JurPC Web-Dok. 157/2008 http://www.jurpc.de/aufsatz/20080157.htm)
[14] Eröffnungsvortrag von Justizministerin Müller-Piepenkötter auf dem 17. Deutschen EDV-Gerichtstag in Saarbrücken am 18.09.2008: http://www.justiz.nrw.de/Presse/reden/archiv/2008_02_Archiv/18_09_08/index.phpsowie
Grußwort von Herrn Staatssekretär Hasso Lieber, Senatsverwaltung für Justiz Berlin, anlässlich des E-Justice Forums 2008 im Rahmen der Xinnovations am 23. September 2008 in der Humboldt-Universität zu Berlin: http://www.xinnovations.de/tl_files/doc/download/Dienstag,%2023.09.2008/E-Justice/Grusswort_Lieber.pdf
[15] Siehe Fußnote 6
* Matthias Kegel ist Oberstaatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg und IT-Dezernent.
[ online seit: 18.08.2009 ]
Zitiervorschlag: Autor, Titel, JurPC Web-Dok., Abs.
Zitiervorschlag: Kegel, Matthias, Die elektronische Akte im Strafverfahren?! - Chancen und Grenzen - - JurPC-Web-Dok. 0165/2009