JurPC Web-Dok. 263/2004 - DOI 10.7328/jurpcb/20041910210

Eike Richter*

Rezension - v. Lucke, Regieren und Verwalten im Informationszeitalter

JurPC Web-Dok. 263/2004, Abs. 1 - 9


Jörn von Lucke
Regieren und Verwalten im Informationszeitalter,
- Abschlussbericht des Forschungsprojektes "Regieren und Verwalten im Informationszeitalter" am Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Projektleiter: Univ.-Prof. Dr. Heinrich Reinermann -,
Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Band 156,
Duncker & Humblot, Berlin 2003
276 Seiten
ISBN 3-428-11011-0
84,80 €/143 sFr
Wenn es richtig ist, dass mit den modernen Informations- und Kommunikationstechnologien neue räumliche und zeitliche Strukturen entstehen, dass Lokalität durch Allgegenwärtigkeit, Zeitlichkeit durch Zeitlosigkeit ersetzt und in deren Gefolge Hierarchie, spezialisierte Arbeitsteilung, Schriftlichkeit und andere hergebrachte Prinzipien der Organisation und Gestaltung des öffentlichen Sektors wirkungslos zu werden scheinen, kurz: wenn die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien tatsächlich die Grundlagen und Vorgegebenheiten staatlichen Handelns zur Disposition stellen sollten, dann wird die Frage unausweichlich, wie der Staat unter diesen Voraussetzungen seine Handlungsmöglichkeiten erhalten kann, wie er zu diesem Zweck seine Institutionen reorganisieren und seine Machtstrukturen neu ordnen muss und welche Spielräume zur Gestaltung von Politik, Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung und Justiz sich in diesem Zusammenhang noch eröffnen. Jörn von Lucke hat sich die Beantwortung dieser grundlegenden Fragen in seinem Bericht "Regieren und Verwalten im Informationszeitalter" zum Ziel gesetzt und dabei auch nicht ausgespart, allgemeine Erwartungen an die Informationstechnologien, wie etwa die Annahme, die Technologien könnten Wesentliches dazu beitragen, das Handeln des Staates an Effizienz und Produktivität auszurichten und dessen Handlungsfähigkeit auch in Zeiten der Globalisierung zu erhalten, auf ihre Berechtigung hin zu hinterfragen. Der Bericht beschließt zugleich - was besondere Erwartungen an seine Ergebnisse wecken darf - das gleichnamige Forschungsprojekt am Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer unter der Leitung von Heinrich Reinermann ab. JurPC Web-Dok.
263/2004, Abs. 1
Von Lucke begreift die Möglichkeiten der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien grundsätzlich nicht nur als Gefahren und Risiken für bestehende Organisationsstrukturen, sondern in erster Linie als Chance zu durchgreifenden Veränderungen. Damit bezieht er zu Recht von Beginn an eine besonders im Technik- und Datenschutzrecht gerne vernachlässigte Grundlage in seine Untersuchung mit ein, nämlich dass die Möglichkeiten und Grenzen der Informationstechnik nicht als natürlich vorgegeben hinzunehmen sind, dass die Entwicklungsprozesse sich nicht außerhalb unseres Handlungsspielraums abspielen und deren Resultate zu akzeptieren oder abzulehnen wären, sondern dass Technik auf vielen Ebenen - und nicht nur auf jener des Rechts - gestalt- und steuerbar ist. Abs. 2
Auf Grundlage dieses Vorverständnisses über das Verhältnis von Technik, Organisation und Recht ist es nur konsequent, wenn von Lucke zunächst die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien aus technischer Sicht darstellt und auf deren ökonomischen, sozialen und kulturellen Effekte eingeht. Unter "moderne Informations- und Kommunikationstechnologien" fasst von Lucke im Wesentlichen die Internetnettechnologien, also die TCP/IP-Protokollfamilie, die Internetdienste und -anwendungen. Zu deren Effekten zählt von Lucke die Herstellung von digitalen Produkten und Dienstleistungen, die im Vergleich zu traditionellen Erzeugungsprozessen veränderte Kostenstrukturen aufwiesen. Ferner lägen den Internettechnologien das Prinzip wachsender Erträge und andere Netzwerkmechanismen zu Grunde. Sie ließen ein neues Unternehmertum und neue Preis- und Erlösmodelle entstehen, wiesen Kunden und Klienten neue, durch Individualisierung und Interaktivität geprägte Rollen zu und erschlössen neue öffentliche und globale Räume. Abs. 3
Von Lucke sieht zahlreiche Möglichkeiten, wie diese Effekte für den öffentlichen Sektor genutzt und eingesetzt werden könnten. Auf ihrer Grundlage sei die flächendeckende Einrichtung multimediabasierender Content-Managementsysteme in Form von Stadt- und Behördenredaktionssystemen denkbar. Die Interaktivität der neuen Medien ermögliche bürgerfreundliche Zugänge zu den Leistungen der Verwaltung und liefere dem Staat Ansatzpunkte für innovative und transparente Vertriebs- und Beschaffungswege. Verwaltungsintern könnten traditionelle, auf Papier und Schriftlichkeit basierende durch elektronische Büro- und Aktensysteme ersetzt werden, die die Bearbeitung von Dokumenten verbesserten und auf lange Sicht zu einschneidenden organisatorischen und kulturellen Veränderungen in den Wissens- und Informationsstrukturen führten. Schließlich eröffneten kombinierte Formen der Daten-, Sprach und Videounterstützung neue Möglichkeiten staatlicher Öffentlichkeitsarbeit. Im Bereich Beratung und Kundenbetreuung könnten softwarebasierende intelligente Agenten ("Bots") unterstützend tätig werden. Auch wenn man nicht jede Einschätzung des Berichts über die künftige Bedeutung der Informations- und Kommunikationstechnologien teilen möchte oder sich hin und wieder auch eine kritischere Hinterfragung der technischen Versprechungen gewünscht hätte, so wird man von Lucke doch jedenfalls in seiner Feststellung zustimmen, dass die Verbesserungen nur auf der Grundlage einer funktionsfähigen Infrastruktur gelingen können. Dazu gehören nicht nur ausreichende Übertragungsraten, leistungsfähige Hard- und Software, effektive Organisationsstrukturen, komfortable Anwendungen mit attraktiven Inhalten, sondern auch akzeptanzschaffende und vertrauensbegründende Rahmenbedingungen auf Seiten der Nutzer. Abs. 4
Im weiteren Fortgang wendet sich der Autor ausgewählten Einsatzbereichen und vorbildhaften Umsetzungen von Electronic Government zu. Im Mittelpunkt stehen Referenzbereiche der Verwaltung, aber es werden auch Ansätze und Projekte in den Bereichen Politik und Demokratie, Gesetzgebung, Regierung und Justiz vorgestellt. Dank der beeindruckend umfangreichen und sorgfältigen Zusammenstellung vorbildhafter und bewährter Electronic Government-Projekte aus dem In- und Ausland einschließlich ihrer Adressen im Internet ist es für den Leser erfreulich einfach, sich eine eigene Vorstellung über die Entwicklung in der Praxis zu verschaffen. Für von Lucke bestätigt die Zusammenstellung der aktuellen Einsatzfelder, dass die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien ein hohes Potenzial für eine verbesserte Organisation des öffentlichen Sektors bereithalten. Er stellt aber auch fest, dass Pilotprojekte nicht in allen Anwendungsbereichen sofort umgesetzt werden könnten. Was den Bereich der Politik und Demokratie betrifft, teilt von Lucke die verbreitete optimistische Einschätzung, dass mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien eine engere Einbindung der Bürger in die politischen Prozesse des Regierens und Verwaltens im Parlament, in Gesetzgebungsverfahren, in der Vollzugsüberwachung, aber auch in den öffentlichen Foren der Parteien und Online-Medien sowie in Bürgerinitiativen gelingen könne. Damit könnten auf Grundlage eines partizipativen Demokratiebegriffs sinnvolle Ergänzungen zu herkömmlichen Strukturen demokratischer Willensbildung geschaffen werden. Für das Gesetzgebungsverfahren verspricht sich von Lucke von dem Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnologien ein Mehr an Öffentlichkeit und Transparenz sowie eine verbesserte Außendarstellung der Parlamentsaktivitäten. Verwaltung und Justizwesen könnten mit Hilfe der neuen Medien effizienter, transparenter und bürgerfreundlicher organisiert, Verfahren kostengünstiger und flexibler durchgeführt werden. Abs. 5
Von Lucke gibt in einem weiteren Abschnitt seines Berichts einen Überblick über eine Auswahl staatlicher Aktionsprogramme zur Informationsgesellschaft sowie über Programme, Leitlinien und Visionen zu Electronic Government, die er in die allgemeinen Konzepte zur Modernisierung der Verwaltung einordnet und nach verschiedenen Kriterien analysiert. In diesem Zusammenhang bietet der Bericht auch eine aufschlussreiche und informative Bestandsaufnahme deutscher Aktivitäten zu Electronic Government. Auf Grundlage seiner Analyse misst von Lucke den Aktionsprogrammen einen hohen Stellenwert für die Umsetzung von Electronic Government zu und begrüßt insbesondere auch die verschiedenen Ansätze in Politik und Verwaltung, entsprechende Kriterien und Verfahren zur Zielmessung und Erfolgskontrolle zu entwickeln und einzurichten. Abs. 6
Nach Auffassung von von Lucke führt der Einsatz der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien auf lange Sicht zu beachtlichen Veränderungen für Bürger, Wirtschaft, Politik und den öffentlichen Sektor. Qualitäts- und Serviceverbesserungen seien über einen fehlerreduzierten Verwaltungsvollzug, eine verbesserte Kundennähe, ein erweitertes Leistungsangebot und eine Verbesserung des Arbeitsumfeldes erreichbar. Flexibilisierungen, Rationalisierung, bessere Führungsinformation und neue Elemente der Selbstorganisation verbesserten die Organisation des öffentlichen Sektors. Auch seien Einsparungen bei den Kommunikations-, Papier-, Druck-, Kopier-, Lagerhaltungs-, Versand-, Verteil-, Betriebs- und Personalkosten möglich. Allerdings wird gerade in diesem Abschnitt deutlich, dass der Bericht die in seiner Einleitung selbstgesetzten Ziele und geweckten Erwartungen nicht in jeder Hinsicht erfüllen kann. Auch wenn er sich von vornherein auf den Wissensstand des zwischen 1999 und 2001 laufenden Forschungsprojekts beschränkt und daher nicht den Stand der Diskussion zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung widerspiegeln möchte, schließt er sich doch zu unreflektiert der einen oder anderen Annahme der frühen, von Euphorie getragenen Anfangsphase von Electronic Government an, wie etwa jener, bis heute wenig belegte und zunehmend hinterfragte Erwartung, dass der Einsatz neuer Technologien zum Abbau und Ende von Informationshierarchien in der Führungsorganisation führe. Sich auf die grundlegenden Fragen zum Regieren und Verwalten im Informationszeitalter einzulassen, dürfte aber voraussetzen, sich über deskriptive Begriffe wie etwa Information, Wissen, Kommunikation, Interaktivität, Öffentlichkeit und Netzwerk - auch in methodischer Hinsicht - Klarheit zu verschaffen, aber auch normative Vorstellungen, z.B. zu Demokratie und Entscheidungsrichtigkeit, zu diskutieren. So ist beispielsweise dem Verfasser durchaus in der Einschätzung zuzustimmen, dass durch eine Reduzierung von Such- und Bearbeitungszeiten viele Geschäftsprozesse beschleunigt werden können. Beschleunigung und Schnelligkeit sind aber keine Selbstzwecke, sondern stehen vor allem - wie der Verfasser in diesem Zusammenhang auch selbst zu erkennen gibt - im Spannungsverhältnis zu heute selbstverständlichen Vorstellungen von einer gleichförmig und willkürfrei agierenden und der Sachrichtigkeit und Rechtssicherheit verpflichteten Verwaltung. Es sind diese berechtigten Ansprüche an die Gestaltung des Staates, die im Laufe der Organisationsentwicklung zu der weitreichenden Bürokratisierung der Verwaltung und zu der ausdifferenzierten Rechtsordnung geführt haben, wie wir sie heute - in vieler Hinsicht auch zu Recht - beklagen, die aber andererseits maßgeblich die Zeit bestimmen, die zur Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten benötigt wird. Auch die Möglichkeiten und Grenzen der neuen Medien zur Reorganisation des öffentlichen Sektors müssen deshalb stets vor dem Hintergrund solcher komplexen Zielkonflikte betrachtet werden, ebenso wie es notwendig ist, Institutionen des öffentlichen Sektors stets in ihrer Einbettung in das Gesamtsystem Staat zu beleuchten. Abs. 7
In den letzten beiden Abschnitten des Berichts wendet sich von Lucke den Barrieren des Electronic Government zu und entwickelt einen eigenen Ansatz für eine umfassende Electronic Government-Strategie. Er weist in diesem Zusammenhang auch auf den Entwicklungsmechanismus der Informatisierung von Staat und Verwaltung hin. Neue Online-Lösungen und Web-Services ersetzten oder ergänzten tradierte Verwaltungsverfahren, bereicherten das Angebot und lösten damit ihrerseits neue Impulse für die Veränderung bestehender Prozesse und Organisationsstrukturen im öffentlichen Sektor aus. Abs. 8
Insgesamt bietet der Bericht einen guten Überblick über das breite Spektrum der staatlichen Aktivitäten im Internet und zeugt von umfangreichen Kenntnissen des Verfassers über die Möglichkeiten und Grenzen der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien. Das Buch dürfte daher in erster Linie für Entscheidungsträger und Organisationsgestalter im öffentlichen Sektor von hohem Informationswert sein. Aber auch für rechts- und verwaltungswissenschaftlich Interessierte ist der Bericht zu empfehlen, bietet er doch insgesamt eine gute und einführende Zusammenfassung über die technischen Grundlagen und Entwicklungstendenzen von Electronic Government und ist damit eine Fundgrube für offene Fragen zu veränderten Sozialitäten und Werten, die mit der Informatisierung des öffentlichen Sektors einherzugehen scheinen. Und auch das kann ja bekanntlich ein wichtiger Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt sein.
JurPC Web-Dok.
263/2004, Abs. 9
* Eike Richter studierte Rechtswissenschaft, Angewandte Mathematik und Praktische Informatik an der Justus-Liebig-Universität Gießen und war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der dortigen Professur für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre sowie Stipendiat der Graduiertenförderung der Friedrich-Ebert-Stiftung. Zurzeit ist er Rechtsreferendar in Hamburg und Lehrbeauftragter für Staats- und Verfassungsrecht an der Verwaltungsfachhochschule Wiesbaden. Im Rahmen seiner Dissertation beschäftigt er sich mit verwaltungswissenschaftlichen und verfassungsrechtlichen Fragen der informationstechnischen Vernetzung in der hierarchischen Verwaltungsorganisation.
[online seit: 29.10.2004 ]
Zitiervorschlag: Autor, Titel, JurPC Web-Dok., Abs.
Zitiervorschlag: Richter, Eike, Rezension - v. Lucke, Regieren und Verwalten im Informationszeitalter - JurPC-Web-Dok. 0263/2004