Th. Engel, Th. Höhn *Bayerische Justiz entscheidet sich für StrafgerichtslösungJurPC Web-Dok. 11/1997, Abs. 1 - 22 |
Gliederung:Eigenlösung oder Standardprodukt? |
Nach einem über sechsmonatigen Auswahlprozeß, der maßgeblich durch eine EU-weite Ausschreibung mit rund 550 Bewertungskriterien geprägt wurde, hat sich das Bayerische Staatsministerium der Justiz für die stufenweise Einführung des Softwaresystems PROJUS-Strafgericht der Firma Siemens-Nixdorf an den Strafgerichten des Freistaates entschieden. Über die aufschlußreichen Erfahrungen im Vorfeld der Auswahlentscheidung berichtet der folgende Beitrag. | JurPC Web-Dok. 11/1997, Abs. 1 |
Eigenlösung oder Standardprodukt?Zunächst war die Frage zu klären, ob ein Standardprodukt erworben oder die Realisierung einer Eigenlösung (ggf. im Verbund mit anderen Bundesländern) in Angriff genommen werden sollte. Gegen eine Eigenlösung sprach, daß ...
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Schließlich war die beabsichtigte kurzfristige Softwareeinführung ohne weitgehende Vorarbeiten eines Anbieters auf der Grundlage eines parametrierbaren Standardsystems und ohne das Instrument drakonischer Verzugssanktionen nur schwer vorstellbar. | Abs. 3 |
Der ZeitplanFür den Auswahlprozeß waren - beginnend im Mai 1996 - rund sechs Monate eingeplant. Der Zuschlag wurde planmäßg Anfang Dezember erteilt. Die Anpassung der Lösung an die Anforderungen der bayerischen Strafgerichte soll bis September 1997 abgeschlossen werden. Nach einem dreimonatigen Testbetrieb wird die Lösung ab Januar 1998 stufenweise an zunächst sieben Strafgerichten mit 400 Bildschirmarbeitsplätzen eingeführt. | Abs. 4 |
Die MarktsichtungIm Vorfeld der Ausschreibung wurde eine Marktsichtung einschlägiger Justizlösungen durchgeführt, die zunächst unbefriedigend verlief. Bereits bei der Vereinbarung von Ortsterminen mit den Nutzern verschiedener Justizverfahren zeigte sich, daß die Automationsunterstützung der Geschäftsabläufe in der Strafgerichtsbarkeit bundesweit bislang nicht über ambitionierte Planungen und Teillösungen hinausgekommen ist. | Abs. 5 |
In den Gesprächen vor Ort ergaben sich jedoch zahlreiche Gesichtspunkte, die in das spätere Pflichtenheft eingehen sollten. In der rückblickenden Bewertung war der kollegiale Meinungs- und Erfahrungsaustausch für unsere Ausschreibung daher von großem Nutzen. Hierfür möchten wir den betreffenden Kollegen an dieser Stelle noch einmal herzlich danken. | Abs. 6 |
Eine wesentliche Konsequenz der Marktsichtung war, daß im weiteren Verlauf unser Augenmerk vor allem der weitgehenden Integration von Text- und Datenverarbeitung sowie der flexiblen Anpassungsfähigkeit der jeweiligen Lösung an gerichtsspezifische Gegebenheiten (z. B. Geschäftsverteilung) galt. Als weitere Problemzonen erwiesen sich die z. T. mangelnde Eignung MS-Windows-konformer Programmabläufe für das Massengeschäft sowie das teilweise unbefriedigende Antwortzeitverhalten Client-Server-basierter Automationslösungen. Hinsichtlich des Antwortzeitverhaltens stimmte bedenklich, daß nahezu alle "modernen" Lösungen annähernd akzeptable Antwortzeiten nur durch die kostenträchtige Installation eines "Rechenzentrums am Arbeitsplatz jeder Geschäftsstellenkraft" (Zitat einer Betroffenen) gewährleisten können. Offensichtlich werden gerade MS-Windows-basierte Lösungen dem von ihrem Schöpfer formulierten Motto "information at your fingertips" nur in Ausnahmefällen - und beim Einsatz äußerst hochwertiger Hardware - gerecht! | Abs. 7 |
Die in den letzten Jahren zunehmend populäre Auffassung, Client-Server-basierte Lösungen seien vorteilhafter als die mit dem Makel herstellerabhängiger Mehrplatzverfahren behafteten Produkte, ist vor diesem Hintergrund einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Vielfach scheint es, daß die Arbeitsplatzkosten der Client-Server-Konzepte sowie die Aufwendungen für System-, Netz- und Anwenderbetreuung bedeutend höher sind als bei den Lösungen der ersten Generation der Justizautomation. | Abs. 8 |
Der EU-TeilnahmewettbewerbUnter Berücksichtigung der - angesichts des Beschaffungsvolumens zu beachtenden - EU-Vergaberichtlinien entschied sich das Bayerische Staatsministerium der Justiz für eine Beschränkte Ausschreibung mit vorausgehendem EU-weitem Teilnahmewettbewerb. In der 37-tägigen Wettbewerbsfrist gingen insgesamt 18 Teilnahmeanträge ein. Da von der Neuentwicklung einer Lösung mit einem möglicherweise justizunerfahrenen Partner abgesehen werden sollte, reduzierte die Vorauswahl den Teilnehmerkreis auf vier Anbieter, die über relevante Referenzen in der Justizautomation verfügen. | Abs. 9 |
Das PflichtenheftAuf der Grundlage einer bereits vorliegenden fachlichen Spezifikation und unter Einbeziehung erfahrener Bedarfsträger konnte in einer dichten Folge mehrtägiger Klausurtagungen ein differenziertes, insgesamt 550 Einzelkriterien umfassendes Pflichtenheft erarbeitet werden, das sich im wesentlichen in folgende Abschnitte gliedert:
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Die AngeboteDie eingegangenen Angebote wiesen eine außerordentlich große Spannbreite auf. Zwischen einem und acht Ordnern, hundert und fünfzehnhundert Seiten lag der Papierumfang. Inhaltlich variierten die Angebote von einsilbigen Pauschalzusagen bis zu überaus differenzierten Stellungnahmen, die das - in der ersten Projektphase zu erarbeitende - DV-technische Feinkonzept vorwegnehmen. | Abs. 11 |
Teilweise wurden die Anbieter durch die Vielzahl der geforderten Aussagen sichtlich zermürbt: Während die ersten Anforderungsgruppen mit aussagekräftigen Stellungnahmen bedacht wurden, war für die fortgeschrittenen Teile des Angebotes ein lakonisches "Anforderung wird in vollem Umfang erfüllt" kennzeichnend. | Abs. 12 |
Das AuswahlverfahrenGleichwohl zeigte sich im Zuge der Detailbewertung, daß der erste Eindruck verschiedentlich revidiert werden mußte. So versuchten gerade sachkundige Anbieter, die geschuldete Leistung durch geschickt formulierte Vorbehalte zu reduzieren oder durch die Verlagerung elementarer Leistungsmerkmale in kostenträchtige Angebotsoptionen die Wirtschaftlichkeit ihres Hauptangebotes zu verbessern. | Abs. 13 |
Als zuverlässiger Gradmesser der Anforderungserfüllung erwies sich das von der Koordinierungs- und Beratungsstelle der Bundesregierung für Informationstechnik in der Bundesverwaltung entwickelte Bewertungsverfahren, das sich unter der Bezeichnung "Multifaktorenmethode" seit vielen Jahren bei IT-Ausschreibungen in allen Bereichen der öffentlichen Verwaltung bewährt hat. | Abs. 14 |
Die Kernelemente des Verfahrens lassen sich folgendermaßen beschreiben:
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Wichtig ist dabei, daß ...
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Die Vielzahl der Bewertungsfaktoren und die Transparenz der Bewertungsmethode immunisiert das Verfahren gegen den gern kolportierten Vorwurf einer vermeintlich unsachgerechten Produktauswahl der jeweiligen ausschreibenden Stelle. Die abschließende Bewertung der Angebote in der hier erläuterten Ausschreibung basiert z. B. auf über 2.000 gewichteten Einzelbewertungen, die erst in der letzten Phase der Ausschreibung zu einem auch für das Bewertungsteam nicht vorhersagbaren Endergebnis verdichtet wurden. | Abs. 17 |
Einschränkend ist jedoch anzumerken, daß die strenge Logik des beschriebenen Bewertungsverfahrens den Bewerter zwar vom Vorwurf der Parteilichkeit freispricht, ihn jedoch andererseits zum "Gefangenen" der eigenen Bewertungsmatrix macht. | Abs. 18 |
FazitDie Entscheidung für PROJUS-Strafgericht ist Bestandteil der Umsetzung einer umfassenden IT-Beschaffungsstrategie der bayerischen Justiz. Der im Zusammenhang mit Konzeption und Realisierung dieser Strategie stehende, sich über mehrere Monate erstreckende erhöhte Aufwand und die hierdurch gebundenen justizeigenen Personalkapazitäten erscheinen durch die Qualität der getroffenen Beschaffungsentscheidungen mehr als gerechtfertigt. | Abs. 19 |
Bei der Bewertung von Aufwand und Nutzen einer EU-weiten Ausschreibung ist neben dem durch größeren Wettbewerb erreichten Preisvorteil auch die reibungslose Projektabwicklung auf der Grundlage eines in der Ausschreibung erarbeiteten detaillierten Pflichtenheftes zu berücksichtigen. Wichtige Impulse gingen gerade in diesem Zusammenhang von dem mit der Vorbereitung und Durchführung der Ausschreibung beauftragten Beratungshaus aus. | Abs. 20 |
Als positives Ergebnis der Ausschreibung bleibt insgesamt festzuhalten:
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Empfehlenswert erscheint in jedem Fall, der Ausschreibung eine intensive
Marktsichtung vorangehen zu lassen. Sie ist als "Stoffsammlung" für die
Erarbeitung des Pflichtenheftes überaus nützlich und hilft
insbesondere dabei, das "Seziermesser" der Angebotsbewertung an den richtigen
Stelle zu schärfen.
| JurPC Web-Dok. 11/1997, Abs. 22 |
* Th. Engel ist Mitarbeiter im Bayerischen Staatsministerium der Justiz. Th. Höhn ist Mitarbeiter der Fa. INFORA GmbH. |
[15.10.97] |
Zitiervorschlag: Autor, Titel, JurPC Web-Dok., Abs. |
Zitiervorschlag: Engel, Th., Bayerische Justiz entscheidet sich für Strafgerichtslösung - JurPC-Web-Dok. 0011/1997 |