JurPC Web-Dok. 55/2024 - DOI 10.7328/jurpcb202439456

LSG Mecklenburg-Vorpommern

Urteil vom 21.11.2023

L 3 SB 14/23

Klageerhebung per E-Mail

JurPC Web-Dok. 55/2024, Abs. 1 - 35


Orientierungssatz:

Enthält die Rechtsmittelbelehrung in einem Widerspruchsbescheid u.a. den Hinweis, dass eine Klageerhebung per E-Mail an das Sozialgericht nur über das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach des Sozialgerichts möglich ist, wird entgegen den in § 65a SGG aufgeführten Anforderungen fälschlich der Eindruck erweckt, dass eine Klage mit einer (einfachen) E-Mail erhoben werden kann.

Tatbestand

Der Kläger begehrt von dem Beklagten die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mehr als 20.Abs. 1
Nach erstmaliger Feststellung eines GdB von 20 mit Bescheid vom 2. August 2019 stellte der Kläger bei dem Beklagten im Januar 2021 den vorliegend streitigen Neufeststellungsantrag rückwirkend für die Zeit ab November 2020, den der Beklagte mit Bescheid vom 3. März 2021 ablehnte. Den hiergegen von der Prozessbevollmächtigten des Klägers am 6. April 2021 eingelegten und von ihr nicht begründeten Widerspruch wies der Beklagte mit – am 10. Dezember 2021 zur Post aufgegebenem – Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 2021 zurück. In dessen Rechtsbehelfsbelehrung heißt es auszugsweise:Abs. 2
„Für die Erhebung der Klage stehen Ihnen folgende Möglichkeiten zur Verfügung:Abs. 3
1. …Abs. 4
2. …Abs. 5
3. Sie schreiben dem vorgenannten Sozialgericht eine E-Mail. Dies ist allerdings nur über das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach des Sozialgerichts möglich.Abs. 6
…“Abs. 7
Hiergegen hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers am 17. Januar 2022 bei dem Sozialgericht Neubrandenburg Klage erhoben, ohne diese zu begründen.Abs. 8
Der Kläger hat beantragt,Abs. 9
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 3. März 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Dezember 2021 zu verurteilen, dem Kläger einen GdB von mindestens 30 zuzuerkennen.Abs. 10
Der Beklagte hat beantragt,Abs. 11
die Klage abzuweisen.Abs. 12
Der Beklagte hat ausgeführt, die Klage sei bereits verfristet. Der Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 2021 sei zentral in der folgenden Nacht gedruckt und versandt worden. Er sei am 10. Dezember 2021 zur Post aufgegeben worden und gelte am dritten Tag nach Aufgabe zur Post und somit am 13. Dezember 2021 als bekanntgegeben. Die Klage sei aber erst am 17. Januar 2022 und damit verspätet beim Sozialgericht Neubrandenburg eingegangen.Abs. 13
Das Sozialgericht hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Schreiben vom 25. Januar 2022 aufgefordert, binnen 3 Wochen zum Zugang des Widerspruchsbescheides vorzutragen, ohne dass diese hierauf reagiert hat.Abs. 14
Das Sozialgericht hat nach Anhörung der Beteiligten die Klage mit Gerichtsbescheid vom 10. Februar 2023 abgewiesen. Die Klage sei bereits unzulässig. Nach § 87 Abs. 1 S. 1 SGG sei die Klage binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts zu erheben. Der Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 2021 sei ausweislich des handschriftlichen Vermerks des Beklagten in der Verwaltungsakte und des Vortrags des Beklagten im gerichtlichen Verfahren am 10. Dezember 2021 zur Post aufgegeben worden und gelte daher gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X als am 13. Dezember 2021 bekanntgegeben. Die Klagefrist des § 87 Abs. 1 S. 1 SGG habe am 14. Dezember 2021 zu laufen begonnen und sei nach § 64 Abs. 2 Satz 1 SGG am 13. Januar 2022 abgelaufen. Die Klage sei aber erst am 17. Januar 2022 und damit verspätet bei Gericht eingegangen. Wegen der Verfristung der Klage finde eine materiell-rechtliche Prüfung nicht mehr statt.Abs. 15
Gegen den am 22. Februar 2023 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers am 18. März 2023 Berufung eingelegt. Sie hat weiterhin nicht zur Begründetheit des Klagbegehrens vorgetragen und lediglich ausgeführt, die Klage sei nicht verfristet erhoben worden, weil die Jahresfrist gegolten habe. Die Rechtsbehelfsbelehrung des Widerspruchsbescheids sei falsch gewesen. Sie enthalte den Hinweis, dass die Klage auch per E-Mail eingereicht werden könne und an ein elektronisches Gerichts- oder Verwaltungspostfach des Sozialgerichts zu senden sei. Zwar könne die Klage nach den gesetzlichen Vorschriften elektronisch eingereicht werden, allerdings nicht per E-Mail. Nach Rechtsausführungen zu § 36a Abs. 2 SGB I wird weiter vorgetragen, dass der Beklagte danach auf die Erforderlichkeit einer qualifizierten Signatur hätte hinweisen müssen.Abs. 16
Der Kläger beantragt,Abs. 17
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Neubrandenburg vom 10. Februar 2023 und den Bescheid vom 3. März 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Dezember 2021 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei dem Kläger einen GdB von mindestens 50 festzustellen.Abs. 18
Der Beklagte beantragt,Abs. 19
die Berufung zurückzuweisen,Abs. 20
hilfsweise,Abs. 21
die Berufung als unzulässig zu verwerfen.Abs. 22
Er ist der Auffassung, dass die Rechtsbehelfsbelehrung im Widerspruchsbescheid nicht rechtsfehlerhaft sei. Darin werde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Einlegung der Klage mit E-Mail nur über das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach des Sozialgerichts möglich sei.Abs. 23
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.Abs. 24

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und im Sinne der Aufhebung des Gerichtsbescheides und der Zurückverweisung der Sache an das Sozialgericht begründet.Abs. 25
Rechtsgrundlage für diese Entscheidung ist § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG. Danach kann das Landessozialgericht die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. Dies ist dann der Fall, wenn das Sozialgericht rechtsfehlerhaft die Klage durch Prozessurteil als unzulässig abgewiesen und die gebotene inhaltliche Prüfung des materiellen Rechts, also der Begründetheit der Klage und damit eine Sachentscheidung nicht vorgenommen hat (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl., § 159 Rn. 2a; Roos/Wahrendorf/Müller, SGG, 01.08.2023, § 159 Rn. 8).Abs. 26
In diesem Sinne hat das Sozialgericht auf eine zulässige Klage nicht über den geltend gemachten materiellen Anspruch entschieden. Das Sozialgericht hat zu Unrecht die Versäumung der Klagefrist bejaht und damit die Klage verfahrensfehlerhaft als unzulässig abgewiesen, ohne die Begründetheit der Klage zu prüfen.Abs. 27
Die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage des Klägers ist zulässig. Sie ist insbesondere nicht verfristet erhoben worden.Abs. 28
Die gegen den Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 2021 bei dem Sozialgericht am 17. Januar 2022 erhobene Klage hat die Klagefrist gewahrt. Denn es ist nicht auf die Monatsfrist des § 87 SGG abzustellen, sondern auf die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 SGG, da die Rechtsmittelbelehrung des Beklagten im Widerspruchsbescheid unrichtig ist.Abs. 29
Nach § 66 Abs. 1 SGG beginnt die Frist für ein Rechtsmittel nur zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsstelle oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich oder elektronisch belehrt worden ist. Die Belehrung muss vollständig und richtig sein, sonst setzt sie die Klagfrist nicht in Lauf. Ist die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Einlegung des Rechtsbehelfs grundsätzlich nur innerhalb eines Jahres möglich (vgl. § 66 Abs. 2 Satz 1 SGG). Bei irreführenden Angaben, die geeignet sind, den Betroffenen abzuhalten, den Rechtsbehelf überhaupt, rechtzeitig oder in der richtigen Form einzulegen, ist die Belehrung unrichtig.Abs. 30
In der Rechtsmittelbehrung des Widerspruchsbescheides wird u.a. auf folgende Möglichkeit für die Erhebung der Klage hingewiesen: “Sie schreiben dem vorgenannten Sozialgericht eine E-Mail. Dies ist allerdings nur über das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach des Sozialgerichts möglich.“ Damit wird entgegen den in § 65a SGG aufgeführten Anforderungen fälschlich der Eindruck erweckt, dass eine Klage mit einer (einfachen) E-Mail erhoben werden kann.Abs. 31
Nach § 65a Abs. 1 SGG können vorbereitende Schriftsätze nach Maßgabe der Absätze 2 bis 6 als elektronisches Dokument bei Gericht eingereicht werden. Sie müssen dann jedoch u.a. gemäß § 65a Abs. 3 SGG mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden. Eine (einfache) E-Mail erfüllt diese Vorgaben nicht (vgl. jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 65a SGG (Stand: 12.05.2023), Rn. 37). Zu den sicheren Übermittlungswegen gehört unter weiteren, näher bestimmten Voraussetzungen nur der Postfach- und Versanddienst eines De-Mail-Kontos. Dieses wird aus der Rechtsmittelbelehrung jedoch nicht im Ansatz deutlich, vielmehr verwirrt der Hinweis auf das elektronische Verwaltungs- und Gerichtspostfach in diesem Zusammenhang vollständig.Abs. 32
Dabei hatte der Beklagte in der Rechtbehelfsbelehrung des Ablehnungsbescheids vom 3. März 2021 noch auf die Möglichkeit der Einreichung eines Widerspruchs per E-Mail und zugleich auf die notwendige Einhaltung weiterer Vorgaben im Sinne der entsprechenden Regelung des § 36a Abs. 2 SGB I i.V.m. § 84 Abs. 1 SGG hingewiesen.Abs. 33
Im Rahmen der gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG zu treffenden Ermessensentscheidung hat sich der Senat veranlasst gesehen, die Sache an das Sozialgericht zurückzuverweisen, weil er dem Erhalt des Instanzenzuges im vorliegenden Fall den Vorrang gegenüber dem Interesse der Beteiligten an einer möglicherweise schnelleren Sachentscheidung eingeräumt hat. Insoweit war das objektive Interesse des Klägers an dem Erhalt beider Tatsacheninstanzen zur Prüfung seines Begehrens in der Sache zu berücksichtigen. Demgegenüber tritt die bisherige Verfahrensdauer zurück.Abs. 34
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.Abs. 35
Eine Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht vorbehalten (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl., § 159, Rn. 5f).Abs. 35


(online seit: 09.04.2024)
Zitiervorschlag: Gericht, Datum, Aktenzeichen, JurPC Web-Dok, Abs.
Zitiervorschlag: LSG Mecklenburg-Vorpommern, Klageerhebung per E-Mail - JurPC-Web-Dok. 0055/2024