JurPC Web-Dok. 110/2021 - DOI 10.7328/jurpcb2021368110

Stephanie Vogelgesang [*]

Der elektronische Rechtsverkehr, die elektronische Akte und das Zivilverfahrensrecht – Probleme und Chancen

JurPC Web-Dok. 110/2021, Abs. 1 - 49


Abs. 1

I. Anmerkungen zur Themenwahl

Der deutsche Gesetzgeber hat sich für die digitale Zukunft der Justiz entschieden. Mit dem Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten vom 10.10.2013 (ERV-Gesetz) hat der Gesetzgeber eine klare verpflichtende Vorgabe für die Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs – hier ERV genannt – geschaffen. Bestätigt und ergänzt wurde diese Entwicklung durch das Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 05.07.2017 (e-AkteG). Darin wird ab dem 01.01.2026 für alle wesentlichen Prozessordnungen und damit auch für den Zivilprozess die Führung einer e-Akte bei neu angelegten Verfahren obligatorisch.Abs. 2
Die folgenden Überlegungen orientieren sich vorrangig an diesem geplanten Endzustand. Das eAkteG zeigt, dass der Gesetzgeber bei einer Gesamtabwägung im Ergebnis von den Chancen und Vorteilen eines ERV im weitesten Sinne überzeugt ist. Dies macht allerdings eine Erörterung der Probleme und Chancen einer digitalen Justiz nicht überflüssig. Nur eine nähere Analyse kann zeigen, ob die vielfältigen Änderungen der Verfahrensordnung ausreichen,[1] um die noch zu erörternden spezifischen Sachfragen überzeugend zu lösen.[2]Abs. 3

II. Strukturierung und Inhalt der Dissertation

Die Dissertation ist wie folgt strukturiert: In Kapitel I werden die methodischen und inhaltlichen Ausgangsüberlegungen dargestellt. Ausgangspunkt der Analyse ist die Gerichtsebene. Sachgerecht erscheint es dabei, im Ansatz zwischen zwei zentralen Bereichen zu unterscheiden.Abs. 4
1. Die Kommunikation des Gerichts mit den Justizkunden – insbesondere mit der Rechtsanwaltschaft.
2. Justizinterne Kommunikation – die e-Akte als notwendige Binnenorganisation mit den 4 Phasen: Anlage/Bildung einer e-Akte, Bearbeitung, Langzeitarchivierung, Aussonderung.
Diese Differenzierung erscheint schon deshalb sinnvoll, weil im Gesetz selbst vorrangig nur die Kommunikation von und zu den Gerichten geregelt ist. Wichtig ist im Zusammenhang mit der Rechtsanwaltschaft zum Beispiel die Zustellungsnorm § 174 ZPO. Erwähnt werden muss insbesondere § 130a ZPO, der das zentrale Konzept der sicheren Übermittlungswege enthält.Abs. 5
In der Hauptnorm der elektronischen Aktenführung – § 298a ZPO – fehlen dagegen weitgehend präzise inhaltliche Vorgaben. Insbesondere fehlt auch eine förmliche Definition der e-Akte. Die e-Akte wird hier als eine geordnete, aktenzeichenbezogene Zusammenfassung von Dokumenten, Unterlagen und zugehörigen Metadaten verstanden. Als Metadaten werden strukturierte Daten bezeichnet, die weitergehende Informationen zu den Primärdaten enthalten (zB Eingangsdatum). Sachgerecht erscheint im Zusammenhang mit dem e-Akten-Begriff eine Anreicherung um funktionale Gesichtspunkte wie Aktenklarheit, Aktenwahrheit und Aktenvollständigkeit. Denn in einem Punkt sind Papier-Akte und e-Akte deckungsgleich – sie müssen den Grundsätzen einer ordnungsgemäßen Aktenführung gerecht werden. Die zuvor genannten Metadaten sind dabei Quelle neuer Rechtsprobleme. Metadaten sind maschinell auswertbar. Sie sind daher gerade bei großen Datenmengen eine wichtige Hilfe. Es kann aber durch die Analyse von Metadaten die Kontrolldichte bei richterlicher Tätigkeit erhöht werden.Abs. 6
Neue Fragen ergeben sich insoweit auch im Bereich der Akteneinsicht. So ist anerkannt, dass sich das Akteneinsichtsrecht zB nicht auf die individuellen Anmerkungen eines Richters in einer eAkte bezieht (sog. Komfortmerkmale).Abs. 7
Kapitel II der Dissertation befasst sich mit der Analyse der wesentlichen rechtlichen Normen, die für den ERV bzw. die e-Akte einschlägig sind, hier zusammenfassend eJustice-Normen genannt. Im Vordergrund der Arbeit steht die Frage nach Chancen und Problemen des zivilprozessualen eJustice-Konzepts. Aus diesem Ansatz ergibt sich das zentrale Kriterium für die Auswahl des rechtlichen Bezugsrahmens – die potentielle Relevanz für die Gesamtthematik. Die Darstellung orientiert sich dabei an Sinn- und Funktionseinheiten. So ist bereits in Kapitel I deutlich geworden, dass sinnvollerweise zwischen der Kommunikation von und zu den Gerichten und der elektronischen Aktenführung im engeren Sinn zu differenzieren ist. In diesem Zusammenhang wurde bereits § 130a ZPO erwähnt.Abs. 8
Gerade § 130a ZPO ist ein anschauliches Beispiel für den hier zugrunde gelegten Gedanken der Sinn- und Funktionseinheiten. Dies bedeutet: Eine Norm wie § 130a ZPO kann in unterschiedlichen Problemzusammenhängen unterschiedliche Relevanz erlangen. Einige Aspekte dazu sollen im Folgenden kurz angesprochen werden.Abs. 9
1. Ausweislich § 130a Abs. 1 ZPO können vorbereitende Schriftsätze und Anträge als elektronisches Dokument bei Gericht eingereicht werden. § 130a Abs. 1 ist damit nur als „Kann“-Vorschrift ausgestaltet. Berücksichtigt werden muss in diesem Zusammenhang allerdings die Ergänzungsnorm des § 130d ZPO. Danach besteht ab dem 01.01.2022 eine entsprechende elektronische Nutzungspflicht jedenfalls für Rechtsanwälte und Behörden.
2. § 130a Abs. 3 und 4 ZPO enthalten das Konzept der sicheren Übermittlungswege. Wichtigster Anwendungsfall ist dabei das in § 130a Abs. 4 Nr. 2 ZPO geregelte besondere elektronische Anwaltspostfach - beA. Sichere Übermittlungswege sind dadurch gekennzeichnet, dass bei ihrer Nutzung auf die qualifizierte elektronische Signatur verzichtet werden kann. Diese gilt bei den Nutzern als zeitintensiv. Bei geschätzten 230.000 anwaltlichen Schriftsätzen täglich bedeutet der Verzicht auf die qualifizierte elektronische Signatur daher ein erhebliches zeitliches Einsparungspotential.
3. § 130a Abs. 4 Nr. 4 ZPO ermöglicht sonstige bundeseinheitliche Übermittlungswege. Gewährleistet sein muss dabei unter anderem die Barrierefreiheit. Damit erweist sich die Barrierefreiheit gleichzeitig auch als ein zentrales Gestaltungsprinzip für den gesamten elektronischen Rechtsverkehr.
4. § 130a Abs. 3 ZPO betrifft auch Aspekte des Signaturrechts. Danach muss das eingereichte elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden. Damit werden in § 130a ZPO die engen Verbindungslinien zwischen zivilprozessualen Vorschriften und Fragen des Signaturrechts sichtbar. Deutlich wird dadurch auch, warum die seit dem 01.07.2016 geltende eIDAS-VO eine wichtige Rolle im Gesamtkonzept des ERV spielt. Die eIDAS-VO regelt unter anderem Voraussetzungen für elektronische Signaturen. Als Unionsrecht gilt die eIDAS-VO in allen Mitgliedsstaaten unmittelbar. Gleichzeitig ist jedoch anerkannt, dass die eIDAS-VO als europäische Verordnung deutsches Recht nicht aufheben kann. Sie hat im Konfliktfall – nur – Anwendungsvorrang. Daher muss im Einzelfall überprüft werden, ob mit Blick auf die eIDAS-VO das deutsche Recht noch anwendbar ist.
Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass die eIDAS-VO gem. Art 2 Abs. 2 nicht für geschlossene Benutzergruppen gilt. Dies ist eine Thematik, die besonders beim beA und beim gemeinsamen Fachverfahren zum Tragen kommt.Abs. 10
Neu gegenüber der bisherigen Rechtslage ist, dass das europäische Recht den Einsatz von elektronischen Siegeln ermöglicht. Ausweislich Art. 35 Abs. 2 eIDAS-VO gilt für ein qualifiziertes Siegel die Vermutung der Unversehrtheit der Daten und die Richtigkeit der Herkunftsdaten. Im Gegensatz zur elektronischen Signatur ist das elektronische Siegel einer juristischen Person oder einer Behörde zugeteilt. Dadurch kann zB nachgewiesen werden, dass ein bestimmtes Urteil von einem bestimmten Gericht stammt. So hatten die Standesämter bei einem familienrechtlichen Pilotprojekt des AG Olpe beanstandet, dass bei Scheidungsurteilen ein Nachweis über das Ausgangsgericht fehle. Diese Lücke könnte durch ein elektronisches Siegel geschlossen werden.Abs. 11
Außerdem hat das Signaturrecht auch Auswirkungen auf das Beweisrecht. Durch die eIDAS-VO haben sich Veränderungen im Beweisrecht ergeben. Das bisherige deutsche Sicherheitskonzept beim Einsatz von elektronischen Signaturen war geprägt durch das Prinzip „Besitz der Signaturkarte und Wissen um die Signatur-PIN“. Dieses Konzept ist durch die neue Möglichkeit einer Fernsignatur gemäß Art. 3 Nr. 11 in Verbindung mit Art. 26c eIDAS-VO aufgeweicht worden. Denn bei der Fernsignatur verzichtet der Signaturschlüsselinhaber durch die Übergabe der Signaturkarte an den Vertrauensdiensteleister auf die physische Verfügungsmöglichkeit. Insoweit haben sich die bisher tragenden Achsen im Gesamtgefüge von Signaturrecht und Beweisrecht verschoben.Abs. 12
In Kapitel III der Dissertation werden die Chancen bzw. Vorteile der flächendeckenden Einführung des eJustice-Konzepts näher erörtert. Zwar ist die gesetzgeberische Grundentscheidung für den ERV gefallen. Neue Konzepte bedürfen aber auch der grundsätzlichen Akzeptanz der Beteiligten. Dabei kann zwischen den Bereichen Gericht, Anwaltschaft und Bürger unterschieden werden. Gesichtspunkte, die von allen drei Bereichen zu Recht als Vorteil eingestuft werden, sind z.B.:Abs. 13
- Beschleunigung der BearbeitungAbs. 14
- Stärkung der Nutzerfreundlichkeit der GerichteAbs. 15
Soweit für die Justiz finanzielle Vorteile genannt werden, ist Zurückhaltung geboten. Mit Berlit ist darauf hinzuweisen, dass die Digitalisierung der Justiz jedenfalls in den nächsten Jahren zunächst ein Modernisierungs- und kein Sparprogramm darstellt.Abs. 16
In Kapitel IV werden technische, rechtliche und organisatorische Grundsatzprobleme anhand von acht Themenbereichen erörtert:Abs. 17
(1) Entwicklung einer praxistauglichen E-AkteAbs. 18
(2) Fragen eines dauerhaften MedienbruchsAbs. 19
(3) Fragen der elektronischen Archivierung und AussonderungAbs. 20
(4) Neue Abhängigkeit des Systems von funktionierenden NetzwerkenAbs. 21
(5) Rechtliche und technische Aspekte des DatenschutzesAbs. 22
(6) Zwang zur StandardisierungAbs. 23
(7) E-Akte und richterliche Unabhängigkeit in Zeiten der DigitalisierungAbs. 24
(8) Neue rechtliche Grundsatzprobleme bei technikorientierten NormenAbs. 25
Zu diesen Themenbereichen sollen exemplarisch einige Anmerkungen gemacht werden:Abs. 26
- Bei der Entwicklung einer praxistauglichen e-Akte geht es auch um die Berücksichtigung von ergonomischen Anforderungen.Abs. 27
- Probleme eines dauerhaften Medienbruchs werden mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG etwa in Verfahren ohne Anwaltszwang deutlich.Abs. 28
- Bei Fragen der elektronischen Archivierung und Aussonderung wird u.a. erörtert, dass im Justizbereich die Aufbewahrungsfristen teilweise bis zu 100 Jahren reichen, zum Beispiel bei Erbscheinen. Für diesen Zeitraum muss die Lesbarkeit der elektronischen Dokumente gewährleistet sein.Abs. 29
- Durch den Einsatz von qualifizierten elektronischen Signaturen können neue Herausforderungen für die Justiz entstehen. Bei qualifizierten elektronischen Signaturen werden kryptographische Verfahren eingesetzt. Diese können in Folge schnellerer Rechner und des wissenschaftlichen Fortschritts ihre Sicherheit verlieren. Die BSI – TR Kryptographische Verfahren: Empfehlungen und Schlüssellängen betont daher, dass Prognosen zur Sicherheit kryptographischer Verfahren über einen Zeitraum von 6-7 Jahren hinaus schwierig sind (Stand 2019). Dies hat zur Konsequenz, dass die qualifizierte elektronische Signatur in regelmäßigen zeitlichen Abständen nach dem jeweils neuesten Stand der Technik – etwa durch Übersignierung – erneuert werden muss.Abs. 30
- Beim Thema „Die neue Abhängigkeit des Systems von funktionierenden Netzwerken“ geht es unter anderem um IT-Sicherheit und digitale Angriffsszenarien.Abs. 31
- In Zusammenhang mit rechtlichen und technischen Aspekten des Datenschutzes interessiert die Frage, ob bzw. in welchem Umfang die DSGVO für die Justiz anwendbar ist. Die grundsätzliche Anwendbarkeit ergibt sich aus Erwägungsgrund 20 bzw. aus einem Umkehrschluss aus Art. 55 Abs. 3 DSGVO.Abs. 32
- Deutlich wird bei der näheren Analyse ein weiteres grundsätzliches Problem: IT-Einsatz in Organisationen bedeutet Zwang zur Standardisierung. Dies gilt auch für den Bereich der Gerichte. Durch den Einsatz bestimmter Berechnungsprogramme können jedoch inhaltliche Ergebnisse mitgeprägt werden.Abs. 33
- Daraus kann sich ein Spannungsverhältnis von individueller Verantwortung und organisatorischer Eingebundenheit des Richters ergeben. Daneben wird bei dem Problembereich „e-Akte und richterliche Unabhängigkeit in Zeiten der Digitalisierung“ thematisiert, dass digitale Arbeit typischerweise eine erhöhte Kontrolldichte bedeutet. Dieser Aspekt wird zum Beispiel bei der Speicherung von Justizdaten in justizfremden Clouds relevant. Insbesondere spielen die bereits anfangs erwähnten Metadaten eine wichtige Rolle. Über Metadaten kann zB der genaue Bearbeitungszeitpunkt und damit auch der genaue Bearbeitungszeitraum festgestellt werden.Abs. 34
In Kapitel V steht die Frage im Vordergrund, ob der Wechsel von der Papier-Akte zur e-Akte Auswirkungen auf die gewachsenen Strukturen des Zivilverfahrens hat. Diese Strukturen werden typischerweise durch die sogenannten Prozessgrundsätze oder Prozessmaximen abgebildet. Als ein derartiges Prozessprinzip wird für den Zivilprozess zum Beispiel die Dispositionsmaxime als Ausdruck der Privatautonomie genannt. Danach kann der Kläger u.a. selbst über den Beginn (§ 253 Abs. 1 ZPO) eines Verfahrens entscheiden.Abs. 35
Verfahrensgrundsätze haben eine methodische Signalfunktion. Neue Normen, die ihnen widersprechen, sollten auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gesamtsystem überprüft und ggf. verworfen werden.Abs. 36
Ein Ergebnis kann aber auch sein, dass die Prozessprinzipien ihrerseits modifiziert oder ergänzt werden müssen. Daher kann nicht überraschen, dass sich die zivilprozessuale Diskussion verstärkt mit Fragen der Prozessgrundsätze befasst. Insbesondere hat der bereits von Herberger betonte Gedanke, dass Formulare zentrale Steuerungselemente im ERV darstellen können, diese neuere Diskussion mitgeprägt. Gleiches gilt für den damit verbundenen Ansatz eines strukturierten Parteivortrags.Abs. 37
Berücksichtigt werden muss zwar der von Prütting hervorgehobene Ansatz: Auch in einem elektronisch geführten Zivilprozess müssen die verfassungsrechtlichen Garantien und tragenden Grundsätze gewahrt sein. Der konkrete Inhalt dieser Prozessgrundsätze kann sich aber durchaus ändern. Dies ist zum Beispiel beim Öffentlichkeitsgrundsatz geschehen. So gilt ab dem 01.01.2018 der neue § 128a ZPO flächendeckend. Danach kann das Gericht von Amts wegen eine Videokonferenz mit Parteien und/oder Prozessbevollmächtigen gestatten. Diese verstärkte Anwendung von Videokonferenzen kann mit Blick auf den Öffentlichkeitsgrundsatz, aber auch mit Blick auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz, zu weiteren Verschiebungen im Gesamtgefüge des Zivilverfahrensrechts führen.Abs. 38
Im abschließenden Kapitel VI wird die Ausgangsfrage „Ist das geltende Zivilverfahrensrecht auf die neuen digitalen Herausforderungen hinreichend vorbereitet?“ wieder aufgenommen. Auf Grundlage der zuvor skizzierten Überlegungen haben sich folgende Aspekte als zentral herausgestellt:Abs. 39
1. Im Rahmen der angestrebten elektronischen Aktenführung ist ein Medientransfer, das heißt eine Umwandlung von Papier-Dokumenten in elektronische Dokumente, weitestgehend zu vermeiden. Daher erweisen sich Normen des materiellen Rechts wie § 126 Abs. 3 BGB als Hindernis für ein geschlossenes digitales Konzept. Nach § 126 Abs. 3 BGB kann die schriftliche Form durch die elektronische Form ersetzt werden. Dies gilt aber nur dann, wenn sich aus dem Gesetz nichts anderes ergibt. Das Verbot einer elektronischen Form ist jedoch nach geltendem Recht in mehreren Normen enthalten. Dies gilt zum Beispiel bei der Kündigung eines Arbeitsverhältnisses gemäß § 623 BGB oder bei einem Schuldanerkenntnis gemäß § 781 BGB. Diese Normen zwingen zu einem dauerhaften Medienbruch. Daher sollte überprüft werden, ob in diesen Fällen das generelle Verbot einer elektronischen Form unter dem Aspekt eines effektiven eJustice-Konzepts wirklich sachgerecht ist.
2. Die Führung von Hybrid-Akten, also Akten mit Papier-Dokumenten und elektronischen Dokumenten, bedeutet einen ins Gewicht fallenden Mehraufwand. Dies zeigt sich zum Beispiel deutlich bei Fragen der Speicherung bzw. des damit verbundenen Akteneinsichtsrechts. Daher ist konzeptionell darauf zu achten, dass nach dem Scannen das Papier-Dokument vernichtet werden kann (sog. ersetzendes Scannen). Dies setzt aber voraus, dass der Beweiswert des gescannten Dokuments mit dem Beweiswert des Ausgangsdokuments übereinstimmt. Diese Beweiswertangleichung ist für gescannte öffentliche Urkunden in § 371b ZPO geregelt. Eine vergleichbare Norm für Privaturkunden fehlt jedoch.
3. Private können mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG in Verfahren ohne Anwaltszwang nicht zum ERV gezwungen werden. Aufgrund dessen lässt sich ein dauerhafter Medienbruch nicht vermeiden. Damit ist die Notwendigkeit eines Scan-Vorgangs bei führender e-Akte im System angelegt. Bereits daraus resultiert die zentrale Bedeutung des Scan-Konzepts.
Vor diesem Hintergrund befasst sich die Arbeit auch näher mit dem geltenden Scan-Konzept. Bei den Regeln über das Scannen handelt es sich um technikorientierte Normen. Technikorientierte Normen haben eine typische Eigenschaft: Sie können mit anerkannten juristischen Kategorien wie zum Beispiel dem Bestimmtheitsgrundsatz in Konflikt geraten. In diesem Zusammenhang sind insbesondere zwei Aspekte zu erwähnen:Abs. 40
(1) Recht soll auch in die Zukunft wirken. Technologische Entwicklungen lassen sich aber typischerweise nur schwer vorhersagen. Daher wird im juristischen Kontext oftmals die Formulierung „Stand der Technik“ als methodische und inhaltliche Gleitklausel benutzt. So wird aber der faktisch erreichte Zustand selbst zum bestimmenden Element. Es ist nicht mehr allein das Recht, das die inhaltlichen Vorgaben macht.Abs. 41
(2) Im Gesetz selbst finden sich bei technikorientierten Normen typischerweise nur allgemeine Gesichtspunkte. Dies gilt insbesondere auch für § 298a Abs. 2 ZPO als wesentliche Regelung für das Scannen. Danach sind Papier-Dokumente nach dem Stand der Technik in ein elektronisches Dokument zu übertragen. Dabei ist sicherzustellen, dass das neue elektronische Dokument mit dem Ausgangsdokument bildlich und inhaltlich übereinstimmt. Zu der zentralen Frage, wie dies genau durchgeführt werden soll, enthält § 298a Abs. 2 ZPO aber keine konkreten Hinweise. Typischerweise wird dafür auf die TR RESISCAN zurückgegriffen. Danach muss für alle zu scannenden Dokumente eine sorgfältig begründete Schutzbedarfsanalyse durchgeführt werden. Inhaltliche Bezugspunkte sind dabei IT-Sicherheits-Schutzziele wie Integrität, Vertraulichkeit und Verfügbarkeit. Damit soll dann die genaue Schutzbedarfsklasse - normal, hoch oder sehr hoch - bestimmt werden. Weitere Hinweise zur Einstufung des Schutzbedarfs bei Zivilakten finden sich auch im Anwendungshinweis R der RESISCAN. Dieses Konzept führt allerdings zu einem hohen Einordnungsaufwand. Der nahe liegende Gedanke, in allen Bereichen vom höchsten Schutzbedarf auszugehen, würde diesen Einordnungsaufwand zwar drastisch reduzieren. Dieser Ansatz hätte aber einige ins Gewicht fallende Nachteile:Abs. 42
- Bei Dokumenten mit einem Schutzbedarf von sehr hoch bzgl. der Integrität gilt das Vier-Augen-Prinzip.Abs. 43
- Bei einem Schutzbedarf von sehr hoch bzgl. der Verfügbarkeit soll eine vollständige Sichtkontrolle erfolgen. Bloße Stichprobenkontrollen der Scan-Vorgänge sind nicht erlaubt.Abs. 44
- Darüber hinaus muss bei einem Schutzbedarf von sehr hoch bzgl. der Verfügbarkeit vorab die Eignung der verwendeten Geräte getestet und das Prüfergebnis dokumentiert werden.Abs. 45
Dies rechtfertigt die Bewertung: Das zuvor skizzierte Scan-Konzept ist bei einer Vielzahl von Dokumenten nicht praxistauglich umsetzbar. Es stellt sich daher die Frage nach Alternativen. In diesem Zusammenhang wird zB das Konzept eines automatisierten Scan-Vorgangs mit entsprechenden Hochleistungsscannern diskutiert.Abs. 46

III.Zusammenfassung und Ausblick

Abs. 47
Als Ergebnis der zuvor skizzierten Analyse kann festgehalten werden:Abs. 48
1. Die Justiz kann sich der allgemeinen Digitalisierung der Gesellschaft nicht entziehen. Insoweit ist der Weg in eine digital geprägte Justiz vorgezeichnet. Diesem Aspekt hat der Gesetzgeber unter anderem mit dem eAkteG Rechnung getragen.
2. Die Frage von weiteren Änderungen des zivilprozessualen Verfahrenskonzepts hängt auch von künftigen Entwicklungen ab. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass auf Dauer das Verfahrenskonzept des elektronischen Rechtsverkehrs nicht nur Abbild der früheren papiernen Abläufe sein kann. So kennt das geltende Prozessrecht ausweislich § 130c ZPO zwar den Formularzwang. Dieser wurde bisher aber nur äußert begrenzt umgesetzt – etwa im Bereich der Prozesskostenhilfe oder im Mahnverfahren. Neuere prozessuale Vorschläge wie zB das Konzept eines strukturierten Parteivortrags haben demgegenüber eine weitergehende Zielsetzung: Über den Zwang zum strukturierten Vortrag soll letztlich der Weg für eine generelle maschinelle Bearbeitung geebnet werden. Zudem ist unter dem Stichwort Legal Tech allgemein an einen vermehrten Einsatz von Informationstechnik auch auf Richterebene zu denken. So wird etwa der Einsatz von Algorithmen bei der richterlichen Entscheidungsfindung diskutiert. In diesem Zusammenhang können sich neue Herausforderungen für das Zivilprozessrecht ergeben. Ein bereits deutlich gewordenes Problem liegt darin, dass automatisierte Entscheidungsvorschläge für den Richter teilweise nicht mehr nachvollziehbar sind. Dies kann die rechtsstaatlich unterfütterte Begründungspflicht von Gerichten in Frage stellen. Aktuell wird diese Problematik verstärkt unter dem Stichwort der notwendigen Algorithmentransparenz diskutiert.
3. Deutlich geworden ist in der Analyse auch, dass der elektronische Rechtsverkehr und die elektronischen Akten auch von funktionierenden und sicheren technischen Systemen abhängig sind. Allgemein erhalten dadurch zB Aspekte der IT-Sicherheit bzw. des Datenschutzes einen Stellenwert, der so im System der Papierakte nicht angelegt war.
Die zentrale Frage, ob das geltende Zivilverfahrensrecht hinreichend auf die digitalen Herausforderungen vorbereitet ist, kann daher angesichts der zuvor skizzierten neuen Entwicklungen – noch – nicht abschließend beantwortet werden. Die gesetzliche Grundlage für einen elektronischen Rechtsverkehr ist gelegt. Ob die rechtlichen und technischen Rahmenbedingungen im erforderlichen Maß geschaffen worden sind, wird sich erst ab 01.01.2026 zeigen. Dann ist die elektronische Führung von neu angelegten Zivilprozessakten flächendeckend zwingend (vgl. § 298a Abs. 1a S. 1, 3 ZPO).Abs. 49

Fußnoten:

[*] Frau Dr. iur. Stephanie Vogelgesang, LL.M., ist Geschäftsführerin des Saarbrücker Zentrums für Recht und Digitalisierung und Gesellschafterin der Defendo IT GmbH. Daneben ist sie Lehrbeauftragte an der Universität des Saarlandes (Fachbereiche Rechtswissenschaften und Informatik) sowie an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer, zudem kooptiertes Vorstandsmitglied des Deutschen EDV-Gerichtstags. Der folgende Beitrag beruht in den zentralen Aussagen auf dem Promotionsvortrag, den die Verfasserin am 29.10.2019 im Rahmen der Disputation an der Universität des Saarlandes gehalten hat. Die Dissertation ist im Alma Mater Verlag Saarbrücken erschienen. Sie wurde mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen beim besonderen Anwaltspostfach (beA) bis zum Stand Ende 2019 ergänzt.
[1] So die zentrale Fragestellung bei Weth, jM 2016, 353.
[2] Im folgenden Beitrag wird mit Blick auf die veröffentlichte Dissertation auf weitere Literatur- bzw. Rechtsprechungsnachweise verzichtet.

[online seit: 10.08.2021]
Zitiervorschlag: Autor, Titel, JurPC Web-Dok, Abs.
Zitiervorschlag: Vogelgesang, Stephanie, Der elektronische Rechtsverkehr, die elektronische Akte und das Zivilverfahrensrecht - Probleme und Chancen - JurPC-Web-Dok. 0110/2021