JurPC Web-Dok. 151/2007 - DOI 10.7328/jurpcb/2007229142

Susanne Hähnchen  *

Einführung: Was ist "Elektronischer Rechtsverkehr"? (Kapitel 1)

Buchauszug aus Susanne Hähnchen, "Elektronischer Rechtsverkehr"

JurPC Web-Dok. 151/2007, Abs. 1 - 22


I n h a l t s ü b e r s i c h t
I.   Begriffliches: Worum es (nicht) geht
II.   Die Anfänge
III.   Die Beteiligten
IV.   Was ist ERV heute nun eigentlich genau?
L   L i t e r a t u r   für den allgemeinen Überblick

I. Begriffliches: Worum es (nicht) geht

Hinter dem sperrigen Begriff des Elektronischen Rechtsverkehrs (ERV, auch eJustiz oder international kompatibler "E-Justice") verbergen sich verschiedenste Themen aus der Praxis, die mit dem Einsatz moderner Technik in der Rechtspflege zusammenhängen. Dazu gehören Auskunftsformen wie das elektronische Grundbuch aber auch aktive Kommunikation wie die Einreichung von Klagen und Anträgen per E-Mail und die elektronische Aktenbearbeitung. Projekte wie in China, wo man Computer mit Informationen fütterte und Urteile vorschlagen ließ, sind bisher in Deutschland - zum Glück - noch nicht in Sicht(1). JurPC Web-Dok.
151/2007,  Abs. 1
Nicht zum ERV rechnen nach überwiegender Ansicht der elektronische Geschäftsverkehrs ("E-Commerce" oder "eCommerce")(2), der die herkömmlichen zivilrechtlichen Probleme in neuem Gewande behandelt, und das Internet- und Telekommunikationsrecht. Abs. 2
"E-Government" (oder "eGovernment") scheint ein passendes Stichwort zu sein. Jedoch hat dieser Ausdruck zwei verschiedene Bedeutungen. Zum einen wird damit eine öffentliche Verwaltung bezeichnet, die elektronische Auskunfts- und Antragsformen zur Verfügung stellt, sowie Bescheide auf diesem Wege erlässt und zustellt (genauer: "E-Administration"). Zum anderen wird "E-Government" auch als Oberbegriff für moderne Kommunikationsformen in Legislative, Exekutive und Judikative verwendet. In dieser zweiten Bedeutung wird "E-Government" auch mit ERV gleichgesetzt(3). Wegen der Doppelbegrifflichkeit und Ungenauigkeit ist der Ausdruck jedoch weniger geeignet(4) als die enger gefasste Bezeichnung ERV. Im Folgenden wird also ERV beibehalten und im Übrigen versucht, weitestgehend auf die in Gänsefüßchen gesetzten Anglizismen zu verzichten. Abs. 3

II. Die Anfänge

Neben der allgemeinen elektronischen Datenverarbeitung (EDV), zunächst vor allem für Kanzleien und Geschäftsstellen, begann man seit den 1970er Jahren, die Technik für Juristen einzusetzen(5). Während vorher überwiegend Textverarbeitung und Tabellenkalkulationen genutzt wurden, versuchte man allmählich, auch speziell juristische Arbeiten zu erleichtern. Abs. 4
Die ersten Erfolge wurden bei der automatisierten Massenverarbeitung bei Mahnverfahren (vgl. §§ 690 Abs. 3, 696 Abs. 2, 703 b, 703c ZPO) und im Registerwesen (Grundbuch, Handelsregister) erzielt. Daneben entwickelte man justizinterne Datenbanken, wie z.B. die der Berliner Staats- und Amtsanwaltschaft (ASTA) oder das elektronische Bundeszentralregister (BZR). Die wohl bekannteste juristische Auskunftsdatenbank 'juris' wurde zunächst als Informationssystem des Bundesverfassungsgerichtes und der obersten Gerichtshöfe aufgebaut und wird seit inzwischen über 20 Jahren als GmbH betrieben. 'Juris' ist heute Marktführer im lukrativen Geschäft rund um Auskunftsdienste für professionelle Informationssuchende im juristischen Bereich. Abs. 5

III. Die Beteiligten

Viele Vorgaben für neue rechtliche Entwicklungen kommen - auch beim ERV - heute von der Europäischen Union. Dazu bei den einzelnen Themen Näheres. Die Bemühungen, den ERV voranzutreiben, gehen deshalb ganz überwiegend von staatlicher Seite aus. Auch die Notarkammern beteiligen sich schon länger aktiv an der Entwicklung (Kapitel 12, I.). Abs. 6
Rechtsanwälten und ihren Standesvertretern wird hingegen oft mangelnde Mitarbeit vorgehalten - offenbar ist es noch nicht gelungen, sie von einem Überwiegen der Vorteile gegenüber den Problemen der Umstellung zu überzeugen. Abs. 7
Die Justiz ist in Deutschland bekanntlich Ländersache, was zu einigen Reibungen führen kann. Um die Nachteile des Föderalismus auszugleichen, wurde bereits Ende der 60er Jahre die Bund-Länder-Kommission für Datenverarbeitung und Rationalisierung in der Justiz(6) (BLK) gegründet. Auch die Gemeinsame Kommission elektronischer Rechtsverkehr, u.a. mit Vertretern des EDV-Gerichtstages, der Anwaltschaft, der Justizverwaltungen, begleitet die Entscheidungen der Bundes- und Landesgesetzgeber sowie die laufenden und geplanten Pilotprojekte. Das Ziel der "offiziellen" Beteiligten am ERV ist die Annäherung der Rechtspflege an die gegenwärtigen technischen Möglichkeiten der Informationstechnologie (IT) durch Gesetzesänderungen (Kapitel 2), Investitionen und Überprüfung derzeitiger Verfahrensabläufe. Der Justiz soll die Erfüllung ihrer Aufgaben erleichtert werden. Abs. 8
Mögliche in der Praxis Beteiligte und damit von den Entwicklungen mindestens mittelbar Betroffene sind zunächst alle, die in Rechtsprechung und Rechtspflege tätig sind oder dies anstreben. Ob an Gerichten, in Kanzleien von Rechtsanwälten, Notaren, Steuerberatern, in Verwaltungen und Behörden, auch in der Staatsanwaltschaft - überall gibt es den einfachen oder fortgeschrittenen Einsatz der moderne Kommunikationstechnik. Daneben können aber auch private Rechtssuchende und Zeugen die Möglichkeiten des ERV nutzen. Abs. 9
Es besteht theoretisch kein Benutzungszwang. Diesen für Rechtsanwälte einzuführen wurde und wird aber diskutiert und teilweise schon vollzogen(7), da man an der deutlich schnelleren Entwicklung in Österreich(8) sieht, dass dies die notwendigen Investitionen zielführender lenken kann. Dagegen gibt es aber auch erhebliche, verfassungsrechtliche Bedenken. Abs. 10
Ein Bürger kann (weiter) persönlich zur Rechtsantragsstelle gehen oder seine Klageschrift ins Gericht bringen. Er kann manches aber heute auch per E-Mail erledigen, vorausgesetzt er verfügt über eine persönliche elektronische Signatur. Abs. 11
Etwas problematischer ist es schon jetzt für die Justizbediensteten. Diese können sich trotz gelegentlicher Wünsche nicht so leicht dem ERV entziehen, wie (noch) die Rechtsanwälte. In der Richterschaft kursiert beispielsweise die Vermutung, dass auf Kosten der Richter Schreibkräfte eingespart werden sollen. Ob dies wirklich eine Ersparnis ist, erscheint sehr wohl fragwürdig. Schreibkräfte sind gegenüber Richtern deutlich billigere Arbeitskräfte. Es wäre zu kurz gegriffen, gegen dieses ökonomische Argument in sozialen Kategorien zu argumentieren. Genau dies geschieht aber, wenn die BLK "Statusdenken und tradierte Aufgabenzuweisungen zugunsten von 'visionären' Ansätzen" aufgeben möchte. Zwar ist dies ein berechtigtes Ziel, aber eben als Argument von eher zweifelhafter Schlagkraft. Abs. 12
Gelegentlich wird sogar die richterliche Unabhängigkeit bemüht, um sich der fortschreitenden "Elektrifizierung"(9) zu verweigern. Die an Rationalisierung interessierte Seite argumentiert, es gäbe keinen Anspruch auf ein bestimmtes "Format", also insbesondere nicht auf Papier. Gelegentlich wird als argumentum ad absurdum eingeworfen, ein Richter könne ja auch nicht erfolgreich nach Tontäfelchen verlangen(10). Abs. 13
Diese Debatte erscheint vielleicht aus der Sicht der jüngeren, an Computer gewöhnten Juristengeneration etwas antiquiert. Man sollte aber die dahinter stehenden Vorbehalte in der Richterschaft, die ja auch vielen Anwälten nicht fremd sind, ernst nehmen und die Gründe für den ERV und seine Vorzüge überzeugend diskutieren, ohne dabei Probleme zu verschweigen. Abs. 14

IV. Was ist ERV heute nun eigentlich genau?

Elektronischer Rechtsverkehr ist nach der Definition der ERV-Kommission die rechtsverbindliche elektronische Kommunikation zwischen Verfahrensbeteiligten und den Gerichten(11). Abs. 15
Beim ERV im engeren Sinne geht es insbesondere um die Einreichung von Klagen und anderen prozessualen Erklärungen, sowie um die Übermittlung gerichtlicher Entscheidungen und Nachrichten. Außerdem ist davon die gerichtsinterne Sachbearbeitung, insbesondere die Aktenführung sowie die Archivierung umfasst. Alles das wird im Folgenden näher behandelt. Abs. 16
Zum ERV in einem viel weiteren Sinne gehören aber auch Online-Auskunftssysteme wie das elektronische Grundbuch (Kapitel 9) oder Antragsstellungen wie bei dem Projekt Elektronische Steuererklärung (ELSTER), mit dem sogenannten ElsterFormular (Kapitel 4 unter III.1.). Abs. 17
Allgemeine (technische) Fortschritte spiegeln sich (früher oder später) immer auch in der Rechtspflege. Das Problem des ERV ist aber derzeit, dass er noch nicht wirklich funktioniert und dass sich die Beteiligten manchmal recht feindlich gegenüber stehen. Abs. 18
Es dürfte sinnvoll sein, zunächst in einfachere Formen des ERV zu investieren, um Erfahrungen zu sammeln. Außerdem sollten die bestehenden Möglichkeiten für diejenigen "Justiznutzer" vernünftig kommuniziert werden, die noch nicht aktiv am ERV teilnehmen, um sie in die Entwicklung einzubeziehen, was als unerlässlich für den Erfolg des ERV erscheint. Abs. 19
Da gerade die einfacheren Anwendungen (meist ohne Signatur) bisher auch deutlich besser genutzt werden, als der ERV im engeren Sinne, wird hier ein weiter Rahmen gezogen. Abs. 20
Beispielsweise wird bei der Steuererklärung das im Internet auf den Homepages aller teilnehmenden Finanzämter frei verfügbare ElsterFormular häufig immer noch ausgedruckt und als Papier verschickt. Wird das Formular aber online abgeschickt, kann es in der Verwaltung vorsortiert an die einzelnen Sachbearbeiter in den Arbeitsfluss integriert werden. Das erspart den Finanzämtern die bisher personalintensive und fehleranfällige manuelle Datenerfassung. Nicht zuletzt erhält der Steuerpflichtige seinen Bescheid erheblich schneller als vom Papierberg. Wie sinnvoll es ist, etwas weiter auszuholen, zeigt der Umstand, dass die Steuergerichtsbarkeit wohl nicht zufällig führend im ERV im eigentlichen Sinne ist. Abs. 21
Was dieses Beispiel noch zeigen kann: ERV muss sich für alle Beteiligten lohnen. Und sie müssen dies wissen.
JurPC Web-Dok.
151/2007,  Abs. 22

Fußnoten:

(1) Die Meldung unter www.WinFuture.de/news,27464.html.
(2) Andere Begriffsverwendung aber beispielsweise bei Sudermann, Schöne (?) neue Welt: die elektronische Akte, in: DRiZ 2001, S. 291.
(3) Häfner, eGovernment in der Justiz ..., in: DRiZ 2005, S. 151 ff.
(4) Kritisch auch Köbler, eJustice: ..., in: NJW 2006, S. 2089 f.
(5) Weiter zurück in der allgemeinen technischen Entwicklung geht Haft, Das Normfall Buch. Informationstechnologie in der Anwaltskanzlei (2005) S. 31 ff. der 1849 bei der Einführung des Telegraphenwesens anfängt - sehr interessant, aber nur bei grundsätzlichem, technikhistorischem Interesse zu empfehlen.
(6) Informationen unter www.justiz.de/BLK/index.php.
(7) Etwa bei Mahnverfahren, dazu Kapitel 10 II. Genauer zum Verhältnis der Rechtsanwälte zum ERV s.u., Kapitel 11.
(8) Allgemein vergleichend zur Entwicklung im Ausland s.u., Kapitel 14.
(9) Fragwürdiger, wiederholt von Fischer gebrauchter Terminus, der auf die Formel Lenins "Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes" anspielt.
(10) Gegen die Sorge "unangemessener Ökonomisierung" und vor Überwachung und Kontrolle auch Huff, der Rechtsstaat braucht eine moderne Justiz, in: DRiZ 2002, S. 7.
(11)
www.edvgt.de/pages/gemeinsame-kommission-elektronischer-rechtsverkehr.php.
Literatur für den allgemeinen Überblick:

Fischer, Justiz-Kommunikation, 2004
Groß/Herrmann (Hrsg.) Die Zukunft des elektronischen Rechtsverkehrs. Anwaltschaft und Justiz an der Schwelle zum Informationszeitalter, 2006
Guise-Rübe, Die Bedeutung und die Chancen des elektronischen Rechtsverkehrs als Teil der Jusitzautomation, JurPC Web-Dok. 103/2005 (www.jurpc.de/aufsatz/20050103.htm )
Häfner, eGovernment in der Justiz - Sachstand und Ausblick, in: DRiZ 2005, S. 151 ff.
Hendel, Der moderne Zivilprozess zwischen Mensch und Maschine - elektronische Akte, summarisches Verfahren und langfristige Reform des Zivilprozesses, JurPC Web-Dok. 68/2002 (www.jurpc.de/aufsatz/20020068.htm)
Hoeren (Hrsg.) Handbuch Multimedia-Recht. Rechtsfragen des elektronischen Geschäftsverkehrs, Loseblattsammlung, 1999 ff. (Ergänzungslieferungen)
Köbler, eJustice: Vom langen Weg in die digitale Zukunft der Justiz, in: NJW 2006, S. 2089 ff.
Lapp, Elektronischer Rechtsverkehr - auf dem Weg zur Justiz von morgen, in: BRAK-Mitt. 1/2004, S. 17 f. (www.brak-mitteilungen.de/media/brakmitt_2004_01.pdf)
Mardorf, Der elektronische Rechtsverkehr aus Sicht der Justiz - ein Überblick, in: Groß/Herrmann (s.o.), S. 45 ff. - eine Kurzfassung davon in: Schleswig-Holsteinische Anzeigen, Heft 2/2006, S. 33 ff. [bietet Sachstandsbericht bisheriger Pilotprojekte]
Scherf/Schmiezek/Viefhues, Elektronischer Rechtsverkehr. Kommentar und Lehrbuch, 2005
Schwoerer, Die elektronische Justiz, 2005
Skrobotz, Das elektronische Verwaltungsverfahren. Die elektronische Signatur im E-Government, 2005
Für die Zurverfügungstellung dieses Buchauszuges dankt JurPC der Autorin und dem Verlag ganz herzlich. JurPC hat neben diesem Auszug auch eine Rezension des Buches veröffentlicht, die unter http://www.jurpc.de/aufsatz/20070150.htm zu finden ist.
* Dr. Susanne Hähnchen ist Privat-Dozentin und hat sich am Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin mit einer zivilrechtsdogmatischen Arbeit zu "Obliegenheiten und Nebenpflichten - Eine Untersuchung besonderer Verhaltensanforderungen im VVG, BGB und HGB." habilitiert.
[ online seit: 18.09.2007 ]
Zitiervorschlag: Autor, Titel, JurPC Web-Dok., Abs.
Zitiervorschlag: Hähnchen, Susanne, Einführung: Was ist "Elektronischer Rechtsverkehr"? (Kapitel 1) - Buchauszug aus Susanne Hähnchen, "Elektronischer Rechtsverkehr" - JurPC-Web-Dok. 0151/2007