JurPC Web-Dok. 38/2023 - DOI 10.7328/jurpcb202338338

VG Karlsruhe

Beschluss vom 21.02.2023

A 19 K 304/23

Beweiskraft einer eingescannten Postzustellungsurkunde

JurPC Web-Dok. 38/2023, Abs. 1 - 45


Leitsätze:

1. Eine Verletzung der aus dem Rechtsstaatsprinzip folgender Gebote ordnungsgemäßer Aktenführung (insbes. Aktenverständlichkeit, Aktenwahrheit, Aktenvollständigkeit und Aktenbeständigkeit) rechtfertigt für sich allein nicht, eine materiell-rechtlich nicht gebotene bzw. gerechtfertigte Entscheidung zu treffen. Wird das Original einer Postzustellungsurkunde nachträglich vorgelegt, ist dieses auch dann beachtlich, wenn sich in der vorgelegten elektronischen Akte kein Hinweis darauf findet, dass es sich um eine hybride Akte handelt und auch Papierdokumente Bestandteil der vollständigen Akten sind.

2. Auf das elektronische Dokument „Scan einer Postzustellungsurkunde“ finden die §§ 415, 418 ZPO nur dann aufgrund der Anordnung des § 371b ZPO entsprechend Anwendung, wenn der Scan nach dem Stand der Technik erfolgt ist und eine Bestätigung vorliegt, dass das elektronische Dokument mit der Urschrift bildlich und inhaltlich übereinstimmt. Den derzeit (Februar 2023) vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Asylverfahren vorgelegten elektronischen Akten lassen sich diese Umstände – Scan nach dem Stand der Technik, Bestätigung der Übereinstimmung – nicht entnehmen, so dass die Anwendung von § 371b ZPO regelmäßig ausgeschlossen ist.

3. Es stellt eine offene Tatsachenfrage dar, ob für Personen, die im Dublin-Verfahren nach Kroatien überstellt werden, die tatsächliche Gefahr eines Pushbacks unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 2 GRCh nach Serbien oder Bosnien-Herzegowina besteht.

Gründe:

Der sachdienlich gefasste Antrag,Abs. 1
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung aus dem Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 17.01.2023 anzuordnen,Abs. 2
ist zulässig (I.) und begründet (II.).Abs. 3
I. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die gegen den Kläger verfügte Anordnung der Abschiebung nach Kroatien ist zulässig. Insbesondere ist er fristgerecht gestellt.Abs. 4
Ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen eine Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylG ist gemäß der Regelung in § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Diese Frist hat der Antragsteller zur Überzeugung des Gerichts mit seinem Antrag vom 26.01.2023 gewahrt, da ihm der Bescheid am 19.01.2023 bekanntgegeben worden ist.Abs. 5
1. In tatsächlicher Hinsicht lässt sich zwischenzeitlich zur Überzeugung des Gerichts folgendes feststellen.Abs. 6
a) Ausweislich des Bildscans der Postzustellungsurkunde, den die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 03.02.2023 vorlegte, soll sich das Originaldokument auf einen „Bescheid vom 17.01.23“ beziehen. Es ist dahingehend ausgefüllt, dass das Schriftstück durch Herrn R.K. in seiner Eigenschaft als Postbediensteter, übergeben worden sei und zwar unter der Zustellanschrift, weil er den Adressaten in der Gemeinschaftseinrichtung nicht erreich habe, einem zum Empfang ermächtigten Vertreter, Frau J.K. Dies sei am 17.01.2023 geschehen.Abs. 7
b) Entgegen eines ursprünglichen Vortrags der Antragsgegnerin hat diese nunmehr – im Klageverfahren A 19 K XXX – klargestellt, dass die Postzustellungsurkunde von der Antragsgegnerin selbst – Fachreferat Dublin Verfahren – eingescannt worden ist; das Original existiert noch und ist dem Gericht am 16.02.2023 vorgelegt worden. Das angegebene Datum des Bescheids entspricht nach dem Vortrag der Antragsgegnerin dem der Erstellung. Der Bescheid ist damit zur vollen Überzeugung des Gerichts am 17.01.2023 erstellt und versendet worden.Abs. 8
2. In rechtlicher Hinsicht führt der vorgelegte Scan der Postzustellungsurkunde nicht dazu, dass der Beweis des beurkundeten Vorgangs erbracht wäre und damit also nicht dazu, dass in einem ersten Schritt die Zustellung am 17.01.2023 bewiesen wäre.Abs. 9
a) Auf die Bilddatei – den vorgelegten Scan der Zustellungsurkunde – finden die §§ 415, 418 Abs. 1 ZPO, die über § 98 VwGO im Verwaltungsprozess entsprechend anzuwenden sind, keine unmittelbare, entsprechende Anwendung. Denn für die Beweiskraft gescannter öffentlicher Urkunden – hier der Postzustellungsurkunde – findet sich in dem ebenfalls über § 98 VwGO anzuwenden §º371b ZPO eine Sonderregelung. Nach Satz 1 dieser Vorschrift finden auf das elektronische Dokument die Vorschriften über die Beweiskraft öffentlicher Urkunden – also die §§ 415 ff. ZPO – dann entsprechende Anwendung, wenn eine öffentliche Urkunde nach dem Stand der Technik von einer öffentlichen Behörde oder von einer mit öffentlichem Glauben versehenen Person in ein elektronisches Dokument übertragen wird und die Bestätigung vorliegt, dass das elektronische Dokument mit der Urschrift bildlich und inhaltlich übereinstimmt.Abs. 10
b) Der von der Antragsgegnerin vorgelegten elektronischen Verwaltungsakte, zu der der Scan der Postzustellungsurkunde mit Schriftsatz vom 03.02.2023 entsprechend der Erklärung aus dem Schriftsatz vom 07.02.2022 nachgereicht ist, lassen sich die Voraussetzungen des § 371b ZPO – Scan nach dem Stand der Technik sowie die Bestätigung der bildlichen und inhaltlichen Übereinstimmung von elektronischem Dokument und Urschrift – nicht entnehmen.Abs. 11
aa) Soweit Verfahrensakten - wie hier - elektronisch geführt werden, gelten dieselben rechtsstaatlichen Anforderungen wie an analog – in Papierform - geführte Akten. Die Behörden sind verpflichtet, den bisherigen wesentlichen sachbezogenen Geschehensablauf objektiv, vollständig, nachvollziehbar und wahrheitsgemäß zu dokumentieren. Diese Pflicht dient der Sicherung gesetzmäßigen Verwaltungshandelns und folgt aus der Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz und der aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Pflicht zur Objektivität (BVerfG, Beschlüsse vom 14.07.2016 – 2 BvR 2474/14 – StV 2017, 361 Rn. 19 vom 06.06.1983 – 2 BvR 244, 310/83 – NJW 1983, 2135). Die Dokumentation soll den Geschehensablauf so, wie er sich ereignet hat, in jeder Hinsicht nachprüfbar festhalten. Sie soll hierbei nicht lediglich den Interessen der Beteiligten oder der entscheidenden Behörde dienen, sondern auch die Grundlage für die kontinuierliche Wahrnehmung der Rechts- und Fachaufsicht und für die parlamentarische Kontrolle des Verwaltungshandelns bilden. Damit wirkt die Pflicht zur wahrheitsgetreuen und vollständigen Aktenführung zugleich auch präventiv insofern auf das Verwaltungshandeln ein, als sie die Motivation zu allseits rechtmäßigem Verwaltungshandeln stärkt (BVerwG, Beschluss vom 16.03.1988 – 1 B 153.87 – NVwZ 1988, 621 (622)). Der Pflicht zur Aktenführung entsprechend des Gebots der Aktenwahrheit, Aktenklarheit und Aktenvollständigkeit kommt zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes auch eine subjektiv-rechtliche Komponente zu (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12.07.2018 – 2 S 143/18 – VBlBW 2019, 16). Durch den Einsatz geeigneter technischer Anwendungen und flankierender organisatorischer Regelungen ist sicherzustellen, dass auch eine elektronisch geführte Verwaltungsakte den genannten Anforderungen entspricht (VG Freiburg, Beschluss 07.12.2022 – 3 K 2295/22 – juris Rn. 20).Abs. 12
Unionsrechtlich gilt es zu beachten, dass es – abgeleitet aus den Verteidigungsrechten einschließlich des Rechts auf Akteneinsicht – zwar nicht Sache allein der Behörde, die die beschwerende Entscheidung erlassen hat, sein kann, die für die Verteidigung der betreffenden Person nützlichen Schriftstücke zu bestimmen, die in die Akten aufzunehmen sind; sie darf jedoch die Bestandteile ausschließen, die in keinem Zusammenhang mit den diese Entscheidung tragenden tatsächlichen und rechtlichen Aspekten stehen und folglich für die Entscheidung nicht erheblich sind (EuGH, Urteil vom 01.12.2022 – C-564/21 – juris Rn. 39 f. <BU>).Abs. 13
Entscheidet sich eine Verwaltung, ihre Vorgänge elektronisch zu führen, ist dieses oder sind diese zusammengefassten elektronischen Dokumente die nach § 29 VwVfG vorausgesetzte Akte, die nach § 99 VwGO dem Gericht vorzulegen ist – und zwar auch dann, wenn sie unvollständig oder sonst nicht ordnungsgemäß sein sollte. Diese Akten bilden die nach Maßgabe aus dem Amtsermittlungsgrundsatz folgender Aufklärungsbemühungen auch eine für das Gericht wesentliche Entscheidungsgrundlage, ohne dass der Amtsermittlungsgrundsatz seine Bedeutung verlieren würde. In bestehenbleibenden Zweifelsfällen ist nach Maßgabe der materiellen Darlegungslast zu entscheiden. Eine Verletzung der – nicht zuletzt – aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Gebote ordnungsgemäßer Aktenführung (insbes. Aktenverständlichkeit, Aktenwahrheit, Aktenvollständigkeit und Aktenbeständigkeit) rechtfertigt für sich allein nicht, eine materiell-rechtlich nicht gebotene bzw. gerechtfertigte Entscheidung zu treffen (Berlit, NVwZ 2015, 197 f.).Abs. 14
bb) Ausgehend von diesen Vorgaben zur Aktenführung und Darlegungslast ist zunächst festzustellen, dass auf den vorgelegten Scan der Postzustellungsurkunde als elektronisches Dokument nicht die Vorschriften über die Beweiskraft öffentlicher Urkunden nach § 371b Satz 1 ZPO, § 98 VwGO Anwendung finden. Denn es ist den vorgelegten Akten und nachgereichten Aktenbestandteilen nicht zu entnehmen, dass die Postzustellungsurkunde, die eine öffentliche Urkunde nach §§ 371b Satz 1, 415 ZPO ist, nach dem Stand der Technik gescannt worden ist. Mit dem Stand der Technik bezieht sich die Vorschrift in erster Linie auf die Beachtung der Technischen Richtlinie Rechtssicheres Scannens (TR-RESISCAN) (Ortner, in: Hoeren/Sieber/Holznagel, Handbuch Multimedia-Recht, Stand: Oktober 2020, Teil 13.2 Rn. 41). Abweichende Scanverfahren können ebenfalls dem Stand der Technik entsprechen (Bach, in: BeckOK ZPO Stand: 01.12.2022, § 371b ZPO Rn. 12); doch auch zu einem etwaigen abweichenden Verfahren lässt sich den vorgelegten Akten nichts entnehmen. Ebenso wenig ist den Akten eine Bestätigung zu entnehmen, dass das elektronische Dokument mit der Urschrift bildlich und inhaltlich übereinstimmt, wie dies in § 371b ZPO gefordert wird. Dem Einzelrichter sind keine durch das Bundesamt an Gerichte vorgelegten Akten bekannt, aus denen sich in Bezug auf Zustellungsurkunden solche Angaben finden würden. Auch außerhalb der vorgelegten Akten lässt sich diesbezüglich nichts entnehmen. Die Erklärung im Schriftsatz vom 07.02.2023, wonach die Antragsgegnerin davon ausgehe, dass die (Postzustellungs-)Urkunde im Sinne des § 371b ZPO in ein elektronisches Dokument übertragen worden sei, bietet dafür jedenfalls keinen relevanten Anhaltspunkt.Abs. 15
3. a) Mit dem Original der Postzustellungsurkunde zum Bescheid vom 17.01.2023 ist nach § 418 Abs. 1 ZPO, § 98 VwGO – in einem ersten Schritt – grundsätzlich der volle Beweis dafür erbracht, dass dieser Bescheid am 17.01.2023 übergeben worden ist und zwar durch den Postbediensteten R.K. unter der Zustellanschrift, weil er den Adressaten in der Gemeinschaftseinrichtung nicht erreicht hat, einem zum Empfang ermächtigten Vertreter, Frau J.K.Abs. 16
aa) Dieser volle Beweis ist nach den oben unter I. 2. ausgeführten Anforderungen nicht dadurch ausgeschlossen, dass sich in der von der Antragsgegnerin als vollständigen Akte bezeichneten, vorgelegten elektronischen Akte im pdf-Format kein Hinweis auf bestehende weitere Bestandteile der dann tatsächlich hybrid geführten Akte findet. Denn weder führt eine den rechtsstaatlichen Anforderungen nicht gerecht werdende Aktenführung – der gravierende Mangel liegt hier in der fehlenden Erkennbarkeit von weiter in Papier geführten Aktenbestandteilen im elektronischen Teil der Akte – noch die Nichtbeachtung der aus § 99 Abs. 1 VwGO folgenden Verpflichtung zur Vorlage der vom Gericht angeforderten „vollständigen und nummerierten Originalakten - einschließlich Zustellungsnachweisen“ zu einer fehlenden Beweisrelevanz der Urkunde, wenn sie dann – wie hier – nachträglich vorgelegt wird. Diese fehlende Beeinflussung der materiellen Rechtslage durch die Art der Aktenführung gilt auch dann, wenn aus dem Vortrag der Antragsgegnerin nicht vollständig eindeutig hervorgeht, ob sie die Urkunde überhaupt als Aktenbestandteil auffasst und sich bewusst ist, dass sie insoweit eine hybride Akte führt, die weder allein in der elektronischen Fassung noch allein in einer Papierfassung vollständig sein können (zur Hybridakte: Berlit, NVwZ 2015, 197 (198)).Abs. 17
bb) Damit ist mit der den Vorgaben des § 182 Abs. 2 ZPO entsprechenden Zustellungsurkunde – in einem ersten Schritt – bewiesen, dass der Bescheid vom 17.01.2023 am selben Tag zugestellt worden ist.Abs. 18
Die in § 31 Abs. 1 Satz 3 AsylG vorgeschriebene Zustellung des Bescheids richtet sich nach dem Verwaltungszustellungsgesetz des Bundes, § 1 Abs. 1 VwZG. Bei einer Zustellung durch die Post mit Zustellungsurkunde gelten für die Ausführung der Zustellung die §§ 177 bis 182 der Zivilprozessordnung entsprechend, § 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG. § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO enthält eine Regelung über die Ersatzzustellung in Einrichtungen. Wird die Person, der zugestellt werden soll, in einer Gemeinschaftseinrichtung, in der sie wohnt, nicht angetroffen, kann das Schriftstück dem Leiter der Einrichtung oder einem dazu ermächtigten Vertreter zugestellt werden. Dass letzteres hier erfolgt ist, wird mit der Postzustellungsurkunde in einem ersten Schritt bewiesen.Abs. 19
b) Allerdings ist im Sinne des § 418 Abs. 2 ZPO, § 98 VwGO bewiesen, dass die in der Postzustellungsurkunde bezeugte Tatsache – Übergabe des Bescheids am 17.01.2023 an eine Vertreterin des Leiters der Gemeinschaftsunterkunft – unrichtig ist. Tag der Zustellung ist tatsächlich der 19.01.2023.Abs. 20
aa) Nach § 418 Abs. 2 ZPO ist der Beweis der Unrichtigkeit der in einer öffentlichen Urkunde im Sinne des § 418 Abs. 1 ZPO bezeugten Tatsachen zulässig, soweit nicht die Landesgesetze diesen Beweis ausschließen oder beschränken. Der hier mögliche – aber auch erforderliche – volle Beweis der Unrichtigkeit (BVerwG, Beschluss vom 21.11.2006 – 1 B 162.06 – Buchholz 303 § 418 ZPO Nr. 14) kann im Freibeweisverfahren, also ohne Bindung an die Vorgaben aus § 98 VwGO, §§ 355 ff. ZPO, erbracht werden (BVerwG, Beschluss vom 14.02.2001 – 6 BN 1.01 – Buchholz 340 § 5 VwZG Nr. 19).Abs. 21
bb) Mit der Vorlage eines Scans des Umschlags, der das zuzustellende Schriftstück enthielt (vgl. § 182 Abs. 2 Nr. 6 ZPO) auf dem der Tag der Zustellung mit dem 19.01.2023 vermerkt ist (zur Frage der Notwendigkeit des Vermerks bei Zustellung nach § 178 ZPO: Häublein/Müller, in: MüKo-ZPO, 6. Aufl. 2020, § 182 Rn. 11) und dem Vortrag der Antragsgegnerin im Klageverfahren A 19 K 303/23, wonach der Bescheid tatsächlich am 17.01.2023 erstellt und versendet worden sei, ist der volle Beweis der Unrichtigkeit der in der Postzustellungsurkunde bezeugten Tatsache der Übergabe des Bescheids (ebenfalls) am 17.01.2023 erbracht. Denn das Zusammenfallen des Versendens des Bescheids und der Zustellung durch einen Postdienstleister an einem anderen Ort am selben Tag ist regemäßig unmöglich; das vermerkte Zustellungsdatum auf dem Umschlag ist selbst bereits ein starkes Indiz dafür, dass die Zustellung tatsächlich am 19.01.2023 erfolgt ist. In Kombination dieser beiden Tatsachen ist der Beweis der Unrichtigkeit der in der Postzustellungsurkunde bezeugten Tatsache jedenfalls erbracht.Abs. 22
4. Da der Bescheid vom 17.01.2023 am 19.01.2023 zugestellt worden ist, ist die Wochenfrist aus § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG für die Stellung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO, die nach § 57 Abs. 2 VwGO (zur Anwendbarkeit im Asylprozess: Meissner/Schenk, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand April 2013, § 57 Rn. 4), § 222 Abs. 1 ZPO, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB zu berechnen ist, mit der Antragstellung am 26.01.2023 gewahrt.Abs. 23
5. Da damit, aus den gleichen Gründen, auch die Klagefrist des § 74 Abs. 1 AsylG im Verfahren A 19 K 303/23 gewahrt worden ist, erweist sich der Eilrechtsschutzantrag auch im Übrigen als zulässig.Abs. 24
II. Der Antrag ist auch begründet.Abs. 25
1. Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des hier einschlägigen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung zwischen dem sich aus der Regelung des § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse der Antragsteller an der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt eine Prüfung, dass der Rechtsbehelf offensichtlich erfolglos sein wird, überwiegt das Suspensivinteresse des Antragstellers in aller Regel nicht das öffentlichen Vollzugsinteresse. Erweist sich der Bescheid bei dieser Prüfung dagegen als rechtswidrig, besteht kein Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Soweit der Antragsteller geltend macht, dass mit der Vollziehung ein besonders schwerwiegender Grundrechtseingriff verbunden wäre oder soweit die Vollziehung zu unabänderlichen Zuständen führen kann, muss die Untersuchung der voraussichtlichen Rechtmäßigkeit auf der Grundlage einer vollständigen Rechtsprüfung unter Aufklärung des Sachverhalts ergehen. Nur wenn dies gesichert ist, kann das Eilverfahren zu Lasten des Betroffenen entschieden werden, da es hier die Funktion des Hauptsacheverfahrens einnimmt (Funke-Kaiser, in: Bader u.a., VwGO, 8. Aufl. 2021, § 80 Rn. 100).Abs. 26
2. Nach diesem Maßstab überwiegt das Interesse des Antragstellers das öffentliche Vollzugsinteresse, da die Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts auf nicht hinreichend gesicherter Erkenntnisgrundlage erfolgt ist. Es stellt derzeit eine offene Tatsachenfrage von grundsätzlicher Bedeutung – im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG – dar, ob für Personen, die im Dublin-Verfahren nach Kroatien überstellt werden, die tatsächliche Gefahr eines Pushbacks unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 2 GRCh nach Serbien oder Bosnien-Herzegowina besteht. Eine abschließende Klärung ist im Eilrechtsschutzverfahren nicht zu erzielen, so dass es derzeit offen ist, ob die Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts rechtmäßig ist. In der Folge bleibt unklar, ob die Abschiebungsanordnung nach Kroatien auf einer rechtmäßigen Grundlage beruht, was zum Erfolg im Eilverfahren führen muss.Abs. 27
a) Zwar hat das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers im Ansatz zu Recht in Ziffer 1 des angegriffenen Bescheids gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG als unzulässig eingestuft. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-VO), für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.Abs. 28
Kroatien ist grundsätzlich nach Art. 13 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin-III-VO für das Asylverfahren zuständig. Ausgehend von dem Eurodac Treffer Kategorie 2 vom 19.08.2022 hat sich der Antragsteller zu diesem Zeitpunkt illegal in Kroatien aufgehalten, was die kroatischen Behörden in ihrem Schreiben vom 10.01.2023 der Sache nach bestätigt haben. Das Bundesamt hat das Aufnahmegesuch am 10.11.2022 und damit innerhalb der Frist des Art. 21 Abs. 1 UAbs. 2 Dublin-III-VO gestellt, nachdem es die relevante Eurodac-Treffermeldung am 15.09.2022 erhielt, Kroatien hat innerhalb der Frist des Art. 22 Abs. 7 Dublin-III-VO positiv auf das Aufnahmegesuch geantwortet.Abs. 29
b) Allerdings ist nicht hinreichend geklärt, ob die Zuständigkeit Kroatiens möglicherweise nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO ausgeschlossen sein könnte.Abs. 30
aa) Nach dieser Norm ist ein Mitgliedstaat, in dem ein Drittstaatsangehöriger einen Schutzantrag gestellt hat, dazu verpflichtet, die Zuständigkeitsprüfung fortzusetzen, wenn es sich als unmöglich erweist, den Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in dem zunächst zuständigen Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh mit sich bringen. Kann unter diesen Voraussetzungen an keinen anderen zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden, wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.Abs. 31
Dieser Regelung liegt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zugrunde (vgl. EuGH, Urteile vom 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – ZAR 2012, 115 Rn. 78 ff <N.S. und ME> und vom 19. 03.2019 – C-163/17 – InfAuslR 2019, 236 Rn. 82 <Jawo>), wonach die Vermutung gilt, dass die Behandlung der Asylantragsteller in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Allerdings ist diese Vermutung widerleglich. Den nationalen Gerichten obliegt die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Antragsteller gibt, welche zu der Gefahr führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh zu erleiden (vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – ZAR 2012, 115 Rn. 88 ff <N.S. und ME>. unter Bezugnahme auf Art. 3 EMRK und die Rechtsprechung des EGMR). An die Feststellung systemischer Schwachstellen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO sind hohe Anforderungen zu stellen. Von derartigen Mängeln ist nur dann auszugehen, wenn sie strukturell angelegt sind oder den Vollzugsprozess derart prägen, dass es darin mit beachtlicher, das heißt überwiegender Wahrscheinlichkeit zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung kommt (vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – ZAR 2012, 115 Rn. 85 f. <N.S. und ME>; BVerwG, Beschluss vom 19.03.2014 – 10 B 6.14 – NVwZ 2014, 1039 Rn. 6 ff.). Die Vermutung ist daher nicht bereits bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen in dem jeweils zuständigen Mitgliedstaat widerlegt. Die Widerlegung der Vermutung setzt vielmehr voraus, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort auch dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht; (erst) dann scheidet eine Überstellung aus (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.03.2014 – 10 B 6.14 – NVwZ 2014, 1039 Rn. 9).Abs. 32
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union müssen die zuständigen mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte aber auch die Lebensumstände berücksichtigen, die einen Antragsteller nach Schutzgewährung in dem Zielstaat der Rückführung erwarten. Zwar bezieht sich Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO nur auf die Situation, in der sich die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh aus systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Personen, die internationalen Schutz beantragen, in dem Mitgliedstaat ergibt, der nach dieser Verordnung als für die Prüfung des Antrags zuständig bestimmt ist. Aus dem allgemeinen und absoluten Charakter des Verbots in Art. 4 GRCh geht jedoch hervor, dass die Überstellung eines Antragstellers in diesen Mitgliedstaat in all jenen Situationen ausgeschlossen ist, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Antragsteller bei seiner Überstellung oder infolge seiner Überstellung in eine solche Gefahr laufen wird. Folglich ist es für die Anwendung von Art. 4 GRCh gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren (vgl. zum Ganzen EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C 163/17 – InfAuslR 2019, 236 Rn. 87 ff. <Jawo>).Abs. 33
Eine Art. 4 GRCh verletzende Behandlung liegt insbesondere dann vor, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hat, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Diese Schwelle ist selbst bei durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann. Bloße Verstöße gegen Bestimmungen des Kapitels VII der Richtlinie 2011/95/EU oder die Tatsache, dass keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur sehr eingeschränkte staatliche Leistungen für anerkannte Schutzberechtigte zur Verfügung stehen, erreichen für sich genommen diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit allerdings noch nicht (vgl. EuGH, Beschluss vom 13.11.2019 – C-540/17, 541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 39 <Hamed u. Omar> und Urteil vom 19.03.2019 – C-163/17 – InfAuslR 2019, 236 Rn. 87 ff. <Jawo>; BVerwG, Urteil vom 20.05.2020 – 1 C 34.19 – juris, Rn. 16 ff. und Urteil vom 04.05.2020 – 1 C 5.19 – juris, Rn. 36 ff.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.04.2020 – A 4 S 721/20 – juris, Rn. 13 und Beschluss vom 27.05.2019 – A 4 S 1329/19 – juris, Rn. 5; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 05.05.2020 – 11 A 35/17.A – juris, Rn. 26 f.). Dieser Maßstab, der sich auf gesunde und arbeitsfähige Flüchtlinge bezieht, ist für vulnerable Personengruppen anzupassen und zu berücksichtigen, dass für diese unter Umständen die Wahrscheinlichkeit, in eine extreme materielle Not zu geraten, sehr viel höher sein kann (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29.07.2019 – A 4 S 749/19 – NJOZ 2020, 112 Rn. 30, unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 19.03.2019 – C-297/17 ua. – juris Rn. 93 <Ibrahim ua.>; vgl. auch Urteil vom19.03.2019 – C-163/17– InfAuslR 2019, 236 Rn. 95 <Jawo>).Abs. 34
Eine Art. 4 GRCh verletzende Behandlung liegt überdies bei einem Verstoß gegen das Non-Refoulement-Gebot vor. Sogenannte „Pushbacks“, also Abschiebungen, ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen und ein ordnungsgemäßes Asylverfahren zu erhalten, stellen einen derartigen Verstoß dar. Der Grundsatz der Nichtzurückweisung ist als Grundrecht in Art. 18 GRCh in Verbindung mit Art. 33 des am 28.07.1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge in der durch das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge geänderten Fassung sowie in Art. 19 Abs. 2 GRCh gewährleistet, wobei der dort verwendete Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung derjenige aus Art. 4 GRCh ist (EuGH, Urteil vom 22.11.2022 – C- 69/21 – InfAuslR 2023, 1 Rn. 55 u. 57<X>).Abs. 35
bb) Nach diesen Maßstäben bedarf die Frage, ob die Vermutung, dass die von den kroatischen Behörden zu erwartende Behandlung des Antragstellers den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entsprechen wird, widerlegt sein könnte, weil systemische Schwachstellen des Asylverfahrens in Kroatien, die eine Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung für den Antragsteller bedingen, vorliegen, weiterer Aufklärung. Diese muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben und führt vorliegend zum Erfolg des Eilantrags.Abs. 36
In Kroatien existiert grundsätzlich ein rechtsstaatliches Asylverfahren mit gerichtlicher Beschwerdemöglichkeit (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Kroatien, Stand: 18.05.2020, S. 5, nachfolgend: BFA, Länderinformationsblatt Kroatien; Asylum Information Database, Country Report: Croatia – 2021 Update, 22.04.2022, S. 19 ff., nachfolgend: aida, Country Report Croatia). Personen, die im Rahmen der Dublin-III-VO nach Kroatien zurückkehren, haben prinzipiell vollen Zugang zum kroatischen Asylsystem. Wenn Dublin-Rückkehrer Kroatien vor dem Ende ihres ursprünglichen Verfahrens verlassen haben und das Verfahren suspendiert wurde, müssen sie bei Rückkehr gemäß Art. 18 Abs. 2 Dublin-III-VO neuerlich einen Asylantrag stellen. Gemäß dem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe werden Dublin-Rückkehrer zum Flughafen Zagreb gebracht. Am Flughafen steht keine NGO zur Verfügung, auch wenn in sehr schweren Fällen ein Psychologe zur Verfügung gestellt werden kann. Normalerweise wird ein Beamter des Innenministeriums damit beauftragt, ankommende Personen am Flughafen abzuholen. Sie werden sodann in einem Aufnahmezentrum für Personen, die internationalen Schutz beantragen, untergebracht (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Situation of asylum seekers and beneficiaries of protection with mental health problems in Croatia, Dezember 2021, S. 9).Abs. 37
Jedoch ist es unklar, ob der Antragsteller als Dublin-Rückkehrer von den genannten „Pushbacks“, d. h. irregulären Abschiebungen von Asylsuchenden über die kroatische EU-Außengrenze nach Serbien und Bosnien-Herzegowina, betroffen sein könnte.Abs. 38
Es liegen einerseits nämlich belastbare Anhaltspunkte dafür vor, dass es in Kroatien zu Pushbacks über die kroatische EU-Außengrenze nach Serbien und Bosnien-Herzegowina kommt (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Kroatien S. 9 f.; Council of Europe, Report to the Croatian Government on the visit to Croatia carried out by the European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT) from 10 to 14 August 2020, 3. Dezember 2021, S. 8 ff.; vgl. auch EGMR, Urt. v. 18.11.2021 – 15670/18 und 43115/18 <M.H. u.a./Kroatien>).Abs. 39
Es bedarf der Aufklärung, ob hiervon auch Personen betroffen sind oder sein können, die im Dublin-Verfahren an Kroatien (rück-)überstellt werden. Einerseits führt der Menschenrechtskommissar des Europarates in seiner Stellungnahme vom 22.12.2020 gegenüber dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aus, dass auch für diejenigen Migranten, die aus anderen EU-Staaten nach Kroatien zurückgeführt würden, erhebliche Hindernisse für den Zugang zu einem fairen Asylverfahren bestünden (vgl. Council of Europe Commissioner for Human Rights, Third party intervention, EGMR No. 18810/19 u. a., 22.12.2020, Rn. 16). Die für diese Aussage in Bezug genommenen Quellen des Menschenrechtskommissars (vgl. dort Fußnote 12) sind hinsichtlich Dublin-Rückkehrern aber wenig aussagekräftig. Der „Input by civil society to the EASO Annual Report 2019“ (siehe https://euaa.europa.eu/sites/default/files/easo-annual-report-2019-European_Council-for-Refugees-and-Exiles-ECRE-contribution.pdf) berichtet schwerpunktmäßig von den Pushbacks an der Grenze (vgl. Input by civil society to the EASO Annual Report 2019, S. 4). Gleiches gilt für den „Report on Illegal Pushbacks and Border Violence in the Balkan Region“ (abrufbar unter: https://ecre.org/bvmn-report-on-illegal-pushbacks-and-border-violence-in-the-balkan-region/). Der Bericht „Austria: Chain Pushbacks to Bosnia Amid Growing Evidence of Widespread Abuse in the Balkans lovenia and Croatia to Bosnia“ (Quelle: https://ecre.org/austria-chain-pushbacks-to-bosnia-amid-growing-evidence-of-widespread-abuse-in-the-balkans/) berichtet zwar von Kettenpushbacks über Österreich, Slowenien, Kroatien nach Bosnien-Herzegowina, es ist indes nicht ersichtlich, dass es sich hierbei um (im Ausgangspunkt) reguläre Dublin-Überstellungen handelte. Auch die weiteren in Bezug genommenen Quellen (Amnesty International, Pushed to the Edge: Violence and Abuse Against Refugees and Migrants Along the Balkans Route, 2019, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/documents/eur05/9964/2019/en/ und Refugee Rights Europe/End Pushbacks Partnership, Pushbacks and Rights Violations, abrufbar unter https://resourcecentre.savethechildren.net/pdf/pushbacks-and-rights-violations-at-europes-borders.pdf) enthalten keine Informationen über Pushbacks von Personen, die im regulären Dublin-Verfahren nach Kroatien überstellt wurden.Abs. 40
Die hier entscheidungserhebliche Frage, ob auch solche Asylbewerber, die regulär in Vollziehung einer unter Anwendung der Regelungen der Dublin-III-VO erlassenen Abschiebungsanordnung nach Kroatien rücküberstellt werden, ernstlich Gefahr laufen, Opfer der oben benannten „Pushbacks“ zu werden, wird in der Rechtsprechung uneinheitlich beantwortet (eine solche ernstliche Gefahr auch für Dublin-Rückkehrer bejahend: VG Hannover, Beschluss vom 07.09.2022 – 15 B 3250/22 – asyl.net; VG Freiburg, Beschluss vom 26.07.2022 – A 1 K 1805/22 – , juris; VG Braunschweig, Urteil vom 24.05.2022 - 2 A 26/22 -, juris; a.A. Öster.BVwG, Erkenntnis vom 30.12.2022 – W239 2262420-1 – ECLI:AT:BVWG:2022:W239.2262420.1.00; VG Leipzig, Beschluss vom 06.12.2022 – 6 L 678/22.A – juris; VG Aachen, Beschluss vom 12.09.2022 – 6 L 551/22.A – juris Rn. 32; VG Göttingen, Beschluss vom 08.07.2022 – 4 B 110/22 – juris; VG Düsseldorf, Beschluss vom 04.02.2022 – 12 L 59/22.A – juris Rn. 48 und implizit auch VG Karlsruhe, Gerichtsbescheid vom 09.01.2023 – A 1 K 3146/22 – n.v.)Abs. 41
Beim Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg sind derzeit drei Verfahren anhängig, in denen die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen worden ist im Hinblick auf die Frage, ob Dublin-Rückkehrern Pushbacks drohen, anhängig (A 4 S 2664/22; A 4 S 2665/22 und A 4 S 2666/22).Abs. 42
In dem Zusammenhang mit der Frage, ob für den Antragsteller die tatsächliche Gefahr einer unmittelbaren Überstellung in einen Staat außerhalb der EU droht, wird in der Hauptsache auch zu ermitteln und bewerten sein, wie es sich auswirkt, dass er in Kroatien bislang noch keinen Asylantrag gestellt hat und er am 19.08.2022 eine Entscheidung erhalten hat, mit der er zum Verlassen Kroatiens und des Europäischen Wirtschaftsraums verpflichtet worden ist (zu dieser gerichtlich nicht angreifbaren Entscheidung: Border Violence Monitoring Network, Illegal Pushbacks and Border Violence Reports, October 2022, Balkan Region; S. 8 „The 7 days paper“ https://www.borderviolence.eu/wp-content/plugins/pdfjs-viewer-shortcode/pdfjs/web/viewer.php?file=/wp-content/uploads/MonthlyReportOCt2022-1.pdf).Abs. 43
III. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO. Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, da Gerichtskosten nicht erhoben werden (§ 83b AsylG).Abs. 44
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).Abs. 45

(online seit: 21.03.2023)
Zitiervorschlag: Gericht, Datum, Aktenzeichen, JurPC Web-Dok, Abs.
Zitiervorschlag: Karlsruhe, VG, Beweiskraft einer eingescannten Postzustellungsurkunde - JurPC-Web-Dok. 0038/2023