JurPC Web-Dok. 138/2021 - DOI 10.7328/jurpcb20213610138

Uwe Berlit [*]

Pandemie als Digitalisierungsschub? Lehren aus den Wegen und Irrwegen der Bewältigungsstrategie in Justiz und Verwaltung
Sieben Beobachtungen aus der Perspektive der (Verwaltungs)Gerichtsbarkeit[1]

JurPC Web-Dok. 138/2021, Abs. 1 - 45


I.

Abs. 1

Die deutsche Justiz hat die coronabedingten Herausforderungen insgesamt gut bewältigt. Der erreichte Stand der Digitalisierung war hierbei ein wichtiger Baustein.

Abs. 2
Die Justiz hat in der Pandemie ihre Aufgaben quantitativ und qualitativ bewältigt – mit viel Flexibilität, Phantasie und Einsatzbereitschaft aller Mitarbeiter:innen sowie Geduld auch auf Seiten der Justizkund:innen. Die Zahl der Erledigungen hat sich nur geringfügig gemindert, die Laufzeiten nur geringfügig erhöht, der starke Anstieg der Rechtsmittel zum OLG gründet auf Sondereffekten (insb. Dieselskandal).[2]Abs. 3
Der – wenngleich – heterogene Stand der Digitalisierung (in) der Justiz (nebst dessen kurzfristiger Ausbau) war hierfür ein wichtiger, teils gar zentraler, aber mitnichten einziger Faktor.Abs. 4
Bereits externe elektronische Kommunikation reduziert übertragungsträchtige Kontakte.[3]Abs. 5
Elektronische (Zweit-)Akten und elektronische Signatur ermöglichen bzw. erleichtern eine Ablauforganisation bei der Aufgabenerledigung, die persönliche Kontakte nur noch in Ausnahmefällen erfordert, und eröffnet die Mitwirkung selbst aus der Coronaquarantäne.Abs. 6
Der Einsatz der im letzten Jahrzehnt rasant fortentwickelten Videotechnik erlaubt technisch eine Virtualisierung auch des Herzstückes streitiger Gerichtsbarkeit, der mündlichen Verhandlung, und in Kollegialgerichten eine virtuelle Beratung.Abs. 7
Dieser erlebte Nutzen hat nach meiner Wahrnehmung[4] die Digitalisierungsvorbehalte und -ängste in den verschiedenen Funktionsgruppen der Justiz insgesamt (weiter) abgebaut,[5] ohne die in der Justiz Tätigen insgesamt in „Digitalisierungsenthusiasten“ zu wandeln.Abs. 8
Die nach Ländern und Gerichtsbarkeiten unterschiedlichen Digitalisierungsgrade haben zugleich den Digitalisierungsrückstand (in) der deutschen Justiz, die Verbesserungsbedarfe und die „Digitalisierungshürden“ offenbart. Die Coronapandemie traf 2020/21 eine Justiz in der digitalen Transformation, deren – teils noch als zu „ehrgeizig“ erachteter – Zeithorizont für die Aktenführung der 1.1.2026 war. Ein wesentlicher Pandemievorteil ist, das ein Teil der für 2023/2025 erwartbaren Probleme schon jetzt offenbar geworden ist.Abs. 9

II.

Abs. 10

Digitalisierung ist auf vorhandene, zuverlässig einsatzfähige und einsetzbare sowie hinreichend leistungsstarke Technik angewiesen. Die Pandemie hat hier die Nachholbedarfe (auch) der Justiz offengelegt.

Abs. 11
Technologisch sollten keine Digitalisierungsbarrieren mehr bestehen. Die auf dem Markt verfügbare Technologie ist deutlich leistungsfähiger als alles, was in der Justiz für eine digitale Aufgabenerledigung benötigt wird. Hochgradig komplexe Systeme im E-Commerce unterstreichen, dass es – bei entsprechendem Ressourceneinsatz – technisch und organisatorisch möglich ist, solche Systeme auch mit guter Performance und sehr hoher Verfügbarkeit einzusetzen.Abs. 12
Prozessrechtlich eröffnete Digitalisierungsoptionen sind ohne technisch-organisatorisch gesicherte, alltagstaugliche Nutzungsmöglichkeiten symbolisch als erster Schritt sinnvoll, operativ aber nutzlos. Erforderlich ist eine flächendeckende Ausstattungsoffensive in Bezug auf die Hintergrundtechnik (Bandbreite redundant auszulegender Leitungen, leistungsfähige Leitungen auch innerhalb der Justizgebäude, entsprechend dimensionierte Server/Rechenzentren), die nutzerbezogene Hardware (insb. <mobile> Rechner <inkl. Dockingstation und Peripheriegeräte am häuslichen Arbeitsplatz> und Ausstattung für Videokonferenzen) sowie hinreichend Zugriffsmöglichkeiten auf die internen Netze aus dem „home office“. Auch innerhalb der Gerichte müssen – prozessrechtskonforme – Videositzungsmöglichkeiten stabil lauffähig und mit allenfalls marginalem Vorbereitungs- und Betreuungsaufwand tatsächlich verfügbar sein.Abs. 13
Pandemiebedingt verstärkte Anforderungen an die Digitalisierung haben hier die Ausstattungsrückstände und Nachholbedarfe in vielen Bereichen offengelegt; die teils „leergefegten Märkte“ haben die erforderlichen Beschaffungen erschwert und die Kosten deutlich erhöht. Lehre ist: Ungeachtet der in den nächsten Jahren erwartbar angespannten Haushaltslage im Bund und in den Ländern bedarf es einer hardware- und leitungsbezogenen Investitionsoffensive, um eine digitalisierte Justiz flächendeckend von der rechtlichen Möglichkeit zur funktionsfähigen, rechtsstaatlichen Realität werden zu lassen.Abs. 14

III.

Abs. 15

Das geltende Prozessrecht ist weiterhin eine Digitalisierungsbarriere – selbst dann, wenn sich Justizdigitalisierung beschränkt auf die Umwandlung analoger Abläufe in digitale Leistungsprozesse und nicht das Ziel einer digitalen Transformation justizieller Leistungserbringung[6] forciert wird.[7] Erforderlich sind auf die verfahrensrechtlichen Schutzziele verpflichtete, begrenzte prozessrechtliche Experimentiergeneralklauseln, die bei Wahrung des Schutzniveaus Modifikationen prozessrechtlicher Einzelvorgaben ermöglichen.

Abs. 16
1. Das deutsche Prozessrecht ist ungeachtet der vielfältigen Öffnung für eine digitalisierte Verfahrensgestaltung weiterhin weitgehend „papierorientiert“. Das im Bundesrat vor der Verabschiedung stehende „Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten“[8] wird – bei allen wichtigen Verbesserungen im Detail – hieran qualitativ nichts ändern. Die Umstellung von papiergebundenen auf digitale Arbeitsweisen wirft zudem immer wieder grundlegende, teils schwierige und jedenfalls nicht „eindeutig“ beantwortbare Rechtsfragen auf, deren zuverlässige Beantwortung die Technikgestaltung oder eine Restrukturierung der Ablauforganisation voraussetzt.Abs. 17
Justiz ist in besonderem Maße der Durchsetzung und Beachtung geltenden Rechts verpflichtet, und zwar sowohl als Organisation als auch in Gestalt der einzelnen, teils unabhängigen Akteure. Insbesondere die professionell geschulte Richterschaft kann angesichts der durch Technik bedingten Standardisierung von Abläufen und Vorgehensweisen unter Verweis auf zwingendes Prozessrecht einzelne Digitalisierungsschritte als unzureichend verwerfen oder eingesetzte Programme oder sonst gefundene technische Lösungen mit Breitenwirkung in Frage stellen. Vermeintliche oder tatsächliche Rechtsunsicherheit ist bei gegebener Verwerfungs- oder Nichtanwendungsmöglichkeit zentraler Akteure (Richterschaft) ein Digitalisierungshindernis. Anders als in der Verwaltung können diese Fragen jedenfalls dann, wenn ihre Beantwortung auch die richterliche Verfahrensentscheidung betrifft, nicht durch hierarchische Weisung von Dienstvorgesetzten gelöst werden – zumal die Richterschaft (zunächst) die Definitionshoheit zur Frage hat, ob die richterliche Verfahrensentscheidung betroffen ist. Als Beispiele aus jüngerer Zeit sind zu nennen die Forderung des BFH[9] nach einer Ende zu Ende-Verschlüsselung bei der Videoverhandlung oder die EuGH-Vorlage des VG Wiesbaden[10] zu den Anforderungen, die an eine dem Gericht vorgelegte Verwaltungsakte zu stellen sind.Abs. 18
2. Beide Beispiele weisen neben der denkbaren Auslegungs- und Meinungsvielfalt auf einen erhöhten Regelungsbedarf digitalisierter Justiz.[11] Die technisch-organisatorischen Abläufe (in) der digitalisierten Justiz sind nicht kurzfristig „umzusteuern“ – allzumal dann nicht, wenn Fachanwendungen umzuprogrammieren sind.Abs. 19
Auf die digitalisierte Justiz zugeschnittene „Experimentierklauseln“[12] können sinnvoll sein – und sind rechtsstaatlich ausgestaltbar. Experimentierklauseln dienen im vorliegenden Kontext vor allem zwei Funktionen:Abs. 20
Sie können – begrenzte – Möglichkeiten schaffen, von prozessrechtlichen Regelungen und Vorgaben abzuweichen, wenn die jeweiligen prozessrechtlichen Schutzziele auf anderem Wege gleichwertig bzw. hinreichend gesichert werden können.[13]Abs. 21
Sie können – weiterhin – gestatten, in einer Art „Zertifizierungsverfahren“ bestimmte technisch-organisatorische Lösungen als „Paketlösung“ für zumindest einen gewissen Zeitraum als prozessrechtskonform und einsetzbar zu bewerten, wenn die dem zugrundeliegenden rechtlichen Bewertungen zumindest vertretbar sind, und für die Nichtanwendung dann qualifizierte rechtliche Zweifel fordern. In der zweiten Variante der vorweggenommenen rechtlichen Bewertung handelt es sich um eine Zwischenstufe zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung; formell noch der untergesetzlichen Rechtsetzung zuzuordnen, könnte in diesem Bereich auch die Beteiligung geeigneter Gremien der Richterschaft (eher Präsidium denn Richterrat) eingebunden werden.Abs. 22
3. Zusätzlich ist zu erwägen, bestimmte untergesetzliche „Standards“ im Grenzbereich zwischen richterlicher Unabhängigkeit und nicht mehr durch diese geschützte Gestaltung der Arbeits- und Ablauforganisation unter zu definierenden inhaltlichen und verfahrensmäßigen Vorkehrungen für verbindlich zu erklären. Weil richterliche Arbeit immer auch die Verarbeitung personenbezogener Daten bedeutet, stellte dies auch klar, dass die datenschutzrechtliche Verantwortlichkeit – mit allen Konsequenzen – das Gericht als Organisation und nicht – wegen der aus der richterlichen Unabhängigkeit folgenden Entscheidungsmacht über Zwecke und Mittel der Verarbeitung – nicht (auch) die einzelnen Spruchkörper oder gar die einzelnen Richter:innen trifft.Abs. 23
4. Die über Experimentierklauseln organisierten Gestaltungs- und Regulierungsbefugnisse dienen bei den anstehenden Transformationsprozessen dann nicht allein der Absicherung innovativer Lösungen von bei der Digitalisierung auftauchenden Problemen in Vorbereitung künftiger Gesetzgebung. Sie zielen im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit auf eine dauerhaft gesetzesergänzende und -konkretisierende Funktion, für die wegen der aus der Gewaltenteilung folgenden institutionellen Sonderung der Justiz über andere und justiznähere Regulierungsformen als die Rechtsverordnung nachzudenken ist. Bei nicht auf die externe Kommunikation mit Justizfremden, also auf die Binnenstrukturen bezogenen Fragen kommen hier nach Ländern und Gerichtszweigen unterschiedliche Regulierungen in Betracht, um das Experimentierfeld föderaler Vielfalt zu nutzen.Abs. 24
In beiden Dimensionen mildert dies das Spannungsverhältnis von durch die Geschwindigkeit technischen Wandels bedingten Regulierungsnotwendigkeiten und den durch die Zeit- und Entscheidungsstrukturen von Gesetzgebung – allzumal im Prozessrechtsbereich, in dem Gesetzgebungskompetenz des Bundes auf die Umsetzungsverantwortung von Ländern mit aus guten Gründen traditionell starker Mitgestaltungsmacht trifft – bedingten Regulierungsmöglichkeiten.Abs. 25

IV.

Abs. 26

Aufwand und Nutzen der Digitalisierung sind zu berücksichtigen: Der Justiz sind wie der Verwaltung Ausnahmen von der vollständigen Digitalisierung der Aktenführung und Arbeitsabläufe zu eröffnen.

Abs. 27
Die coronabedingte Mehrbelastung der Justiz durch die Digitalisierung hat den Blick darauf gelenkt, dass auch nicht perfekte oder vollständige Digitalisierungsmaßnahmen hohen Nutzen für die justizielle Aufgabenerledigung haben können. Dies ist verallgemeinerungsfähig.Abs. 28
Eine Fokussierung auf jene Bereiche, welche die höchste Nutzerzahl aufweisen oder den höchsten Digitalisierungsnutzen versprechen, wie sie das Onlinezugangsgesetz für den Verwaltungsbereich vornimmt,[14] findet sich für die Einführung der elektronischen Gerichtsakte nicht. Vorbehalte, wie – mit im Detail unterschiedlicher Reichweite – die E Government-Gesetze des Bundes und der Länder für die Digitalisierung der Aktenführung bei wichtigen Gegengründen machen, fehlen in der zum 1.1.2026 in Kraft tretenden Endstufe (s. nur § 298a ZPO; § 55b Abs. 1a VwGO) für die elektronische Gerichtsakte. Durch Rechtsverordnung können zwar die technischen Rahmenbedingungen für die Bildung, Führung und Aufbewahrung der elektronischen Gerichtsakten bestimmt werden, nicht aber die Herausnahme einzelner Akten selbst oder die punktuelle Führung sog. Hybridakten.Abs. 29
Hier muss der Gesetzgeber zeitnah tätig werden. Denn in allen Gerichtsbarkeiten gibt es vereinzelt Verfahren, die insgesamt oder doch in Bezug auf einzelne Aktenbestandteile nicht – sinnvoll – „digitalisierungstauglich“ sind: wegen der Art des Akteninhaltes oder dessen außergewöhnlicher Schutzbedürftigkeit. Der Anteil betroffener Verfahren liegt – geschätzt – im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Eine ausnahmslose Pflicht zur elektronischen Führung aller Akten unter Verbot auch partieller Hybridaktenführung verursachte bei der Konzeptionierung und Implementierung der elektronischen Gerichtsakte insgesamt erhebliche (personelle und finanzielle) Mehraufwendungen sowie Ergonomie-, Performance- und damit Akzeptanzverluste in den dann auf erhöhten Schutzbedarf auszulegenden Regelsystemen – oder die Vorhaltung kompletter Sondersysteme für vereinzelte Akten. Dies bindet ohne Not in einer kritischen Phase der Einführung der elektronischen Akte zusätzlich ohnehin die nicht hinreichend verfügbaren (insb. personellen) Ressourcen.Abs. 30

V.

Abs. 31

Digitalisierung gerichtlicher Kommunikation und Arbeitsabläufe „entzeitlicht“ und „entörtlicht“ potentiell auch die Arbeit der nichtrichterlichen Justizbeschäftigten und schafft damit zugleich erhöhte Koordinationsbedarfe mit der durch die Unabhängigkeit geschützten richterlichen Flexibilität in der Arbeitsorganisation. Die positiven Erfahrungen mit coronabedingt vermehrtem „home office“ im nichtrichterlichen Dienst sind auf Dauer zu stellen. Zugleich ist zu klären, wieviel virtuelle Kommunikation für die Aufgabenerledigung (mittelfristig) verträglich ist.

Abs. 32
Justizielle Aufgabenerledigung ist auch bürokratische Arbeitsorganisation, in welche die Richterschaft ungeachtet ihrer rechtlich gesicherten Sonderrolle eingebunden ist. Wechselschichtmodelle und – vor allem – vermehrtes „home office“[15] auch im nichtrichterlichen Bereich haben mit dazu beigetragen, den Dienstbetrieb aufrechtzuerhalten; damit wurde das hohe Maß an Flexibilität in Bezug auf Arbeitszeit und -ort, das funktionales Privileg richterlicher Unabhängigkeit war, im Ansatz auch anderen Beschäftigtengruppen eröffnet. Mit dem Inkrafttreten der Pflicht zur Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs zum 1.1.2022 für Rechtsanwälte und Behörden bei Einreichung vorbereitender Schriftsätze[16] wird sich die Struktur der Eingänge deutlich hin zu den elektronischen Eingängen verschieben. Dies wird den Druck hin zum Übergang zur (führenden) elektronischen Gerichtsakte verstärken und so den Anteil „home office“-.tauglicher Geschäftsstellentätigkeit erhöhen.Abs. 33
Nicht zuletzt im Interesse der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder zur Reduktion unnötigen Verkehrs sind die in der Pandemie gefundenen Ansätze auf Dauer zu stellen – auch um die Attraktivität des mittleren bis gehobenen Justizdienstes zu erhalten/zu erhöhen. Dabei sind auch die komplexen arbeits(schutz und -zeit)rechtlichen sowie tarifrechtlichen Regelungen (und die korrespondierenden beamtenrechtlichen Fragen) zu beachten. Ein gesonderter Diskussionspunkt ist hierbei, ob auch die unabhängige Richterschaft einzubeziehen ist, wenn und weil sie vergleichbare Schutzbedarfe aufweist. Strukturgleiche Probleme sind jedenfalls bei der Daten-/Informationssicherheit zu bewältigen.[17]Abs. 34
Die aus vielen Videokonferenzen/-besprechungen geborene Sehnsucht nach dem analogen Kontakt verweist indes darauf, dass gerichtliche Arbeitsorganisation mehr als ein bloß funktionaler Arbeitsverbund ist. Sie schafft auch einen sozial-kommunikativen Zusammenhang – einen „Lebensraum“ -, der jenseits virtuell nachbildbarer funktionaler Kommunikationen auf die Bedeutung informeller, vorwiegend analoger Kommunikation nicht nur für die Arbeitszufriedenheit und die Selbstverwirklichung in der Arbeit, sondern auch für die Aufgabenerledigung selbst verweist. Die Veränderungen durch Digitalisierung bedürfen der gezielten Gestaltung, welche die (potenziell) negativen Wirkungen der Kommunikationsvirtualisierung in einen angemessenen Ausgleich mit den durch Digitalisierung erreichbaren Vorteilen (etwa auch im Bereich der mittel- bis langfristigen Raumausstattung) bringt.Abs. 35

VI.

Abs. 36

Virtuelle Kommunikation kann analoge Kommunikation „in Präsenz“ funktional ersetzen, bewirkt aber eine Veränderung der Kommunikationssituation und möglicherweise auch -verläufe und -ergebnisse. Die rechtliche Zulässigkeit virtueller Verhandlungen und die inzwischen vielfach geschaffenen technisch-organisatorischen Möglichkeiten ihrer Durchführung ersetzen nicht das Nachdenken über Voraussetzungen und Grenzen ihres Nutzens – für die Beteiligten und für die Rechtsprechung insgesamt.

Abs. 37
Videotechnik hat – in unterschiedlichem Umfang – Einzug in Gerichtssäle und Beratungszimmer gefunden. Rechtlich seit vielen Jahren zugelassen, ist die Videoverhandlung erst seit ca. eineinhalb Jahren Realität.Hier hat die Pandemie – mit großen regionalen Unterschieden – klar als Katalysator der Digitalisierung gewirkt.[18] Für kollegialgerichtliche Beratungen fehlt es an vergleichbaren, ausdrücklichen Regelungen; inzwischen aber ist anerkannt, dass sie (bei Wahrung des Beratungsergebnisses) auch als Beschluss-/Entscheidungsberatungen möglich sind.[19] Jedenfalls bei infektionsschutzbedingter Abwesenheit geht ein BGH-Senat[20] davon aus, dass es dann keiner Fernsignatur o.ä. bedarf, sondern die Unterschrift ersetzt werden darf.Abs. 38
Videoverhandlungen können den Zugang zum Gericht erleichtern, für alle Beteiligten Aufwand ersparen und auch sonst die Verfahrenseffizienz steigern.[21] Dieser Effekt ist aber voraussetzungsvoll (neben dem Zugang zur entsprechenden Technik auch ein Mindestmaß an Medienerfahrung). Vor allen sind Videoverhandlungen nicht stets und notwendig der Präsenzverhandlung gleichwertig. Es fehlt u.a.[22] der unmittelbare persönliche Eindruck,[23] die nonverbale Kommunikationsebene entfällt, Videotechnik verändert regelmäßig das Kommunikationsverhalten, sie lässt Emotionen (mögen diese auch nicht unmittelbar entscheidungserheblich sein) und Spontanität weniger Raum und erfordert zumeist ein höheres Maß an Moderation.Abs. 39
Neben einer Reihe von Detailfragen bei der Ausgestaltung,[24] u.a. der Beibehaltung der Freiwilligkeit, sich per Video zuzuschalten, oder der Öffnung auch für eine Zuschaltung einzelner Richter:innen, ist eine zentrale Frage, welche Verfahren sich für eine Videoverhandlung „eignen“, was also – neben technisch-organisatorischen Dimensionen (Zuverlässigkeit der Technik bei allen Beteiligten ) – bei der gerichtlichen Ermessensentscheidung über die Zulassung der Zuschaltung zu berücksichtigten ist. Als Kriterien werden u.a. benannt[25] Komplexität des Sach- und Streitstoffes, mutmaßliche Bedeutung des persönlichen Eindruckes von einem Beteiligten, Notwendigkeit der Einvernahme von Zeugen oder Sachverständigen, professionelle Vertretung der Beteiligten und/oder deren Medienkompetenz (auch die des Gerichts) sowie die Haltung der Beteiligten zur Videoverhandlung.Abs. 40

VII. Datenschutz und Digitalisierung

Abs. 41

Digitalisierung der Justiz und Datenschutz sind besser (schneller und verlässlicher) als bisher zu verzahnen.

Abs. 42
Justizielle Aufgabenerledigung bedeutet in hohem Maße Verarbeitung teils sensibler personenbezogener Daten. Mit der Digitalisierung der Justizdaten ergeben sich gegenüber der papiergebundenen Arbeitsweise qualitativ veränderte Datenschutzrisiken (inkl. Daten-(Informationssicherheit). Die Wahrung von Datenschutz und – sicherheit ist keine Digitalisierungshürde, sondern im Ansatz Voraussetzung akzeptanzfähiger Justizdigitalisierung. Das Spannungsverhältnis von effektiver Rechtsschutzgewähr unter Nutzung funktionsfähiger, nutzertauglicher Technik mit den Anforderungen an Datenschutz/-sicherheit ist in einen angemessenen Ausgleich zu bringen; es geht um Optimierung, nicht Maximierung der Belange von Datenschutz und -sicherheit.Abs. 43
Dissens zu bzw. Unsicherheit über die konkreten Anforderungen, die sich aus Gründen des Datenschutzes/der Datensicherheit insb. an die zu treffenden technisch-oraganisatorischen Maßnahmen ergeben, und das Maß hinzunehmender Restrisiken sind in einer in besonderem Maße dem Recht gewidmeten Institution schädlich auch für in der Sache sinnvolle bis notwenige Digitalisierungsmaßnahmen. Die Auseinandersetzungen um die Anforderungen, die an einen datenschutzkonformen Einsatz von Videotechnik zu stellen sind, sind nur ein Beispiel dafür, dass Sach- und Zeitstruktur der Klärungsmechanismen nicht dem Handlungsdruck und der Veränderungsgeschwindigkeit sowie den Planungs- und „Vorlaufzeiten“ bei der Digitalisierung von Abläufen und eingesetzter Technik entsprechen.Abs. 44
Das pandemiebedingte „erst Handeln, dann Fragen“ ist nicht auf Dauer zu stellen. Erforderlich ist eine deutliche Verbesserung der Zusammenarbeit der Digitalisierungsverantwortlichen mit den gerichtlichen und übergerichtlichen Datenschutzbeauftragten mit dem Ziel schneller, klarer und konstruktiver Klärungen. Die nachgehende Kontrolle und Kritik ist partiell vorwegzunehmen durch eine (faktisch funktional) verlässliche begleitende Mitwirkung bei Prozessen der Organisationsentwicklung sowie der Softwaregestaltung; dabei sind unter Wahrung der gesetzlichen Verantwortungsteilung auch Konfliktklärungs- bzw. –schlichtungsmechanismen zu etablieren.Abs. 45

Fußnoten:

[*] Prof. Dr. Uwe Berlit ist Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht und Vorstandsmitglied des Deutschen EDV-Gerichtstages e.V.
[1] Mit ersten Nachweisen versehener Entwurf des Kurzvortrages vom 23.9.2021 in dem entsprechenden Arbeitskreis des EDV-Gerichtstages. Der Beitrag spiegelt allein die persönliche Auffassung des Verfassers.
[2] FAZ v. 1.9.2021, 16 („Die Justiz ist auf Kurs).
[3] S.a. Viefhues (Hrsg.), Elektronischer Rechtsverkehr: ERV in Zeiten von Corona, juris eBroschüre, 2020.
[4] Darauf weisen auch Ergebnisse der Studie Dose/Lieblang (Einführung der elektronischen Akte in der Justiz. Ergebnisse einer Umfrage an Landgerichten, Duisburg/Dortmund November 2020), bei der die Datenerhebung in die erste Lockerungsphase fiel (21.7.2020 bis 31.8.2020) fiel. Hiernach sind die Anwender in den vielfältigen Pilotprojekten vom Nutzen und der Zukunft der elektronischen Akte überwiegend überzeugt und hatte weniger Probleme als von Nichtanwendern (die auch signifikant skeptischer sind) erwartet.
[5] Diese Aussage bezieht sich auf Technikeinsatz bei der Kommunikation, Verhandlung/Beratung und Aktenbearbeitung, nicht auf den Einsatz von LegalTech in der Justiz; LegalTech-Themen bleiben auch nachfolgend ausgespart.
[6] Ansätze hierzu in AG „Modernisierung des Zivilprozesses“ (im Auftrag der OLG-Präsident:innen), Modernisierung des Zivilprozesses. Diskussionspapier, Juli 2020; dazu knapp Müller/Gomm, jM 2021, 222 (Teil 1), 266 (Teil 2).
[7] Zur Unterscheidung dieser Dimensionen s. Bogumil/Kuhlmann, Digitale Transformation in deutschen Kommunen, DVerw 54 (2021), 1 (1).
[8] BT-Drs. 19/28399 (Gesetzentwurf Bundesregierung); 19/30937 (Beschlussempfehlung); 19/31119 (Bericht).
[9] BFH, B. v. 12.5.2021 – IV R 31/18. Der 4. Senats des BFH hat dahin erkannt, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Rahmen einer Videokonferenz nach § 91a Abs. 1 FGO voraussetzt, dass zu von außerhalb zugeschalteten Teilnehmern eine gesicherte Ton- und Bildverbindung aufgebaut werden kann, die die Teilnahme von Dritten außerhalb des Sitzungsraums verhindert (also eine Ende zu Ende-Verschlüsselung) – eine Anforderung, welche die in der Justiz eingesetzten Systeme so nicht erfüllen und die nicht mit etwaigen Besonderheiten des § 91a FGO begründet wird, mithin höchstrichterlich, wenngleich ohne Bindungswirkung Videoverhandlungen in allen Gerichtszweigen als derzeit nicht prozessrechtskonform kennzeichnet.
[10] VG Wiesbaden, B. v. 3.9.2021 – 6 L 582/21.WI.A. Das VG Wiesbaden hat die Anforderungen, die an die gerichtliche Übertragung behördlicher E-Akten an Aufbau und Lesbarkeit zu stellen sind, zum Anlass einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union genommen und u.a. danach gefragt, welche Anforderungen aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 47 GRC) und Richtlinienrecht an die Vorlage von Behördenakten und (indirekt) auch an ein ersetzendes Scannen stellen. Gemünzt auf die Schnittstelle zwischen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, betrifft dies der Sache nach alle öffentlich-rechtlichen Fachgerichtsbarkeiten, die wegen der Vorgaben der E-Governmentgesetze des Bundes und der Länder zur Führung elektronischer Verwaltungsakten zunehmend mit der Vorlage solcher Verwaltungsakten zu rechnen haben, welche die Interoperabilität mit den Gerichtssystemen – zumindest nicht nach den aus meiner Sicht überzogenen Maßstäben des Vorlagebeschlusses - nicht (hinreichend) sichern – mit Rückwirkungen auf die E-Aktenführung zahlreicher Behörden.
[11] Dazu bereits Berlit, „Nach dem Gesetz ist vor dem Gesetz“ – Regulierungsbedarfe in der elektronischen Justiz, in: FS Herberger, Saarbrücken 2016, 95 (97 ff.); ders., Digitalisierung der Jsutiz, BJ 2020, 15.
[12] Dazu BMWi, Recht flexibel. Arbeitshilfe zur Formulierung von Experimentierklauseln, Berlin (Dezember) 2020. Zu Experimentierklauseln in den E-Governmentgesetz s. etwa § 20 SächsEGovG.
[13] Nur ein Beispiel ist die Vorlage von Behördenakten (§§ 99, 100 VwGO), die prozessrechtlich derzeit nach vorzugswürdiger Ansicht nicht durch den verwaltungsverfahrensrechtlich möglichen elektronischen Zugriff auf den Inhalt der Akten ersetzt werden kann. Bei flankierenden Maßgaben (z.B. elektronische Kopierbarkeit/Übernahme in eigene Dachanwendungen <inkl. Rechtsanwaltsprogramme>; Nichtprotokollierung der Zugriffe; Verwaltung des Zugangscodes für den Zugriff der anderen Beteiligten durch das Gericht) können die Zwecke der §§ 99, 100 VwGO indes auch durch den Direktzugriff in die behördlichen Systeme erfüllt werden – und Probleme der Interoperabilität von X-DOMEA und X-Justiz mildern. Ein weiteres Beispiel sind die vielfältigen Identifizierungs-, Authentifizierungs- und Unterschriftserfordernisse, bei denen immer wieder ein Spannungsfeld von maximierter Sicherheit und optimierter Ablaufgestaltung entsteht.
[14] Bogumil/Kuhlmann (Fn. 7), 105 (106 f.).
[15] Zu den Grenzen in Bereichen ohne elektronische (Zweit-)Akte Köbler, Homeoffice hat bei den Gerichten Grenzen, DRiZ 2021, 52.
[16] S. nur § 130d ZPO; § 55d VwGO (jeweils i.d.F. des Gesetzes v. 10.10.2013).
[17] S. etwa Berlit, Der Richter als Sicherheitsrisiko? Richterliche Unabhängigkeit und IT-Sicherheit, jM 2016, 334.
[18] Dazu Held-Daab, DVBl. 2021, 775 (782); s.a. Rebehn, DRiZ 2021, 130 (131); Handelsblatt v. 9.3.2021, 12 (Verfünffachung der Nutzung 2020); s.a. -zum sozial- bzw. arbeitsgerichtlichen Verfahren - Welti/Höland/Trienekens, SGb 2021, 536; Francken/Natter, NZA 2021, 153.
[19] Dazu eingehend Berlit, jM 2020. 310; Effer-Uhe, MDR ; s.a. BGH, B. v. 6.11.2020 – LwZR 2/20; BFH, U. v. 10.2.2021 – IV R 35/19.
[20] BGH, B. v. 28.1.2021 – III ZB 80/19.
[21] Der vermehrte Einsatz von Videotechnik zur Durchführung von Videoverhandlungen wird auch die Debatte um die eine erweiterte Gerichtsöffentlichkeit jenseits der Ende 2017 durch das EMögG u.a. geschaffenen moderaten Erweiterungen der Saalöffentlichkeit durch digitale Übertragungen (u.a.) im Internet (dazu Bernzen, Gerichtssaalberichterstattung. Ein zeitgemäßer Rahmen für die Medienvertreter in deutschen Gerichten, Tübingen 2020; Paschke, Digitale Gerichtsöffentlichkeit, Berlin 2018) neu entfachen.
[22] Umfassend s. Glunz, Psychologische Effekte beim gerichtlichen Einsatz von Videotechnik, 2012; s.a. – jeweils m.w.N. – Effer-Uhe, MDR 2020, 773 (776); Held-Daab, DVBl. 2021, 775 (780 f.); Schreiber, BJ 2020, 268.
[23] Die zentrale Bedeutung des persönlichen Eindrucks durch Anhörung in Betreuungs- und Unterbringungssachen hat auch jenseits der von jener in der streitigen Gerichtsbarkeit abweichenden Gesetzeslage zu einer hier nicht nachzuzeichnenden, kontroversen Sonderdebatte geführt; s. etwa; Schwedler/Glaab, MedR 2020, 457; Beckmann, FamRZ 2020, 735; Braun, FamRZ 2020, 737; Gotsche, FamRZ 2020, 820; Köbler, FamRZ 2020, 823; Wedel/Kraemer, FamRZ 2020, 970; Engelfried, BJ 2020, 320; Dodegge, BtPrax 2020, 79; s.a. BGH, B. v. 14.102020 – XII ZB 235/20; v. 14.10.2020 – XII ZB 220/20; v. 18.11.2020 – XII ZB 179/20; v. 24.2.2021 – XII ZB 503/20.
[24] Dazu eingehend Held-Daab, DVBl. 2021, 775.
[25] Held-Daab, DVBl. 2021, 775 (780 f.); Deutscher Richterbund – LV Berlin, Leitfaden zur Videoverhandlung in der Coronakrise, Berlin (Mai) 2020; CEELI, Practical Guidelines For Remote Judging, April 2021.

[online seit: 19.10.2021]
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