JurPC Web-Dok. 30/2023 - DOI 10.7328/jurpcb202338330

OVG Rheinland-Pfalz

Beschluss vom 31.01.2023

6 B 11175/22.OVG

Sperre für Glücksspielinternetseiten

JurPC Web-Dok. 30/2023, Abs. 1 - 28


Leitsätze:

1. Soweit § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Halbs. 1 des am 1. Juli 2021 in Kraft getretenen Staatsvertrages zur Neuregulierung des Glücksspielwesens in Deutschland vom 29. Oktober 2020 (Glücksspielstaatsvertrag 2021 GlüStV 2021 (juris: GlüStVtr RP 2021)) Maßnahmen zur Sperrung unerlaubter Glücksspielangebote gegen im Sinne der §§ 8 bis 10 des Telemediengesetzes TMG verantwortliche Diensteanbieter, insbesondere Zugangsvermittler und Registrare, ermöglicht, wird hierbei das in §§ 8 bis 10 TMG vorgesehene System abgestufter Verantwortlichkeit im Wege einer dynamischen Rechtsgrundverweisung in Bezug genommen.

2. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Halbs. 1 GlüStV 2021 (juris: GlüStVtr RP 2021) trifft eine abschließende Sonderregelung für das Ergreifen von Maßnahmen zur Sperrung unerlaubter Glücksspielangebote gegen Diensteanbieter, die der Anwendung der allgemeinen Auffangermächtigung nach § 9 Abs. 1 Satz 2 GlüStV 2021 (juris: GlüStVtr RP 2021) unter Heranziehung der allgemeinen ordnungsrechtlichen Grundsätze über die Inanspruchnahme Nichtverantwortlicher entgegensteht.

Gründe:

Die zulässigen Beschwerden der Antragstellerin und der Beigeladenen haben Erfolg.Abs. 1
Die mit den Beschwerden dargelegten und grundsätzlich allein zu prüfenden Gründe (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) rechtfertigen es, die angegriffene Entscheidung in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang abzuändern. Die nach § 80 Abs. 5 VwGO erforderliche Interessenabwägung führt nämlich trotz des in § 9 Abs. 2 Satz 1 des Staatsvertrages zur Neuregulierung des Glücksspielwesens in Deutschland vom 29. Oktober 2020 (Glücksspielstaatsvertrag 2021 – GlüStV 2021 –, GVBl. RLP 2020, S. 767) vorgesehenen Sofortvollzuges zu dem Ergebnis, dass das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin in Bezug auf die Regelung in Nr. 1 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 13. Oktober 2022 das öffentliche Interesse an deren Sofortvollzug überwiegt. Denn die darin gegenüber der Antragstellerin getroffene Anordnung, die Internetseiten (= Domains) www.***.com, www.***.com und www.***.de der Beigeladenen im Rahmen ihrer technischen Möglichkeiten als Zugangsvermittler zu sperren, so dass ein Zugriff über die von ihr in Deutschland zur Verfügung gestellten Zugänge zum Internet nicht mehr möglich ist, erweist sich als offensichtlich rechtswidrig.Abs. 2
Die angegriffene Sperrungsanordnung kann weder auf die Ermächtigungsgrundlage in § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 des am 1. Juli 2021 in Kraft getretenen Glücksspielstaatsvertrages 2021 (1.) noch auf die Auffangermächtigung nach § 9 Abs. 1 Satz 2 GlüStV 2021 unter Heranziehung der allgemeinen ordnungsrechtlichen Grundsätze über die Inanspruchnahme Nichtverantwortlicher gemäß § 10 Abs. 1 des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt – SOG LSA – (2.) gestützt werden.Abs. 3
1. Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 GlüStV 2021 hat die Antragsgegnerin als Glücksspielaufsicht (vgl. § 27a Abs. 1 und 2 GlüStV 2021) die Aufgabe, die Erfüllung der nach diesem Staatsvertrag bestehenden oder auf Grund dieses Staatsvertrages begründeten öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen zu überwachen sowie darauf hinzuwirken, dass unerlaubtes Glücksspiel und die Werbung hierfür unterbleiben. Die für alle Länder oder in dem jeweiligen Land zuständige Behörde kann die erforderlichen Anordnungen im Einzelfall erlassen (§ 9 Abs. 1 Satz 2 GlüStV 2021). Sie kann gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 GlüStV 2021 unbeschadet sonstiger in diesem Staatsvertrag und anderen gesetzlichen Bestimmungen vorgesehener Maßnahmen insbesondere nach vorheriger Bekanntgabe unerlaubter Glücksspielangebote Maßnahmen zur Sperrung dieser Angebote gegen im Sinne der §§ 8 bis 10 des Telemediengesetzes – TMG – verantwortliche Diensteanbieter, insbesondere Zugangsvermittler und Registrare, ergreifen, sofern sich Maßnahmen gegenüber einem Veranstalter oder Vermittler dieses Glücksspiels als nicht durchführbar oder nicht erfolgversprechend erweisen; diese Maßnahmen können auch erfolgen, wenn das unerlaubte Glücksspielangebot untrennbar mit weiteren Inhalten verbunden ist. § 9 Abs. 1 Satz 4 GlüStV 2021 hält fest, dass das Grundrecht des Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 Abs. 1 des Grundgesetzes – GG –) durch die Regelung nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 GlüStV 2021 eingeschränkt wird (vgl. indes BGH, Urteil vom 26. November 2015 – I ZR 3/14 –, juris Rn. 49 ff., 54, wonach URL-Sperren durch Verwendung eines „Zwangs-Proxys“, IP-Sperren oder DNS-Sperren nicht den Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 GG berührten). § 9 Abs. 1 Satz 5 GlüStV 2021 weist auf die Betroffenheit von Telekommunikationsvorgängen im Sinne des § 88 Abs. 3 Satz 3 des Telekommunikationsgesetzes (in der bis zum 30. November 2021 geltenden Fassung) hin.Abs. 4
Nach Maßgabe dieser Grundsätze sind die Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Halbs. 1 GlüStV 2021 nicht erfüllt. Bei der Antragstellerin handelt es sich bereits nicht um einen im Sinne der §§ 8 bis 10 TMG verantwortlichen Diensteanbieter. Ob die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen der Regelung für ein Einschreiten gegen die Antragstellerin gegeben sind, bedarf daher keiner abschließenden Entscheidung.Abs. 5
a) Der Senat teilt nicht die Auffassung der Antragsgegnerin, die Verantwortlichkeit der Diensteanbieter nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Halbs. 1 GlüStV 2021 bestimme sich aus der Norm selbst, ohne dabei auf eine Verantwortlichkeit nach dem Telemediengesetz abzustellen. Der Wortlaut der Vorschrift lässt diese Auslegung nicht zu (aa)). Ein derartiges Normverständnis wird auch nicht durch die Entstehungsgeschichte der Regelung (bb)) oder teleologische Erwägungen (cc)) getragen.Abs. 6
aa) Aus dem Wortlaut des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Halbs. 1 GlüStV 2021 lässt sich ein Verzicht auf tatbestandliche Voraussetzungen der §§ 8 bis 10 TMG nicht entnehmen. Vielmehr spricht die ausdrückliche Gesetzesformulierung, wonach nur verantwortliche Diensteanbieter im Sinne der §§ 8 bis 10 TMG als Adressaten einer glücksspielaufsichtlichen Maßnahme in Betracht kommen, dafür, dass das abgestufte technikbezogene Haftungssystem der §§ 8 bis 10 TMG im Wege einer dynamischen Rechtsgrundverweisung in Bezug genommen wird und insbesondere nicht verantwortliche Diensteanbieter im Sinne der genannten Bestimmungen als Maßnahmeadressaten ausscheiden.Abs. 7
bb) Die Entstehungsgeschichte der Regelung zeigt ferner, dass eine sonderordnungsrechtliche Störerbestimmung im Glückspielstaatsvertrag ohne inhaltliche Bezugnahme auf die Verantwortlichkeiten der Diensteanbieter für fremde Informationen nach dem Telemediengesetz nicht beabsichtigt war.Abs. 8
(1) Ursprünglich gestattete § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 des am 1. Januar 2008 in Kraft getretenen Glücksspielstaatsvertrages – GlüStV 2008 (GVBl. RLP 2007, S. 240) – der zuständigen Behörde des jeweiligen Landes, insbesondere Diensteanbietern im Sinne von § 3 Teledienstegesetz, soweit sie nach diesem Gesetz verantwortlich waren, die Mitwirkung am Zugang zu unerlaubten Glücksspielangeboten zu untersagen. Bei dieser Ergänzung der bereits nach § 12 Abs. 1 Satz 2 des Lotteriestaatsvertrages (GVBl. RLP 2004, 322) bekannten Eingriffsermächtigungen sollte es sich nach den amtlichen Erläuterungen zum Glücksspielstaatsvertrag 2008 im Wesentlichen um eine Klarstellung handeln, da bereits nach geltendem Recht jedenfalls die wissentliche Mitwirkung am Zugang zu unerlaubten Glücksspielangeboten als Beihilfe gemäß §§ 284 Abs. 1, 27 des Strafgesetzbuches strafbar und damit nach dem Sicherheits- und Ordnungsrecht der Länder zu unterbinden gewesen sei. Die Erläuterungen zum Glücksspielstaatsvertrag 2008 betonten zudem, dass auf die abgestuften Verantwortlichkeiten nach dem Teledienstegesetz „ausdrücklich Rücksicht genommen“ werde (vgl. LT RLP, Drs. 15/1454, S. 42). Diesem Regelungsverständnis entsprechend stellte das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu der Sperrungs- bzw. Dekonnektierungsanordnung einer Bezirksregierung nach dem Glücksspielstaatsvertrag 2008 gegen einen Domain-Registrar fest, dieser könne nicht als Störer, sondern nur als Nichtstörer in Anspruch genommen werden, da es an einer Verantwortlichkeit nach dem Teledienstegesetz gefehlt habe (Beschluss vom 26. Januar 2010 – 13 B 760/09 –, juris Rn. 9 und 12; vgl. ebenso die zu Sperrungs- bzw. Dekonnektierungsanordnungen aufgrund des Glücksspielstaatsvertrages 2008 gegen Access-Provider bzw. Registrare ergangenen und rechtskräftig gewordenen Urteile des VG Köln vom 15. Dezember 2011 – 6 K 5404/10 –, sowie des VG Düsseldorf vom 29. November 2011 – 27 K 458/10, 27 K 5887/10 und 27 K 3883/11 –, zitiert nach juris).Abs. 9
(2) Nach dem am 14. April 2011 veröffentlichten Entwurf eines Ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrages war zunächst beabsichtigt, die Fassung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 GlüStV 2008 dahingehend zu ändern, dass der zuständigen Behörde des jeweiligen Landes die Befugnis eingeräumt werden sollte, Diensteanbietern im Sinne des Telemediengesetzes, insbesondere Zugangsprovidern und Registraren, nach vorheriger Bekanntgabe unerlaubter Glücksspielangebote die Mitwirkung am Zugang zu den unerlaubten Glücksspielangeboten zu untersagen (Entwurfsdokument abrufbar unter https://ec.europa.eu/growth/tools-databases/tris/de/search zum Notifizierungsverfahren Nr. 2011/0188/D). Diese Regelung hätte somit wegen ihres Verzichts auf das Erfordernis der Verantwortlichkeit nach dem Telemediengesetz – in Übereinstimmung mit der aktuellen Rechtsauffassung der Antragsgegnerin – zu einer sonderordnungsrechtlichen Störerbestimmung im Glücksspielstaatsvertrag selbst geführt.Abs. 10
(3) Der Vertragsentwurf vom 14. April 2011 ist insoweit allerdings nicht wirksam umgesetzt worden. Er diente zunächst als Grundlage für eine Anhörung der betroffenen Verbände, welche die Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt mit Schreiben vom 15. April 2011 stellvertretend für die übrigen Länder einleitete und am 25. Mai 2011 im Landtag von Sachsen-Anhalt – nicht öffentlich – durchführte (vgl. zum Verfahrensablauf BVerfG, Beschluss vom 7. März 2017 – 1 BvR 1314/12 –, juris Rn. 6). Zwar kann der Inhalt der hierbei abgegebenen und auf § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 des Regelungsentwurfs bezogenen Stellungnahmen im Rahmen des vorliegenden Verfahrens auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nicht näher aufgeklärt werden. Es lässt sich jedoch feststellen, dass die Arbeitsgruppe „Glücksspielstaatvertrag“ der Chefinnen und Chefs der Staats- und Senatskanzleien unter Berücksichtigung der abgegebenen Stellungnahmen der Ministerpräsidentenkonferenz unter dem 8. Juni 2011 die Streichung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 der Entwurfsfassung vom 14. April 2011 empfohlen hat (vgl. dazu den Bericht der Landesregierung NRW für die 19. Sitzung des Haupt- und Medienausschusses des Landtages NRW am 14. Juli 2011, TOP 4, Vorlage 15/745, S. 3 f. und 7). Darüber hinaus ist zu dem bereits am 15. April 2011 bei der Europäischen Kommission gemäß der Richtlinie 98/34/EG unter der Nr. 2011/0188/D notifizierten Vertragsentwurf eine ausführliche Stellungnahme der Europäischen Kommission (vom 18. Juli 2011) sowie der Republik Malta im Notifizierungsverfahren abgegeben worden. In der Antwort der Bundesrepublik Deutschland vom 7. Dezember 2011 auf diese Stellungnahmen wird ausgeführt, die Bundesländer wiesen darauf hin, „dass sie die von der Kommission und Malta kritisierte Vorschrift des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 … gestrichen“ hätten (vgl. Nr. 2.8 der Mitteilung 201 der Kommission zum Az. „SG(2011) D/52931").Abs. 11
(4) In der am 1. Juli 2012 in Kraft getretenen Fassung des Ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrages (GVBl. RLP 2012 S. 166) war die Regelung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 dementsprechend nicht mehr enthalten. Auf den Verzicht auf das Instrument der „Internetsperren“ wurde in den Materialien zu den Ratifizierungsgesetzen der Länder auch teilweise ausdrücklich hingewiesen (vgl. etwa Abgeordnetenhaus Berlin Drs. 17/0041, S. 2). Auch der Zweite Glücksspieländerungsstaatsvertrag, dessen Inkrafttreten am 1. Januar 2018 an der fehlenden Ratifizierung durch sämtliche Bundesländer scheiterte, sah schon in seiner im März 2017 von den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder unterzeichneten Fassung keine Änderung des § 9 GlüStV 2012 vor (vgl. LT RLP Drs. 17/4564, S. 7). Gleiches gilt für den zum 1. Januar 2020 in Kraft getretenen Dritten Glücksspieländerungsstaatsvertrag (vgl. GVBl. RLP 2019, S. 335).Abs. 12
(5) Eine Wiedereinführung der Ermächtigung zu Sperranordnungen erfolgte erst durch den am 1. Juli 2021 in Kraft getretenen Glücksspielstaatsvertrag 2021. Die hierzu abgegebenen Erläuterungen der Länder betonen ausdrücklich, die staatsvertragliche Ermächtigung zu Sperranordnungen sei angemessen, indem sie dem System abgestufter Verantwortlichkeit, wie es auf der Grundlage der E-Commerce-Richtlinie der EU in den §§ 8 bis 10 Telemediengesetz vorgesehen sei, Rechnung trage (LT RLP Drs. 17/13498, S. 129). Die Erläuterungen entsprechen damit im Kern denjenigen zu der ursprünglichen Fassung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 GlüStV 2008.Abs. 13
(6) Vor diesem Hintergrund sprechen die amtlichen Erläuterungen zum Glücksspielstaatsvertrag 2021, welche den einzig verlässlichen Anhaltspunkt für den Willen der Ländergesamtheit bilden (vgl. BVerfG, Urteil vom 11. September 2007 – 1 BvR 2270/05 –, juris Rn. 168, zum Rundfunkfinanzierungsstaatsvertrag), gegen ein Verständnis des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 GlüStV 2021 als eine von den Anforderungen der §§ 8 bis 10 TMG losgelöste sonderordnungsrechtliche Störerbestimmung. Hinzu kommt, dass in der Vergangenheit nicht nur eine Erweiterung des in der Praxis vielfach begrenzten Anwendungsbereichs des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 GlüStV 2008 gemäß der Entwurfsfassung vom 14. April 2011 zum Ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrag unterblieben, sondern in der Folgezeit auf das Instrument der „Internetsperren“ sogar gänzlich verzichtet worden ist. Daher lässt sich aus der Wiedereinführung einer Ermächtigung zu Sperranordnungen, welche sich an das ursprüngliche und bereits durch Rechtsprechung geprägte Regelungskonzept anlehnt, nicht darauf schließen, der Staatsvertragsgeber habe nunmehr das abgestufte Haftungssystem des Telemediengesetzes, das die jeweilige Nähe des Diensteanbieters zur angebotenen Information berücksichtigt, trotz seiner ausdrücklichen Inbezugnahme außer Acht lassen wollen.Abs. 14
cc) Der Sinn und Zweck des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 GlüStV 2021 gebietet es ebenfalls nicht, entgegen Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Norm die Ermächtigung zu Sperranordnungen im Wege der erweiternden Auslegung oder teleologischen Extension ohne eine Verantwortlichkeit der Diensteanbieter nach dem abgestuften Haftungssystem der §§ 8 bis 10 TMG anzuwenden.Abs. 15
Jede Art der richterlichen Rechtsfortbildung setzt eine Gesetzeslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes voraus. Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, dürfen die Gerichte diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern oder durch eine judikative Lösung ersetzen. Ob eine Gesetzeslücke vorliegt, ist danach zu beurteilen, ob die vom Regelungsprogramm des Gesetzgebers erfassten Fälle in den gesetzlichen Vorschriften tatsächlich Berücksichtigung gefunden haben. Sie ist zu bejahen, wenn festzustellen ist, dass der Wortlaut der Vorschrift nicht alle Fälle erfasst, die nach dem Sinn und Zweck der Regelung erfasst sein sollten (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 – 5 C 18.12 –, juris Rn. 22, m.w.N.). Eine derartige Feststellung kann hier nicht getroffen werden.Abs. 16
(1) Der allgemeinen Zielsetzung des Glücksspielstaatsvertrages 2021 (vgl. § 1 Satz 1 GlüStV 2021) sind keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, der Staatsvertragsgeber habe § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 GlüStV 2021 nur versehentlich mit einer dynamischen Rechtsgrundverweisung auf das abgestufte Haftungssystem der §§ 8 bis 10 TMG ausgestaltet. Zwar sollten durch diesen Staatsvertrag die Vollzugsmöglichkeiten zur Unterbindung unerlaubter Glücksspielangebote als dem wesentlichen Ziel der Glücksspielregulierung mit Blick auf ein konsequentes, zügiges und nachhaltiges Vorgehen der Länder verbessert werden. Ausweislich der amtlichen Erläuterungen sollte die Ergänzung der Rechtsgrundlagen für ein solches Vorgehen durch zusätzliche Instrumente in Form von Internetsperren jedoch nur „unter Beachtung strenger Vorgaben“ erfolgen (LT RLP Drs. 17/13498, S. 48).Abs. 17
(2) Der spezielle Zweck des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 GlüStV 2021 führt zu keiner anderen Beurteilung. Die Neuregelung der Rechtsgrundlage für Maßnahmen gegen Diensteanbieter mit dem Ziel der Sperrung unerlaubter Glücksspielangebote („IP-Blocking“) soll die Erreichung der Zielsetzungen des § 1 GlüStV 2021 fördern. Zwar geht der Staatsvertragsgeber nach den amtlichen Erläuterungen zum Glücksspielstaatsvertrag 2021 (LT RLP Drs. 17/13498, S. 129) davon aus, die Wiedereinführung der Ermächtigung zu Sperranordnungen habe sich im Gefolge der Schwierigkeiten des Vollzugs des Glücksspielstaatsvertrages 2012/2020 nicht zuletzt gegenüber ausländischen Veranstaltern und Vermittlern von nach diesem Staatsvertrag nicht erlaubten Glücksspielen, die auf den Geltungsbereich dieses Staatsvertrages ausgerichtet seien, als geeignet und erforderlich erwiesen, um die genannten Ziele des § 1 GlüStV 2021 effektiv zu erreichen. Tatsächlich ist der Anwendungsbereich des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 GlüStV 2021 aber seinem Wortlaut nach durch die dynamische Rechtsgrundverweisung auf das abgestufte Haftungssystem der §§ 8 bis 10 TMG faktisch eingeschränkt (vgl. bereits VG Köln, Urteil vom 15. Dezember 2011 – 6 K 5404/10 –, juris Rn. 39, zu § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 GlüStV 2008). So wird im – hier vorliegenden – Fall eines Access-Providers nämlich in der Regel von einer Verantwortlichkeitsprivilegierung gemäß § 8 TMG auszugehen sein (Anstötz/Tautz, ZdiW 2022, 173 (177 f.); ebenso zur Vorgängerregelung: Ennuschat/Klestil, ZfWG 2009, 389 (390); Frey/Rudolph/Oster MMR-Beilage 2012, 1 (17); Sieber/Nolde, Sperrverfügungen im Internet, 2008, S. 23). Damit bilden die Erwägungen der amtlichen Begründung zur Effektivität der Maßnahme aber keine tragfähige und ausreichende Grundlage für eine erweiternde Auslegung oder teleologische Extension des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 GlüStV 2021.Abs. 18
(3) Ebenso wenig lässt die systematische Gesamtschau vergleichbarer Ermächtigungsgrundlagen für Maßnahmen gegen Diensteanbieter zur Sperrung von fremden Inhalten darauf schließen, der Staatsvertragsgeber habe mit dem Anwendungsbereich des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Halbs. 1 GlüStV 2021 auch nicht verantwortliche Diensteanbieter im Sinne der §§ 8 bis 10 TMG erfassen wollen.Abs. 19
Nach der bis zum 6. November 2020 und damit während der Vertragsverhandlungs- und Ratifizierungsphase des Glücksspielstaatsvertrages 2021 noch geltenden Regelung in § 59 Abs. 4 des Rundfunkstaatsvertrages – RStV – konnten Maßnahmen zur Sperrung von Angeboten gegen den „Diensteanbieter von fremden Inhalten nach den §§ 8 bis 10 des Telemediengesetzes“ gerichtet werden (vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 19. März 2003 – 8 B 2567/02 –, juris Rn. 45, zur entsprechenden Vorgängerregelung in § 22 Abs. 3 Mediendienste-Staatsvertrag). Soweit § 20 Abs. 4 des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages – JMStV – in seiner ebenfalls bis zum 6. November 2020 geltenden Fassung eine entsprechende Geltung des § 59 Abs. 4 RStV anordnete, bestand diese jugendschutzrechtliche Eingriffsermächtigung dagegen zunächst nur „unter Beachtung der Regelungen zur Verantwortlichkeit nach den §§ 7 bis 10 des Telemediengesetzes“. Nach der zum 7. November 2020 geänderten Fassung des § 20 Abs. 4 JMStV sowie der gleichzeitig in Kraft getretenen Regelung in § 109 Abs. 3 des Medienstaatsvertrages als Nachfolger des Rundfunkstaatsvertrages können Maßnahmen zur Sperrung von Angeboten nunmehr gegen Dritte unter Beachtung der Vorgaben des Telemediengesetzes gerichtet werden (vgl. dazu: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Netzsperren, Rechtslage und gesetzgeberischer Spielraum, WD 10 - 3000 - 016/21, S. 23). Angesichts dieser Gesetzesentwicklungen zur Frage der Verantwortlichkeit der Diensteanbieter für fremde Inhalte kann nicht davon ausgegangen werden, der Staatsvertragsgeber habe mit dem am 1. Juli 2021 in Kraft getretenen § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 GlüStV 2021 versehentlich an das abgestufte Haftungssystem der §§ 8 bis 10 TMG angeknüpft.Abs. 20
Soweit der Staatsvertragsgeber in den amtlichen Erläuterungen darauf verweist, eine § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 GlüStV 2021 entsprechende Ermächtigung („IP-Blocking“) finde sich in einer Vielzahl von Glücksspielregulierungen europäischer Staaten („60 % der EU/EWR-Mitgliedstaaten“), die wie die deutsche Glücksspielregulierung an die grundrechtlichen Vorgaben der EMRK gebunden seien (vgl. LT RLP Drs. 17/13498, S. 60, 129), lässt auch dies nicht auf ein Versehen bei der Ausgestaltung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Halbs. 1 GlüStV 2021 mit einer dynamischen Rechtsgrundverweisung auf das abgestufte Haftungssystem der §§ 8 bis 10 TMG schließen. Aufgrund des in den Erläuterungen zitierten Abschlussberichts der Europäischen Kommission vom November 2018 zu der Studie „Evaluation of Regulatory Tools for Enforcing Online Gambling Rules and Channelling Demand towards Controlled Offers” musste dem Staatsvertragsgeber nämlich bewusst sein, dass in den meisten der an der Studie teilnehmenden Staaten eine erlassene Sperrungsanordnung zugleich für sämtliche Internet Service Provider gilt (vgl. Seite 38 des Abschlussberichts, abrufbar unter https://single-market-economy.ec.europa.eu/publications_en). Gleichwohl hat eine danach naheliegende Anordnung einer sonderordnungsrechtlichen Störerbestimmung unter Verzicht auf ein System abgestufter Verantwortlichkeit in § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 GlüStV 2021 keinen Niederschlag gefunden.Abs. 21
Für das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke in § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Halbs. 1 GlüStV 2021 spricht – anders als die Antragsgegnerin wohl meint – auch nicht die Vorschrift des § 7 Abs. 3 Satz 1 TMG. Hiernach bleiben Verpflichtungen zur Entfernung von Informationen oder zur Sperrung der Nutzung von Informationen nach den allgemeinen Gesetzen aufgrund von gerichtlichen oder behördlichen Anordnungen auch im Falle der Nichtverantwortlichkeit des Diensteanbieters nach den §§ 8 bis 10 TMG unberührt. Diese Regelung begründet aber nicht selbst solche Verpflichtungen zur Entfernung oder Sperrung für den Access-Provider, sondern sieht lediglich vor, dass anderweitig begründete Verpflichtungen unberührt bleiben, d.h. fortbestehen.Abs. 22
b) Die Antragstellerin ist nach Maßgabe des dargelegten Verständnisses des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Halbs. 1 GlüStV 2021 kein im Sinne der §§ 8 bis 10 TMG verantwortlicher Diensteanbieter. Die Wirkungsweise dieser verantwortlichkeitseinschränkenden Regelungen lässt sich untechnisch mit der eines Filters vergleichen (so bereits BT-Drs. 14/6098, S. 23, zu den §§ 9 bis 11 Teledienstegesetz). Bevor ein Diensteanbieter auf der Grundlage des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 Halbs. 1 GlüStV 2021 zur Verantwortung gezogen werden kann, muss geprüft werden, ob die aus der Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen dieser staatsvertraglichen Regelung folgende Verantwortlichkeit für unerlaubte Glücksspielangebote nicht durch die §§ 8 bis 10 TMG ausgeschlossen ist.Abs. 23
Für die Antragstellerin, die am Markt nach Aktenlage als Zugangsvermittler auftritt (Blatt 282 der Verwaltungsakte; vgl. auch Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Netzsperren, Rechtslage und gesetzgeberischer Spielraum, WD 10 - 3000 - 016/21, S. 5), ist die Regelung des § 8 TMG maßgeblich; weitere von ihr erbrachte Dienstleistungen im Internet, welche Anlass zu einer Prüfung der Haftungsprivilegierungen nach den §§ 9 oder 10 TMG geben würden (vgl. dazu nur beispielhaft OLG Köln, Urteil vom 9. Oktober 2020 – I-6 U 32/20 –, juris Rn. 2 und 114 ff.), sind weder von der Antragsgegnerin behauptet worden noch ersichtlich. Gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 TMG sind Diensteanbieter aber für fremde Informationen, zu denen sie den Zugang zur Nutzung vermitteln, nicht verantwortlich, sofern sie die Übermittlung nicht veranlasst (Nr. 1), den Adressaten der übermittelten Information nicht ausgewählt (Nr. 2) und die übermittelten Informationen nicht ausgewählt oder verändert haben (Nr. 3). Nach § 8 Abs. 1 Satz 3 TMG findet die Haftungsprivilegierung nach Satz 1 dieser Regelung keine Anwendung, wenn der Dienstean-bieter absichtlich mit einem Nutzer seines Dienstes zusammenarbeitet, um rechtswidrige Handlungen zu begehen. Die Antragstellerin erfüllt diese Haftungsausschlussvoraussetzungen. Weder veranlasst sie die Übermittlung der Glücksspielinhalte noch wählt sie diese oder den Adressaten aus. Zudem scheidet der Fall eines kollusiven Zusammenwirkens offenkundig aus.Abs. 24
2. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin lässt sich die Sperrungsanordnung in Nr. 1 des Bescheids vom 13. Oktober 2022 auch nicht (hilfsweise) auf § 9 Abs. 1 Satz 2 GlüStV 2021 in Verbindung mit § 10 Abs. 1 SOG LSA stützen (vgl. dazu Seite 17 der Verfügungsbegründung). Einer Anwendung der allgemeinen Auffangermächtigung nach § 9 Abs. 1 Satz 2 GlüStV 2021 steht insoweit die spezialgesetzliche Sonderregelung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 GlüStV 2021 entgegen, die eine abschließende Regelung zu den als Störer in Anspruch zu nehmenden Personen enthält.Abs. 25
Diese besondere Regelung zur Abwehr von Gefahren durch unerlaubte Glücksspielangebote geht im Anwendungsbereich des Glücksspielstaatsvertrages 2021 gemäß § 27a Abs. 3 GlüStV 2021 i.V.m. § 4 Abs. 1 Sätze 2 und 3 SOG LSA zudem den allgemeinen ordnungsrechtlichen Grundsätzen über die Inanspruchnahme Nichtverantwortlicher gemäß § 10 SOG LSA vor. Außerdem besteht die einheitliche Zuständigkeit der Antragsgegnerin für alle Länder bei unerlaubtem öffentlichen Glücksspiel, welches im Internet in mehr als einem Land angeboten wird, gemäß §§ 27e Abs. 1, 27f Abs. 2 i.V.m. § 9a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 GlüStV 2021 nur für die besonderen Maßnahmen der Glücksspielaufsicht nach § 9 Abs. 1 GlüStV 2021 (vgl. LT RLP Drs. 17/13498, S. 135) und nicht zugleich für ein landeseinheitliches allgemeines Ordnungsrecht. § 9a Abs. 3 GlüStV 2021 trifft insoweit eine abschließende Zuständigkeitsregelung.Abs. 26
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, nachdem das Verwaltungsgericht durch den insoweit rechtskräftig gewordenen Beschluss vom 30. November 2022 bereits die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen die Nrn. 2 bis 5 des Bescheids vom 13. Oktober 2022 angeordnet hat. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen waren nach § 162 Abs. 3 VwGO aus Gründen der Billigkeit der Antragsgegnerin aufzuerlegen, da die Beigeladenen sowohl in erster Instanz als auch im Beschwerdeverfahren einen eigenen Antrag gestellt haben und damit ein eigenes Kostenrisiko eingegangen sind (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO).Abs. 27
Die Festsetzung des Wertes des Beschwerdegegenstandes folgt aus §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (LKRZ 2014, 169).Abs. 28

(online seit: 07.03.2023)
Zitiervorschlag: Gericht, Datum, Aktenzeichen, JurPC Web-Dok, Abs.
Zitiervorschlag: OVG Rheinland-Pfalz, Sperre für Glücksspielinternetseiten - JurPC-Web-Dok. 0030/2023