OLG Karlsruhe | ||
Beschluss vom 18.01.2023 | ||
2 Rv 34 Ss 589/22 | ||
Beginn der Strafantragsfrist bei Beleidigungen in sozialen Medien | ||
JurPC Web-Dok. 23/2023, Abs. 1 - 41 | ||
Leitsätze: | ||
1. Beim Tatbestand der Beleidigung können der Zeitpunkt der Vollendung der Tat und der Zeitpunkt der Beendigung der Tat auseinanderfallen. Stellt der Täter einen ehrverletzenden Beitrag im Internet auf seinem eigenen sozialen Netzwerk-Account ein, so ist die Tat, weil die Beleidigung als Erfolgsdelikt den Zugang der Äußerung erfordert, mit der erstmaligen Wahrnehmung des ehrverletzenden Beitrags durch den Betroffenen oder einen Dritten vollendet. Beendet ist eine solche Beleidigung hingegen erst in dem Zeitpunkt, in dem der vom Täter eingestellte und mit seinem Wissen und Wollen online gehaltene Beitrag gelöscht oder jedenfalls nicht mehr wahrgenommen wird. Denn bis zu diesem Zeitpunkt bestand für das geschützte Rechtsgut, die Ehre des Betroffenen, die spezifische Gefahrenlage über den Zeitpunkt der Vollendung der Tat hinaus fort und vergrößerte bzw. vertiefte sich auch mit jeder Kenntnisnahme der beleidigenden Äußerung durch weitere Personen. 2. Fallen der Zeitpunkt der Vollendung und der Beendigung einer Beleidigung auseinander, kann die Antragsfrist des § 77b Abs. 2 Satz 1 StGB auch erst mit Beendigung der Tat zu laufen beginnen. Denn zuvor ist dem Verletzten eine abschließende Beurteilung des Umfangs der Rechtsgutverletzung als Grundlage für die Entscheidung über die Stellung eines Strafantrags nicht möglich. | ||
Gründe: | ||
I. | Abs. 1 | |
Der Angeklagte wurde zunächst durch Urteil des Amtsgerichtes F. vom 27.04.2018 wegen Beleidigung in fünf tateinheitlichen Fällen zu der Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu jeweils 100 EUR verurteilt. Gegen dieses Urteil legte der Angeklagte Berufung ein. | Abs. 2 | |
In einem weiteren Strafverfahren wurde der Angeklagte durch das Amtsgericht F. am 15.12.2020 wegen gefährlicher Körperverletzung zu der Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Hiergegen legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein und der Angeklagte „Rechtsmittel“. | Abs. 3 | |
Beide Strafverfahren wurden mit Beschluss der Berufungskammer des Landgerichtes F. vom 02.06.2021 verbunden. Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls vom 11.05.2022 (Seite 3) beschränkten sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Angeklagte ihr Rechtsmittel der Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichtes F. vom 15.12.2020 auf den Rechtsfolgenausspruch. | Abs. 4 | |
Durch Urteil vom 18.05.2022 hat das Landgericht F. das Urteil des Amtsgerichts F. vom 27.04.2018 aufgehoben und das Verfahren wegen des Vorliegens eines Verfahrenshindernisses eingestellt. Die Berufungskammer vermochte nicht festzustellen, dass die Strafantragsfrist von drei Monaten gemäß § 77b Abs. 1 Satz 1 StGB von den fünf Strafantragstellern jeweils eingehalten worden sei. | Abs. 5 | |
Ferner wurde das Urteil des Amtsgerichtes F. vom 15.12.2020 auf die Berufung des Angeklagten dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte unter Einbeziehung einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu jeweils 120 EUR aus dem rechtskräftigen Urteil des Amtsgerichtes S. vom 11.11.2020 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt wurde. Die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Die weitergehende Berufung des Angeklagten und die Berufung der Staatsanwaltschaft wurden verworfen. Das Landgericht hat im Urteil festgestellt, dass das Adhäsionsverfahren nach dem vollständigen Anerkenntnis des Angeklagten, der Zahlung des Schmerzensgeldes und der übereinstimmenden Erledigungserklärung des Adhäsionsklägers und des Adhäsionsbeklagten erledigt ist. | Abs. 6 | |
Gegen dieses Urteil des Landgerichts F. vom 18.05.2022 richtet sich die form- und fristgerecht zu Ungunsten des Angeklagten erhobene Revision der Staatsanwaltschaft, die eine Aufhebung der erfolgten Verfahrenseinstellung und eine Verurteilung des Angeklagten auch wegen Beleidigung in fünf tateinheitlichen Fällen erstrebt. | Abs. 7 | |
Die Revision des Angeklagten wendet sich mit der Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gegen das Urteil des Landgerichts, soweit der Angeklagte verurteilt wurde. Insbesondere macht der Angeklagte mit einer Verfahrensrüge die fehlerhafte Besetzung des Gerichts geltend. | Abs. 8 | |
II. | Abs. 9 | |
I. Die Revision der Staatsanwaltschaft | Abs. 10 | |
Das zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte und von der Generalstaatsanwaltschaft vertretene Rechtsmittel gegen die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils des Amtsgerichtes F. vom 27.04.2018 und die insoweit erfolgte Einstellung des Verfahrens wegen Beleidigung in fünf tateinheitlichen Fällen hat Erfolg, denn das Landgericht ist zu Unrecht vom Vorliegen eines Verfahrenshindernisses ausgegangen. | Abs. 11 | |
1. Diesem Tatvorwurf liegt zugrunde, dass der Angeklagte am 18.11.2015 als Nutzer seines Facebook-Profils als Titelbild für dieses öffentlich einsehbare Facebook-Profil eine schwarzweiße Fotomontage eines in der Öffentlichkeit bekannten Pressefotos des Nürnberger Prozesses gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher eingestellt hatte, bei der auf die Körper der angeklagten historischen Hauptkriegsverbrecher die Köpfe zahlreicher Mitglieder der damaligen Bundesregierung, Bundespolitikerinnen und Bundespolitiker, beispielsweise der damaligen Bundeskanzlerin und des damaligen Bundespräsidenten des damaligen Bundesministers für Wirtschaft und Energie des ehemaligen Bundesministers für Auswärtiges sowie der weiterer Bundespolitiker hinein retuschiert waren. Der Angeklagte kommentierte die Fotomontage auf seinem Facebook-Profil mit den Worten „mit Asyl-Siggi, Türken Özi und Bundesgaukler - Hauptanklagepunkte: üble Nachrede.“ | Abs. 12 | |
2. Das Landgericht hat die Annahme eines Verfahrenshindernisses damit begründet, dass nicht sicher habe festgestellt werden können, dass die Strafantragsfrist gemäß § 77b Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 StGB von drei Monaten ab Kenntniserlangung von den fünf Strafantragstellern jeweils eingehalten worden sei. Ausweislich der Feststellungen in den Urteilsgründen gingen die Strafanträge der fünf Antragsteller im Zeitraum 21.03.2016 bis 04.04.2016 bei der zuständigen Staatsanwaltschaft ein. Der Vorsitzende hatte im Freibeweisverfahren Stellungnahmen der Strafantragsteller dazu eingeholt, wann diese erstmals Kenntnis von dem Facebook-Eintrag mit der Fotomontage auf dem Facebook-Account des Angeklagten erlangt hatten. Das Landgericht ist unter Darlegung der einzelnen Antworten der Strafantragsteller zu der Überzeugung gelangt, dass nicht mehr aufklärbar und damit sicher festzustellen sei, wann die Antragsteller tatsächlich erstmals von der verfahrensgegenständlichen Fotomontage auf der Facebook-Seite des Angeklagten erfahren hatten. | Abs. 13 | |
Unter Berücksichtigung des grundsätzlich nach der obergerichtlichen Rechtsprechung vom Landgericht zutreffend zitierten Maßstabes, wonach ein Verfahrenshindernis im Sinne von §§ 206a, 260 Abs. 3 StPO immer schon dann besteht, wenn es möglicherweise vorliegt, hat die Kammer im vorliegenden Fall angenommen, dass zugunsten des Angeklagten von der günstigsten Möglichkeit auszugehen sei. Folglich sei zugunsten des Angeklagten von einer Erstkenntnis der Strafantragsteller von Tat und Täter bereits mit der Einstellung der Fotomontage am 18.11.2015 auszugehen. Die in der Zeit vom 21.03.2016 bis zum 04.04.2016 gestellten Strafanträge sämtlicher Antragsteller seien daher verfristet. | Abs. 14 | |
3. Die Bewertung des Landgerichts erweist sich insoweit als rechtsfehlerhaft, als es den Beginn der 3-monatigen Strafantragsfrist auf den 18.11.2015 datiert hat, den Tag, an dem der Angeklagte die Fotomontage – wie er selbst eingeräumt hatte – auf seinem Facebook-Profil eingestellt hatte. Denn § 185 StGB ist wegen des Zugangserfordernisses nach der Grundstruktur ein Erfolgsdelikt (vgl. Hilgendorf, Leipziger Kommentar, 12. Aufl., Vorbemerkungen, Rn. 39; BGH, Urteil vom 12.12.2000 – 1 StR 184/00 -, MMR 2001, 228). Der Tatbestand der Beleidigung erfordert neben der Tathandlung den Erfolg des Zugangs der Äußerung beim Betroffenen oder einem Dritten. Insoweit genügt nicht die bloße Wahrnehmbarkeit der Äußerung, sondern sie muss, damit der Tatbestand der Beleidigung vollendet ist, auch tatsächlich von jemandem wahrgenommen werden. | Abs. 15 | |
Ob die Beleidigung auch ein Dauerdelikt darstellen kann oder nicht, ist vorliegend nicht von Belang (vom BGH wohl grundsätzlich für möglich erachtet im Urteil vom 18.09.1986 – 4 StR 432/86 -, juris). Denn im vorliegenden Fall ist schon deshalb nicht von einem Dauerdelikt auszugehen, weil die Fotomontage des Angeklagten zwar über einen längeren Zeitraum im Internet eingestellt und damit auch längere Zeit wahrnehmbar war. Dies genügt aber, wie oben ausgeführt, wegen des Zugangserfordernisses, nicht. Sie müsste auch ununterbrochen wahrgenommen worden sein, wovon beim Einstellen eines kommentierten Bildes auf einem Internet-Account nicht auszugehen ist. | Abs. 16 | |
Beim Tatbestand der Beleidigung können aber der Zeitpunkt der Vollendung der Tat und der Zeitpunkt der Beendigung der Tat auseinanderfallen. Eine Tat ist vollendet, sobald sämtliche Merkmale des Tatbestands vollständig verwirklicht wurden (Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 22 Rn. 4). Die Tatbeendigung tritt dagegen erst ein, wenn der Täter sein „rechtsverneinendes Tun“ insgesamt abschließt, das Tatunrecht mithin tatsächlich in vollem Umfang verwirklicht wurde (BGH NJW 2020, 3469; BGHSt 52, 300 = NJW 2008, 3076). Bereits das Reichsgericht hatte in einem Urteil vom 16.02.1923 (IV 847/22, RGSt 57, 193 – 198) entschieden, dass bei der Beleidigung der Zeitpunkt der Tatvollendung und der Beendigung der Tat auseinanderfallen können. In einem weiteren Sinne liege ein dauerhaftes tätiges Verhalten des Täters auch dann vor, wenn er einen ehrverletzenden Dauerzustand geschaffen und diesen vorsätzlich, also wissentlich und willentlich, aufrechterhalten habe. Beispielhaft nennt das Reichsgericht insoweit die Aufstellung eines Plakats mit beleidigendem Inhalt, ein Beispiel, das für den vorliegenden Fall durchaus passt, stellt doch das Einstellen eines Kommentars in den öffentlich einsehbaren sozialen Netzwerken quasi eine moderne Form des Plakatierens dar. | Abs. 17 | |
Im vorliegenden Fall hat der Angeklagte seinen ggf. i.S.v. § 185 StGB ehrverletzenden Beitrag auf seinem Facebook-Account nicht nur am 18.11.2015 eingestellt, sondern er hat die Fotomontage nach den Feststellungen im Urteil des Landgerichts F. jedenfalls bis zum Zeitpunkt der polizeilichen Kontosicherung seines Facebook-Profils am 01.02.2016 wissentlich online gehalten. Die Fotomontage blieb daher nicht nur mindestens bis zum 01.02.2016 wahrnehmbar und konnte von Dritten durch sog. „Liken“ und „Teilen“ weiterverbreitet werden, sie wurde auch tatsächlich über den 18.11.2015 hinaus von verschiedenen Personen wahrgenommen, so nach den Feststellungen des Landgerichts beispielsweise von Angehörigen der Rechtsanwaltskammer und dem Redaktionsteam des Spiegel und zuletzt auch von den ermittelnden Polizeibeamten anlässlich der Kontosicherung am 01.02.2016. Beendet war die Tat daher erst in dem Zeitpunkt, in dem die vom Angeklagten in sein Facebook-Profil eingestellte Fotomontage nicht mehr wahrgenommen werden konnte und wurde. Denn bis zu diesem Zeitpunkt bestand für das geschützte Rechtsgut, die Ehre der Betroffenen, die spezifische Gefahrenlage über den Zeitpunkt der Vollendung der Tat, der mit der erstmaligen Kenntnisnahme der Fotomontage durch die Betroffenen oder einen Dritten eintrat, hinaus fort und vergrößerte bzw. vertiefte sich auch mit jeder Kenntnisnahme durch weitere Personen. | Abs. 18 | |
Zwar knüpft § 77b Abs. 2 StGB für den Beginn der Strafantragsfrist, anders als § 78a StGB für den Beginn der Verjährungsfrist, nicht ausdrücklich an die Tatbeendigung an, sondern an die Kenntnis von Tat und Person des Täters durch den Verletzten. Die Tat, von der der Antragsberechtigte gemäß § 77b Abs. 2 Satz 1 StGB Kenntnis erlangt haben muss, umfasst bei Erfolgsdelikten, zu denen die Beleidigung, wie zuvor ausgeführt, gehört, aber den Erfolgseintritt in seinem konkreten Ausmaß und Umfang (vgl. Senat, Beschluss vom 01.02.1995 – 2 Ws 241/94 -, BeckRS 1995, 31209218 für den Beginn der Strafantragsfrist beim Prozessbetrug; Schönke/Schröder/Bosch, StGB, 30. Aufl. 2019, § 77b Rn. 6). Fallen der Zeitpunkt der Vollendung und der Beendigung einer Tat – wie vorliegend – auseinander, kann die Antragsfrist des § 77b Abs. 2 Satz 1 StGB auch erst mit Beendigung der Tat zu laufen beginnen. Denn zuvor ist dem Verletzten eine abschließende Beurteilung nicht möglich, in welchem Umfang er geschädigt ist. Entsteht der Schaden beim Betroffenen erst durch verschiedene Ereignisse oder vergrößert er sich nach und nach, so ist der Zeitpunkt des letzten Ereignisses für den Beginn der Antragsfrist maßgebend. Dies erscheint auch sachgerecht, denn es macht für den Verletzten bei der Prüfung, ob er einen Strafantrag stellen will oder nicht, ohne Zweifel einen erheblichen Unterschied, ob eine ehrverletzende Äußerung nur einmalig erfolgt und von einer oder wenigen Personen wahrgenommen wird oder ob die ehrverletzende Äußerung über einen längeren Zeitraum in den sozialen Netzwerken online gehalten, weiter verbreitet und von einer Vielzahl von Menschen wahrgenommen wird. | Abs. 19 | |
Diesem Befund steht auch nicht, wie das Landgericht meint, die aktuelle Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. Beschluss vom 13.11.2019, 1 StR 58/19, NStZ 2020, 159) zum Verjährungsbeginn bei Taten nach § 266a StGB entgegen, wonach für den Beginn der Verjährung nicht mehr an das Erlöschen der Beitragspflicht anzuknüpfen sei, sondern bereits mit dem Verstreichen des Fälligkeitszeitpunktes die Verjährung beginne. Ausweislich der Begründung (a.a.O., Rn. 15) würde die Annahme des späteren Verjährungsbeginns voraussetzen, dass für das jeweils geschützte Rechtsgut eine spezifische Gefahrenlage über den Zeitpunkt der Vollendung der Tat hinaus fortbesteht, was bei dem Tatbestand des § 266a StGB eben nicht der Fall sei, weil der Schaden sich nicht mehr vergrößern oder vertiefen könne. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber, dass bei Tatbeständen wie dem der Beleidigung nach § 185 StGB als Erfolgsdelikt eine für das jeweils geschützte Rechtsgut spezifische Gefahrenlage über den Zeitpunkt der Vollendung der Tat hinaus fortbestehen kann. | Abs. 20 | |
Dieser Rechtsfehler zwingt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, soweit darin das Urteil des Amtsgerichts F. vom 27.04.2018 aufgehoben und das Verfahren eingestellt wurde. | Abs. 21 | |
Die Sache wird nach § 354 Abs. 2 StPO an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen, die auch insoweit über die Kosten der Revision zu entscheiden haben wird. | Abs. 22 | |
Nachdem im Urteil des Landgerichts infolge der Einstellung wegen eines (vermeintlichen) Verfahrenshindernisses keine Feststellungen zum Kontext des Facebook-Posts, den Begleitumständen und zu einer möglichen Einlassung des Angeklagten getroffen wurden, vermag der Senat die Frage nicht zu beurteilen, ob die Fotomontage und deren Kommentierung durch den Angeklagten eine Strafbarkeit wegen Beleidigung, mithin einen rechtswidrigen Angriff auf die Ehre durch Kundgabe eigener Missachtung oder Nichtachtung i.S.v. § 185 StGB begründet. Denn insoweit ist nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung eine umfassende Abwägung der widerstreitenden Interessen (allgemeines Persönlichkeitsrecht und Meinungsfreiheit) geboten, bei der der Kontext der Äußerung sowie die gesamten erkennbaren Begleitumstände des konkreten Einzelfalls zu berücksichtigen sind. Besondere Bedeutung bei dieser Abwägung erlangt dabei die von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte Meinungsfreiheit, die – insbesondere im politischen Meinungskampf - einen weitreichenden Schutz für wertende, auch (sehr) kritische Äußerungen gewährleistet (vgl. auch BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 9.02.2022 – 1 BvR 2588/20 –, juris). | Abs. 23 | |
II. Die Revision des Angeklagten | Abs. 24 | |
Die Revision des Angeklagten hat weder mit der Sachrüge noch mit der Verfahrensrüge Erfolg. | Abs. 25 | |
1. Die Beschränkung der Berufungen durch die Staatsanwaltschaft und den Angeklagten im Rahmen der Hauptverhandlung am 11.05.2022 gegen das Urteil des Amtsgerichtes F. vom 15.12.2020 auf den Rechtsfolgenausspruch war wirksam und begegnet keinen Bedenken, da die erstinstanzlichen Feststellungen den Schuldspruch tragen und in tatsächlicher und rechtlicher Art ausreichend sind, um eine Überprüfung des Strafausspruchs in dem gebotenen Maße vornehmen zu können. | Abs. 26 | |
2. Der in zulässigerweise erhobene Besetzungseinwand gegen die Besetzung der Berufungskammer mit der Ersatzschöffin ist unbegründet. Die Rüge nach § 338 Nr. 1 StPO, mit der die Revision die vorschriftswidrige Besetzung des Gerichts und den Entzug des gesetzlichen Richters geltend macht, ist in zulässiger Weise erhoben, da der Senat dem Revisionsvortrag sämtliche Tatsachen entnehmen kann, die für die Frage der Begründetheit der Rüge relevant sind. Die Rüge ist auch nicht nach § 338 Nr. 1 StPO präkludiert, weil im vorliegenden Fall eine Besetzungsmitteilung § 222a StPO weder vorgeschrieben noch erfolgt ist (vgl. Gericke in KK, StPO, 9. Aufl. 2023, § 338 Rn. 9). Die Rüge vorschriftswidriger Besetzung der Strafkammer greift indes nicht durch. | Abs. 27 | |
a) Der erhobenen Verfahrensrüge liegt folgender Verfahrensablauf zugrunde: | Abs. 28 | |
Mit richterlicher Verfügung des Vorsitzenden vom 16.11.2021 wurde wegen Verhinderung des Gerichts der ursprünglich auf den 24.11.2021 terminierte Beginn der Hauptverhandlung verlegt auf den 13.04.2022. Aufgrund richterlicher Verfügung vom 14.12.2021 wurden zu den Fortsetzungsterminen weitere Zeugen und die Hauptschöffen C. und B. zu dem Beginn der Hauptverhandlung am 13.04.2022 und den Fortsetzungsterminen geladen. Ausweislich der in der Verfahrensrüge mitgeteilten vollständigen Schöffen-Auslosungsliste vom 23.11.2021 waren dies namentlich die Hauptschöffen für den ordentlichen Terminstag der zuständigen 11. Kleinen Strafkammer am 13.04.2022. Nach der ebenfalls mit der Verfahrensrüge mitgeteilten E-Mail-Nachricht der Schöffengeschäftsstelle vom 14.12.2021 hatte der Schöffe B. bereits am 06.12.2021 telefonisch mitgeteilt, dass er an der Verhandlung am 13.04.2022 urlaubsbedingt nicht teilnehmen könne. Der Schöffe wurde daher auf richterliche Weisung mit E-Mail-Nachricht der Schöffengeschäftsstelle vom 14.12.2021 im Hinblick auf seinen urlaubsbedingten Entpflichtungsantrag gebeten, entsprechende Nachweise (z.B. eine Buchungsbestätigung) vorzulegen. Mit E-Mail-Nachricht vom 19.12.2021 antwortete der Schöffe B. an die Geschäftsstelle wörtlich: „Meine Frau ist noch arbeitstätig und musste mit ihren Kolleginnen den Urlaub für das kommende Jahr abstimmen. Wir planen Campingurlaub, haben aber aufgrund der derzeitigen Corona-Situation noch nicht konkret eine Buchung vornehmen können. Das Zeitfenster 04.04.2022 bis 16.04.2022 ist allerdings festgelegt.“ Mit richterlicher Verfügung vom 20.12.2021 wurde der Schöffe B. daraufhin für den 13.04.2022 und die Fortsetzungstermine entbunden, wobei zur Begründung lediglich ausgeführt wurde: „wegen der glaubhaft dargelegten Hinderungsgründe“. | Abs. 29 | |
b) Nach §§ 77 Abs. 3 Satz 3, 54 Abs. 1 Satz 1 GVG kann der Vorsitzende einer Strafkammer am Landgericht einen Schöffen auf dessen Antrag wegen eingetretener Hinderungsgründe von der Dienstleistung an bestimmten Sitzungstagen entbinden. Ein Hinderungsgrund liegt gemäß § 54 Abs. 1 Satz 2 GVG vor, wenn der Schöffe an der Dienstleistung durch unabwendbare Umstände gehindert ist oder wenn ihm die Dienstleistung nicht zugemutet werden kann. | Abs. 30 | |
Ob einem Schöffen die Dienstleistung im Sinne von § 54 Abs. 1 GVG zugemutet werden kann, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Über die Anerkennung der Unzumutbarkeit der Schöffendienstleistung hat der zur Entscheidung berufene Richter unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere unter Berücksichtigung der Belange des Schöffen, des Verfahrensstands und der voraussichtlichen Dauer des Verfahrens, nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, wobei zur Wahrung des Rechts auf den gesetzlichen Richter grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen ist (BGH, Beschluss v. 05.08.2021 – 2 StR 307/20; juris; Urteil v. 04.02.2015 - 2 StR 76/14, NStZ 2015, 350). Hierbei stellt der mit Ortsabwesenheit einhergehende Erholungsurlaub eines Schöffen in der Regel einen Umstand dar, der zur Unzumutbarkeit der Dienstleistung führt (vgl. BGH, a.a.O.; BGH, Beschluss vom 08.05.2018 − 5 StR 108/18 -, NStZ 2018, 616). Berufliche Gründe hingegen rechtfertigen nur ausnahmsweise die Verhinderung eines Schöffen (vgl. BGH, Beschluss vom 02.05.2018 - 2 StR 317/17 –, BeckRS 2018,11025). | Abs. 31 | |
Der Vorsitzende hat bei der Entscheidung einen Ermessensspielraum, dessen Ausübung revisionsrechtlich lediglich am Maßstab der Willkür zu überprüfen ist (vgl. auch BGH, Beschluss v. 18.03.2020 - 4 StR 374/19, NStZ 2020, 757). Es begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass die Revisionsgerichte die Rüge der vorschriftswidrigen Besetzung (§ 338 Nr. 1 StPO) jedenfalls dann lediglich einer Willkürkontrolle – und keiner umfassenden Richtigkeitskontrolle – unterziehen, wenn die Entbindung eines Schöffen zur Überprüfung steht (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 16.12.2021 – 2 BvR 2076/21 –, juris; BGH, 05.08.2021, a.a.O.). | Abs. 32 | |
Ob die Entscheidung eines Gerichts auf Willkür, also auf einem Fall grober Missachtung oder grober Fehlanwendung des Gesetzesrechts beruht, oder ob sie darauf hindeutet, dass ein Gericht Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt, kann nur angesichts der Umstände des jeweiligen Einzelfalls beurteilt werden (vgl. BVerfG, a.a.O). | Abs. 33 | |
Bei der antragsgemäßen Entbindung aufgrund eines von dem Schöffen angezeigten Erholungsurlaubs liegt Willkür in aller Regel fern (vgl. BGH, Beschluss vom 05.08.2015 – 5 StR 276/15 –; KG, Beschluss vom 27.04.2020 â 4 Ws 29/20 –, jeweils juris), denn während berufliche Gründe nur ausnahmsweise die Verhinderung eines Schöffen rechtfertigen können, ist der auf bereits anberaumte Sitzungstage fallende und mit Ortsabwesenheit einhergehende Erholungsurlaub eines Schöffen ein Umstand, der regelmäßig zur Unzumutbarkeit der Dienstleistung i.S.d. § 54 Abs. 1 S. 2 GVG führt (vgl. auch BGH, Beschluss vom 05.08.2021, a.a.O.). | Abs. 34 | |
Macht der Schöffe einen derartigen Verhinderungsgrund geltend, darf der Vorsitzende sich mit seiner Erklärung begnügen, wenn er sie für glaubhaft und weitere Nachforschungen für überflüssig hält (vgl. BGH, a.a.O.; Urteil V. 08.12.1976 - 3 StR 363/76, NJW 1977, 443; vom 22.06.1982 - 1 StR 249/81, NStZ 1982, 476; vom 14.12.2016 - 2 StR 342/15 -, NStZ 2017, 491, 492). Nur ausnahmsweise können Rückfragen und Nachforschungen geboten sein, etwa wenn der Schöffe wegen längeren Urlaubs im Geschäftsjahr bereits von der Dienstleistung befreit worden war oder wenn ein Anhaltspunkt dafür besteht, dass der Schöffe sich der Teilnahme an der Hauptverhandlung zu entziehen versucht (vgl. BGH, Urteil vom 08.12.1976 - 3 StR 363/76, a.a.O.). Die Verschiebung eines länger geplanten Erholungsurlaubs ist für den Schöffen in aller Regel unzumutbar, dahingehende Fragen des Vorsitzenden sind mithin regelmäßig entbehrlich. Wie der Schöffe seinen Erholungsurlaub verbringt, ist seine Sache und unterliegt deshalb nicht der Erforschung und Bewertung durch den Vorsitzenden. Zur Erfüllung der Anforderungen aus § 54 Abs. 3 Satz 2 GVG genügt es bei einer Befreiung wegen Erholungsurlaubs, die Gründe für die Entbindung stichwortartig zu dokumentieren (BGH, Beschluss vom 05.08.2015 - 5 StR 276/15, a.a.O.). | Abs. 35 | |
c) Gemessen an diesen Grundsätzen stellt die Entscheidung des Vorsitzenden vom 20.12.2021, sich mit den Erklärungen des Hauptschöffen B. zu begnügen und ihn von der Dienstleistung am 13.04.2022 und den Folgeterminen zu entbinden, keine willkürliche Verletzung von § 54 Abs. 1 GVG dar. | Abs. 36 | |
Der Vorsitzende hatte auf den nur fernmündlich gestellten Entbindungsantrag des Schöffen vom 06.12.2021 hin eine Nachfrage bei dem Schöffen veranlasst und um Vorlage von Buchungsnachweisen bitten lassen. Diese Nachfrage erfolgte mit E-Mail der Schöffengeschäftsstelle vom 14.12.2021. Die geforderten Nachweise hat der Schöffe zwar im Folgenden nicht vorgelegt. Er hat dies aber damit erklären können, dass er für den im Zeitraum vom 04.04.2022 bis 16.04.2022, in den auch der Beginn der Hauptverhandlung fiel, geplanten Campingurlaub mit seiner berufstätigen Ehefrau, die diesen Zeitraum mit ihren Kolleginnen zuvor hatte abstimmen müssen, wegen der ungewissen Coronalage noch keine konkrete Buchung vorgenommen habe. Aufgrund des mit den Kolleginnen seiner Ehefrau nach Angaben des Schöffen bereits verbindlich abgestimmten und damit feststehenden Zeitfensters für einen mit Ortsabwesenheit verbundenen Camping-Urlaub des Schöffen ist die Entbindungsentscheidung des Vorsitzenden jedenfalls nicht willkürlich. Denn nach der Mitteilung des Schöffen stand nicht das „Ob“ eines regelmäßig mit Ortsabwesenheit verbundenen Camping-Urlaubs im genannten Zeitfenster in Frage, sondern lediglich die konkrete Ausgestaltung bzw. das konkrete Urlaubsziel. Die von der Rechtsprechung geforderte „stichwortartige Dokumentation“ der Gründe für die erfolgte Entbindung war mit der Bezugnahme auf die in den Schöffenakten befindliche Mitteilung des Schöffen vom 19.12.2021 noch ausreichend. | Abs. 37 | |
Soweit in der Revisionsbegründung Mutmaßungen darüber angestellt werden, der Schöffe habe seine (nicht nachgewiesene) Urlaubsreise möglicherweise nur vorgeschoben, um in dem konkreten Verfahren gegen den Angeklagten, das einen „politischen Aspekt“ gehabt habe, nicht richten zu müssen, weshalb die Hinderungsgründe vom Vorsitzenden nachhaltiger zu hinterfragen gewesen wären, verkennt der Revisionsführer, dass der Schöffe seine urlaubsbedingte Verhinderung bereits am 06.12.2021 gegenüber der Geschäftsstelle angezeigt hatte, zu einem Zeitpunkt mithin, in dem er noch gar keine konkrete Ladung zu dem Termin am 13.04.2022 erhalten hatte. | Abs. 38 | |
3. Die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten führt nicht zur Aufdeckung eines ihn beschwerenden Rechtsfehlers. | Abs. 39 | |
a) Nach den wirksamen Berufungsbeschränkungen begegnet der allein der ohnehin nur sehr eingeschränkten Prüfung des Revisionsgerichts noch unterliegende Strafausspruch gegen den Angeklagten keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. | Abs. 40 | |
b) Auch die Feststellung der Erledigung des Adhäsionsverfahrens nach dem vollständigen Anerkenntnis des Angeklagten, der Zahlung des Schmerzensgeldes noch während der laufenden Berufungshauptverhandlung und der übereinstimmenden Erledigungserklärung von Adhäsionskläger und des Adhäsionsbeklagten ist nicht zu beanstanden. | Abs. 41 | |
(online seit: 14.02.2023) | ||
Zitiervorschlag: Gericht, Datum, Aktenzeichen, JurPC Web-Dok, Abs. |
Zitiervorschlag: Karlsruhe, OLG, Beginn der Strafantragsfrist bei Beleidigungen in sozialen Medien - JurPC-Web-Dok. 0023/2023 |