JurPC Web-Dok. 19/2023 - DOI 10.7328/jurpcb202338219

OVG Schleswig-Holstein

Beschluss vom 12.01.2023

4 LA 61/22

Vorübergehende technische Übermittlungsstörung

JurPC Web-Dok. 19/2023, Abs. 1 - 15


Leitsatz:

Zur Wiedereinsetzung in die versäumte Frist des § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG wegen einer vorübergehenden technischen Störung bei der gebotenen Übermittlung des Zulassungsantrages als elektronisches Dokument und einem im Wege der Ersatzeinreichung nicht fristgerecht bei Gericht eingegangenem Fax.

Gründe:

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 28. Juli 2022 ergangene, auf der Geschäftsstelle am 10. August 2022 niedergelegte, am 20. Oktober 2022 berichtigte und den Klägerinnen sowie dem Kläger am 24. Oktober 2022 zugestellte Urteil ist zulässig. Zwar haben die Klägerinnen und der Kläger die einmonatige Frist des § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG zur Stellung des Antrages auf Zulassung der Berufung versäumt, weil bis zum Ablauf dieser Frist am 24. November 2022 weder eine nach § 55d Satz 1 VwGO formgerechte Übermittlung eines Zulassungsantrages als elektronisches Dokument noch eine rechtzeitige Ersatzeinreichung i.S.d. § 55d Satz 3 und 4 VwGO erfolgt ist, doch ist ihnen insoweit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, § 60 Abs. 1 VwGO.Abs. 1
1. Klägerseitig wurde zwar zunächst ausreichend glaubhaft gemacht, dass eine Übermittlung des Zulassungsantrages als elektronisches Dokument in der Zeit vom 24. November 2022, 14:06 Uhr bis zum 25. November 2022, 03:33 Uhr aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich war. Ausweislich des übersandten Ausdrucks aus dem Internetauftritt der Bundesrechtsanwaltskammer (https://portal.beasupport.de/verfuegbarkeit ) bestand in dieser Zeit eine Störung im System für das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA), so dass die beA-Webanwendung für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte nicht zur Verfügung stand. Unerheblich ist an dieser Stelle, ob die Ursache für die vorübergehende technische Unmöglichkeit in der Sphäre des Gerichts oder in der Sphäre des Einreichenden zu suchen ist (OVG Schleswig, Beschl. des Senats v. 25.01.2022 - 4 MB 78/21 -, juris Rn. 4 m.w.N.).Abs. 2
2. Eine deshalb nach § 55d Satz 3 und 4 VwGO zulässige Ersatzeinreichung nach den allgemeinen Vorschriften erfolgte jedoch ebenfalls nicht fristgerecht. Ein von der Klägerseite behaupteter Eingang des Zulassungsantrages vom 24. November 2022 (nebst Anlagen zur Glaubhaftmachung der vorübergehenden technischen Störung) am Verwaltungsgericht per Fax vom 24. November 2022, 16:05 Uhr lässt sich trotz Vorlage eines entsprechenden Sendeberichtes mit „OK-Vermerk“ nach einer hausinternen Recherche nicht feststellen. Nach einem Vermerk der hiesigen Geschäftsstelle vom 6. Dezember 2022 ist nach Auskunft der örtlichen IT-Stelle, die sowohl das Verwaltungsgericht als auch das Oberverwaltungsgericht betreut, am 24. November 2022 kein entsprechendes Fax des Prozessbevollmächtigten der Klägerinnen und des Klägers eingegangen. Nach Auskunft der Poststelle der gemeinsamen Wachtmeisterei seien besonders in der 47. KW sehr wenig Faxe beim VG / OVG eingegangen, was auffällig sei, aber nicht geklärt werden könne.Abs. 3
Ein fristwahrender Schriftsatz, der per Fax übermittelt wird, ist grundsätzlich erst in dem Zeitpunkt eingegangen, in dem er vom Empfangsgerät des Gerichts ausgedruckt wird. Anhaltspunkte dafür, dass die abgesandten Signale im Empfangsgerät des Gerichts vollständig eingegangen sind und ihr Ausdruck nur infolge eines Fehlers oder fehlerhafter Handhabung des Empfangsgeräts nicht zu einem Ausdruck geführt haben, so dass der Zugang zu fingieren wäre (vgl. OVG Schleswig, Beschl. v. 08.04.2021 - 5 LA 133/20 -, juris Rn. 2), bestehen nicht. Ein mit einem „OK-Vermerk“ versehener Sendebericht belegt im Übrigen nur das Zustandekommen der Verbindung, nicht aber die erfolgreiche Übermittlung der Signale an das Empfangsgerät (OVG Schleswig, Beschl. d. Senats v. 02.12.2021 - 4 MB 54/21 -, n.v.; BGH, Beschl. v. 12.04.2016 - VI ZB 7/15 - juris Rn. 7; OVG Lüneburg, Beschl. v. 14.09.2018 - 2 LA 1106/17 -, juris Rn. 8; vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 14.06.2017 - 2 B 57.16 -, juris Rn. 2).Abs. 4
3. Da die versäumte Rechtshandlung jedoch bereits mit Schreiben vom 25. November 2022 nachgeholt worden ist, indem der Schriftsatz mit dem Zulassungsantrag vom 24. November 2022 nebst Unterlagen zur Glaubhaftmachung einer vorübergehenden technischen Störung erneut und nunmehr formgerecht per beA an das Verwaltungsgericht übermittelt worden ist, kann der Senat den Klägerinnen und den Klägern gemäß § 60 Abs. 1 und 2 VwGO eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren. Es ist ausreichend glaubhaft gemacht, dass die Versäumung der Frist unverschuldet war. Die Klägerinnen und der Kläger haben das im Rahmen des § 55d VwGO ihrerseits Erforderliche zur Wahrung der Frist des § 78 Abs. 4 Satz 1 AsylG und zur Glaubhaftmachung einer vorübergehenden Unmöglichkeit der Übermittlung auf elektronischem Wege getan. Ihr Prozessbevollmächtigter hat die Ersatzeinreichung nebst Unterlagen zur Glaubhaftmachung einer vorübergehenden Unmöglichkeit der Übermittlung auf elektronischem Wege rechtzeitig per Fax veranlasst. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die entscheidende Ursache für die Fristversäumnis bei ihm liegt. Wird die Übermittlung fristwahrender Schriftsätze durch Telefax durch ein Gericht eröffnet, dürfen die aus den technischen Gegebenheiten dieses Kommunikationsmittels herrührenden besonderen Risiken nicht auf die Nutzer dieses Mediums abgewälzt werden. Das gilt im Besonderen für Störungen des Empfangsgeräts im Gericht (BGH, Beschl. v. 08.04.2014 - VI ZB 1/13 - juris Rn. 8; BVerwG, Beschl. v. 05.12.2016 - 6 B 17.16 -, juris Rn. 16). Eine solche lässt sich vorliegend nicht ausschließen. Die Klägerinnen und der Kläger wiederum durften im Hinblick auf den vorgelegten Sendebericht auch davon ausgehen, dass der Zulassungsantrag das Gericht innerhalb der einzuhaltenden Frist erreicht hat. Enthält der Sendebericht des verwendeten Faxgeräts – wie hier – den Vermerk „OK“, gibt es für den Absender regelmäßig keine tragfähigen Anhaltspunkte, dass die Übermittlung dennoch fehlgeschlagen sein könnte, noch hat er Anlass, sich beim Gericht über den Eingang des Faxes zu erkundigen (vgl. OVG Schleswig, Beschl. d. Senats v. 02.12.2021 - 4 MB 54/21 -, n.v.; OVG Schleswig, Beschl. v. 08.04.2021 - 5 LA 133/20 -, juris Rn. 3).Abs. 5
II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist aber unbegründet. Die Voraussetzungen der geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) und des Vorliegens eines Verfahrensmangels durch Versagung des rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) liegen nicht vor; jedenfalls haben die Klägerinnen und der Kläger sie nicht ausreichend dargelegt, vgl. § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG.Abs. 6
1. Die Berufung ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zuzulassen. Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn für die Entscheidung der Vorinstanz eine konkrete fallübergreifende, bisher in der Rechtsprechung noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung war, die auch für die Entscheidung im Rechtsmittelverfahren erheblich wäre und deren Klärung im Interesse der einheitlichen Rechtsanwendung oder der Fortbildung des Rechts geboten erscheint (Senat, Beschl. v. 29.05.2018 - 4 LA 56/17 -, juris Rn. 3). Neben der Herausarbeitung und Formulierung einer bestimmten, höchst- und/oder obergerichtlich noch nicht hinreichend geklärten Frage rechtlicher oder tatsächlicher Art ist anzugeben, dass diese Frage nach der Rechtsansicht und den – ihrerseits nicht mit beachtlichen Zulassungsgründen angegriffenen – tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts für die Entscheidung des Rechtsstreites erheblich ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt, ihre Beantwortung also nicht wesentlich auf Fragen einer fallbezogenen Rechtsanwendung oder die Umstände des Einzelfalls abzustellen hat. Darzulegen sind mithin die Klärungsbedürftigkeit, ihre Klärungsfähigkeit und ihre allgemeine Bedeutung (OVG Schleswig, Beschl. v. 13.04.2015 - 2 LA 39/15 -, juris Rn. 2; Beschl. des Senats v. 15.04.2020 - 4 LA 152/19 -, juris Rn. 5 m.w.N.; Berlit in: GK-AsylG, Stand April 2016, § 78 Rn. 592, 599).Abs. 7
Daran gemessen kommt der Frage,Abs. 8
ob eine alleinerziehende 60-jährige Frau mit zwei minderjährigen Kindern, die in Rumänien internationalen Schutzstatus erhalten hat, allein schon aufgrund ihres Alters zu dem Personenkreis gehört, der als besonders vulnerabel einzuordnen ist,Abs. 9
schon nach dem eigenen Vorbringen der Klägerinnen und des Klägers keine verallgemeinerungsfähige, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zu. Sie weisen selbst darauf hin, dass in der höchstrichterlichen oder obergerichtlichen Rechtsprechung keine Definition der vulnerablen Personengruppen existiere. Die Frage einer besonderen Vulnerabilität sei vielmehr im konkreten Einzelfall zu beurteilen. Die Einordnung wiederum hänge „von einer Vielzahl individueller Umstände und Faktoren wie etwa dem Alter, dem Geschlecht, dem Gesundheitszustand, der Volkszugehörigkeit, der Ausbildung, den sonstigen Erfahrungen, Fertigkeiten und Kenntnissen sowie dem Vermögen und den familiären oder freundschaftlichen Verbindungen ab“ (so laut Zulassungsantrag VG Hamburg, Urt. v. 06.01.2022 - 16 A 2623/20).Abs. 10
Im Übrigen ist es auf diese Fragestellung nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts auch nicht entscheidungserheblich angekommen. Anders als die Klägerseite behauptet, hat sich das Verwaltungsgericht zu dem klägerischen Vortrag, sie würden zu dem Personenkreis gehören, der als besonders vulnerabel einzuordnen sei, sehr wohl verhalten, diesem Umstand aber keine entscheidungserhebliche Bedeutung beigemessen. Es hat ausgeführt, dass im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährten Schutzstandard der Grundrechte unter Umständen auch die spezifische Situation des Betroffenen in den Blick zu nehmen und dabei zwischen gesunden und arbeitsfähigen Schutzberechtigten sowie vulnerablen Gruppen mit besonderer Verletzbarkeit zu unterscheiden sei. Zu letzteren zählten etwa „Kleinkinder, minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, Hochschwangere, erheblich Erkrankte etc.“ Allerdings sei es auch nicht von vornherein auszuschließen, dass die einer vulnerablen Gruppe zumutbare Eigeninitiative generell nicht zum Erfolg führen könnte (Urteil S. 6). In der Würdigung des konkreten Falles hat das Verwaltungsgericht zugunsten der Klägerinnen und des Klägers angenommen, dass es sich bei der dreiköpfigen Familie, bestehend aus einer erwachsenen Frau im Alter von 60 Jahren und ihren zwei Kindern im Alter von 16 und 17 Jahren, um vulnerable Personen handele, ihnen bei einer Rückkehr nach Rumänien aber dennoch keine Situation extremer materieller Not drohe (Urteil S. 12 oben).Abs. 11
2. Schließlich kann die Berufung auch nicht wegen Versagung des rechtlichen Gehörs gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO zugelassen werden. Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei der Entscheidungsfindung in Erwägung zu ziehen (BVerwG, Beschl. v. 15.09.2011 - 5 B 23.11 -, juris Rn. 3). Das Gericht muss jedoch dem zur Kenntnis genommenen und in Erwägung gezogenen Vorbringen nicht auch in der Sache folgen, sondern kann aus Gründen des materiellen Rechts oder des Prozessrechts zu einem anderen Ergebnis gelangen, als die Beteiligten es für richtig halten. So liegt es hier. Wie bereits ausgeführt, hat das Verwaltungsgericht das klägerische Vorbringen zu ihrer Vulnerabilität sehr wohl zur Kenntnis genommen, ist in der Würdigung nur nicht zu dem von der Klägerseite für richtig erachteten Ergebnis gekommen.Abs. 12
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.Abs. 13
Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).Abs. 14
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).Abs. 15

(online seit: 07.02.2023)
Zitiervorschlag: Gericht, Datum, Aktenzeichen, JurPC Web-Dok, Abs.
Zitiervorschlag: OVG Schleswig-Holstein, Vorübergehende technische Übermittlungsstörung - JurPC-Web-Dok. 0019/2023