JurPC Web-Dok. 124/2018 - DOI 10.7328/jurpcb2018339124

KG Berlin

Beschluss vom 06.08.2018

3 Ws (B) 168/18 - 162 Ss 48/18

Einsicht in die Rohmessdaten bei standardisiertem Messverfahren

JurPC Web-Dok. 124/2018, Abs. 1 - 16


Leitsätze:

1. Rügt die Rechtsbeschwerde, keinen Zugang zur sog. Lebensakte und den Rohmessdaten erhalten zu haben, so hat sie substantiiert vorzutragen, was sich aus diesen Unterlagen ergeben hätte. Sollte ihr dies nicht möglich sein, weil ihr die Unterlagen noch immer nicht vorliegen, so muss sich der Rechtsbeschwerdeführer bis zum Ablauf der Rechtsmittelbegründungsfrist weiter um die Einsicht bemüht haben und die entsprechenden Anstrengungen substantiiert dartun.

2. Das Urteil kann nur dann auf einem Mangel des § 267 Abs. 3 StPO beruhen, wenn auch nach Heranziehung der Urteilsformel und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs der Urteilsgründe zweifelhaft bleibt, welcher Ordnungswidrigkeitentatbestand erfüllt ist.

3. Dass auf dem Messfoto einzelne Teile des Gesichts verdeckt sind, steht der Bewertung, es sei zur Identifikation des Fahrers grundsätzlich geeignet, nicht per se entgegen.

Gründe:

Abs. 1
Der Schriftsatz des Verteidigers vom 10. Juli 2018 lag vor, gab zu einer anderen Entscheidung jedoch keinen Anlass. Ergänzend führt der Senat Folgendes aus:Abs. 2
1. Die Ausführungen des Rechtsbeschwerdeführers zur Nichtigkeit des Urteils gehen fehl. Die Urteilsgründe müssen in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise zum Ausdruck bringen, welchen gesetzlichen Tatbestand das Gericht als erfüllt ansieht und welche Vorschriften für die Bemessung von Rechtsfolgen maßgeblich waren. Urteilstenor (§ 260 Abs. 4 StPO) und Urteilsgründe (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO) müssen erkennen lassen, gegen welche Tatbestände ein Betroffener verstoßen hat. Genügt das Urteil diesen Anforderungen, leidet es, wenn die Tat in der Urteilsformel nicht näher bezeichnet ist, aufgrund dessen nicht an einem durchgreifenden Rechtsfehler. Das Urteil kann nur dann auf einem Mangel des § 267 Abs. 3 StPO beruhen, wenn auch nach Heranziehung der Urteilsformel und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs der Urteilsgründe zweifelhaft bleibt, welchen Ordnungswidrigkeitentatbestand das Gericht als erfüllt ansieht (vgl. Senat, Beschluss vom 10. Januar 2018 – 3 Ws (B) 10/18 –; OLG Düsseldorf NZV 2000, 382; OLG Hamm NZV 2000, 95).Abs. 3
Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil gerecht. Zwar enthält die Urteilsformel entgegen § 71 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 260 Abs. 4 Satz 1 StPO keine Bezeichnung des vom Amtsgericht als verwirklicht angesehenen Ordnungswidrigkeitentatbestandes, jedoch wird dieser aus den Urteilsgründen, dort unter IV. (UA S. 6), eindeutig ersichtlich.Abs. 4
2. Soweit der Rechtsbeschwerdebegründung die Rüge der Beschränkung der Verteidigung in einem wesentlichen Punkt (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 338 Nr. 8 StPO) zu entnehmen ist, versäumt sie es, substantiiert vorzutragen, welche Tatsachen sich aus welchen (genau zu bezeichnenden Stellen der beizuziehenden bzw. anzufordernden) Unterlagen ergeben hätten und welche Konsequenzen für die Verteidigung daraus folgten. Sollte dem Verteidiger, was hier nicht nur naheliegt, sondern auch vorgetragen wird, eine solche konkrete Bezeichnung vorenthaltenen Materials (hier: die sog. Lebensakte und die – über die aktenkundigen Rohmessdaten zur in Rede stehenden Messung hinausgehenden – digitalen Falldaten der gesamten Messserie) nicht möglich sein, weil ihm dieses noch immer nicht vorliegt, so muss er sich bis zum Ablauf der Frist zur Erhebung der Verfahrensrüge weiter um die Einsicht bemüht haben und die entsprechenden Anstrengungen gegenüber dem Rechtsbeschwerdegericht auch dartun (vgl. BGH NStZ 2010, 530; Senat DAR 2017, 593 und 2013, 211; OLG Bamberg DAR 2016, 337; OLG Celle NZV 2013, 307; OLG Hamm NStZ-RR 2013, 53).Abs. 5
An entsprechendem Vortrag fehlt es hier. Die Verfahrensrüge ist daher bereits unzulässig.Abs. 6
Zwar trägt der Verteidiger vor, telefonisch bei der Bußgeldstelle angefragt zu haben, ob sie ihm die Lebensakte zum Zwecke der Rechtsbeschwerdebegründung übersenden würde, was die Behörde abgelehnt habe. Jedoch genügt dieser Vortrag nicht den Erfordernissen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG. Darzulegen wäre gewesen, wann diese Anfrage erfolgt war und insbesondere, welcher Mitarbeiter der Bußgeldstelle sie abschlägig beschied. Dieses Darlegungserfordernis stellt – anders als der Verteidiger meint – keine Überspannung der Anforderungen an das notwenige Vorbringen dar. Abgesehen davon, dass sich bereits aus den genannten Vorschriften ergibt, dass die den gerügten Mangel begründenden Tatsachen vollständig, klar und umfassend vorzutragen sind, ist es dem Senat hier in Ermangelung entsprechenden Vortrags nicht möglich, eine dienstliche Stellungnahme des betreffenden Mitarbeiters der Bußgeldstelle einzuholen.Abs. 7
3. Ob dem Betroffenen Einsicht in „die digitalen Falldaten der gesamten Messserie" zu gewähren gewesen wäre oder ob diesem Begehren datenschutzrechtliche oder andere Umstände entgegengestanden hätten, kann der Senat auch hier dahingestellt lassen (vgl. ebenso Senat, Beschluss vom 27. April 2018 – 3 Ws (B) 133/18 – (juris)).Abs. 8
Der Senat erkennt allerdings an, dass der Verteidiger, soweit dies zur Überprüfung des standardisierten Messverfahrens erforderlich ist, grundsätzlich auch in solche Unterlagen Einsicht nehmen kann, die sich nicht bei den Akten befinden (vgl. BGHSt 39, 291; 28, 239; Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 2). Denn die Verteidigung wird ohne Kenntnis aller Informationen, die den Verfolgungsbehörden zur Verfügung stehen, nicht beurteilen können, ob Beweisanträge gestellt oder Beweismittel vorgelegt werden sollen (vgl. Cierniak/Niehaus, a.a.O.). Das Informations- und Einsichtsrecht des Verteidigers kann daher deutlich weiter gehen als die Amtsaufklärung des Gerichts (vgl. Senat DAR 2013, 211 (Bedienungsanleitung)). Solch weitreichende Befugnisse stehen dem Verteidiger im Vorfeld der Hauptverhandlung auch und gerade bei standardisierten Messverfahren zu. Denn zum einen gibt es keinen Erfahrungssatz, dass ein standardisiertes Messverfahren stets zuverlässige Ergebnisse liefert, und zum anderen hat der Betroffene einen Anspruch darauf, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden (vgl. BGHSt 39, 291; Cierniak, zfs 2012, 664).Abs. 9
Das daraus folgende Recht auf einen „Gleichstand des Wissens" und auf Zugang zu den jedenfalls den Betroffenen betreffenden Messdaten ist jedoch nicht Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG). Dieses Verfahrensgrundrecht verlangt, dass einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen zugrunde gelegt werden, zu denen der Betroffene Stellung nehmen konnte (vgl. BVerfG 6, 12). Zwar umfasst das Recht auf effektive Stellungnahme auch das Recht auf Informationen über den Inhalt und den Stand des gerichtlichen Verfahrens und damit auf Akteneinsicht (vgl. Senat DAR 2013, 211). Einen Anspruch auf Erweiterung der Gerichtsakten vermittelt Art. 103 GG jedoch nicht (vgl. Senat DAR 2017, 593; Cierniak, zfs 2012, 664 und ausführlich Cierniak/Niehaus, DAR 2014, 2).Abs. 10
Die erhobene Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs kann hier schon deshalb keinen Erfolg haben; die Rechtsbeschwerde beanstandet die unterbliebene Einsicht in nicht bei der Akte befindliche Unterlagen. Der hier einschlägige Grundsatz der „Waffengleichheit", der dem Betroffenen die Möglichkeit verschafft, sich kritisch mit den durch die Verfolgungsbehörden zusammengetragenen Informationen auseinanderzusetzen, ist vielmehr Ausfluss der Gewährleistung eines fairen Verfahrens nach Art. 6 EMRK (vgl. Cierniak/Niehaus, a.a.O.).Abs. 11
4. Soweit mit der Rechtsbeschwerde im Zuge der Sachrüge beanstandet wird, der in der Hauptverhandlung vernommene Sachverstände Steinbart habe bekundet, das Messgerät sei nicht seiner Gebrauchsanweisung entsprechend aufgestellt bzw. verwendet worden, kann der Betroffene damit nicht durchdringen.Abs. 12
Der Senat hat erwogen, die erhobene Sachrüge insofern in eine ausgeführte Verfahrensrüge umzudeuten. Einen Erörterungsmangel und damit die Verletzung des § 261 StPO hat der Betroffene nicht gerügt. Es ist aber anerkannt, dass ein Irrtum des Beschwerdeführers in der Bezeichnung der Rüge unbeachtlich ist (vgl. BGHSt 19, 273 DAR 1977, 179; Senat, Beschlüsse vom 6. November 2014 – 3 Ws (B) 558/14 – und 13. Oktober 2014 – 3 Ss 119/14 –; OLG Bamberg NZV 2011, 44; Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO 61. Aufl., § 344 Rn. 10 m.w.N.). Maßgeblich ist die wirkliche rechtliche Bedeutung des Rechtsmittelangriffs, wie er Sinn und Zweck des Vorbringens entnommen werden kann (vgl. BGH NJW 2007, 02; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. m.w.N.).Abs. 13
Der von der Rechtsbeschwerdeschrift geführte urteilsfremde Angriff gegen die Beweiswürdigung des Urteils könnte allenfalls mit der Verfahrensrüge Erfolg haben. Denn der Betroffene macht geltend, dass sich das Amtsgericht nicht mit den Ausführungen des in der Hauptverhandlung gehörten Sachverständigen zur Aufstellung des Messgeräts befasst hat. Ergibt sich die Lückenhaftigkeit der Beweiswürdigung aber – wie hier – nicht aus den Urteilsgründen selbst, sondern erst aus der weiteren in der Sitzungsniederschrift beschriebenen Beweisaufnahme, die aber in der Beweiswürdigung keinen Niederschlag gefunden hat, ist der Erörterungsmangel nicht mit der Sachrüge, sondern mit einer ausgeführten Verfahrensrüge geltend zu machen. Nur so kann beanstandet werden, dass der Tatrichter das in der Hauptverhandlung eingeführte Beweismaterial nicht erschöpfend gewürdigt hat (vgl. Ott in Karlsruher Kommentar, StPO 7. Aufl., § 261 Rn. 82 unter Hinweis auf BGH NStZ 2001, 440 und StV 2002, 546). Es ist anerkannt, dass mit der ausgeführten Verfahrensrüge Erörterungsmängel beanstandet werden können, deren fehlerhafte Würdigung sich aus dem Sitzungsprotokoll ergibt. Dazu gehören die Fälle, bei denen eine nach § 251 StPO verlesene Zeugenaussage (vgl. BGH StV 1990, 485) oder ein wesentliches Detail einer verlesenen Urkunde (vgl. BGH StV 2003, 319; NStZ 2007, 115) mit tragenden Urteilfeststellungen unvereinbar sind oder sich deren Erörterung zumindest aufdrängen musste (vgl. BGH NStZ-RR 2011, 214; Ott in Karlsruher Kommentar, a.a.O., § 261 Rn. 82).Abs. 14
Indem die Rechtsbeschwerde die Nichterörterung der durch den Sachverständigen unter dem Gesichtspunkt eines Verstoßes gegen die Gebrauchsanweisung zur Aufstellung des Messgeräts bekundeten Äußerungen beanstandet, rügt sie einen Erörterungsmangel. Die in den Blick genommene Umdeutung der erhobenen Sachrüge kann der Verfahrensrüge gleichwohl nicht zur Zulässigkeit verhelfen. Denn ein urteilsfremder Erörterungsmangel kann nur dann zur Grundlage einer Verfahrensrüge gemacht werden, wenn die unterbliebene Auseinandersetzung verfahrensrechtlich beweisbar ist (vgl. BGH NStZ-RR 2009, 180). Das ist nur der Fall, wenn das Beweismittel prozessual eine objektive Grundlage hat, z.B. in einer verlesenen Urkunde oder in einer wörtlichen Protokollierung nach § 273 Abs. 3 StPO (Ott in Karlsruher Kommentar, a.a.O., § 261 Rn. 82 a.E.). Dies ist hier nicht der Fall. Die Bekundungen des Sachverständigen wurden lediglich inhaltlich, nicht jedoch wörtlich protokolliert. Ihre Berücksichtigung liefe mithin auf eine Rekonstruktion der Hauptverhandlung hinaus, die dem Senat verwehrt ist (vgl. BGH NStZ-RR 2009, 180).Abs. 15
5. Der in den Urteilsgründen nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG in Bezug genommene Hochglanzausschnitt aus dem Messfoto (Bl. 56 d.A.), der aufgrund der Verweisung Urteilsbestandteil geworden ist, erweist sich nach Inaugenscheinnahme durch den Senat als zur Identifikation des darauf abgebildeten Fahrzeugführers grundsätzlich geeignet. Er ist hinreichend kontrastreich und scharf. Insbesondere sind die in den Urteilsgründen bezeichneten Merkmale der abgebildeten Person, nämlich die Gesichtsform, die Form der Nase, die engstehenden Augen, die leicht abstehenden Ohren und die Form des Mundes darauf deutlich zu erkennen. Daran, dass die Tatrichterin – wie in den Urteilsgründen dargestellt (UA S. 3) – anhand dieses Fotos einen Vergleich auf Übereinstimmung der darauf abgebildeten Person mit dem äußeren Erscheinungsbild des in der Hauptverhandlung anwesenden Betroffenen vorzunehmen vermochte, hat der Senat keinen Zweifel. Der Umstand, dass – wie hier die Stirn durch den Innenrückspiegel und die anatomisch rechte Hälfte der Kinnpartie durch eine Hand – einzelne Teile des Gesichts auf dem Messfoto verdeckt bzw. nicht erkennbar sind, führt nicht zu dessen genereller Ungeeignetheit zur Fahreridentifizierung (vgl. Senat, Beschluss vom 26. Januar 2018 – 3 Ws (B) 11/18 –; OLG Hamm DAR 2016, 366 zu einem vergleichbar gelagerten Sachverhalt, in dem die Stirn durch den Rückspiegel sowie die Augenpartie durch eine Sonnenbrille verdeckt waren).Abs. 16

 
(online seit: 11.09.2018)
 
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