JurPC Web-Dok. 140/2022 - DOI 10.7328/jurpcb20223710140

Benedikt Schwardt [*]

Online-Gerichtsverhandlungen: Ein Vorschlag zur Öffentlichkeit

JurPC Web-Dok. 140/2022, Abs. 1 - 9


Der technische Fortschritt weckt zu Recht den Wunsch danach, dass auch der deutsche Zivilprozess weit stärker von den mit ihm verbundenen Möglichkeiten profitiert als bisher. So wurden in den letzten Jahren unter anderem verschiedentlich Überlegungen dazu angestellt, wie reine Onlinegerichtsverhandlungen in die Zivilprozessordnung integriert und durchgeführt werden könnten.[1] Dabei rückte das Thema vor einem Bildschirm an Gerichtsterminen teilnehmen zu können durch die Coronapandemie und die hierdurch erforderlich gewordene Kontaktreduzierung verstärkt in den Fokus.[2] Der vorliegende Beitrag möchte einen soweit ersichtlich neuen Vorschlag dazu unterbreiten, wie auch in reinen Onlinegerichtsverhandlungen die Öffentlichkeit hergestellt werden könnte. Dies zeigte sich in der bisherigen Diskussion als einer der wesentlichen Problemschwerpunkte.[3]Abs. 1

I. Aktuelle Rechtslage und praktische Vorteile reiner Onlinegerichtsverhandlungen

Für die Parteien, ihre Bevollmächtigten und Beistände sowie für Zeugen[4] und Sachverständige sieht bereits der aktuelle § 128a I, II ZPO die Möglichkeit vor, online an Gerichtsterminen teilzunehmen. Für Dolmetscher enthält § 185 Ia GVG eine entsprechende Regelung. Das Gericht[5] und die Öffentlichkeit müssen dagegen auch bei Anwendung des § 128a ZPO noch persönlich am Terminsort erscheinen.[6] Den Beteiligten bleibt es, selbst wenn ihnen eine Onlineteilnahme gestattet wurde, unbenommen in Präsenz im Sitzungssaal zu erscheinen.[7] Damit enthält § 128a ZPO keine Form einer echten Onlineverhandlung, sondern schafft lediglich eine besondere Möglichkeit der Teilnahme für einen begrenzten Personenkreis.[8]Abs. 2
Um die gesetzlich vorgesehene Art der Öffentlichkeit zu gewährleisten, müssen die Verhandlungen daher zurzeit selbst dann, wenn nach § 128a ZPO eine Onlineteilnahme aller Beteiligten geplant ist, vielfach in die Gerichtssäle anberaumt werden. Zwar erlaubt es § 219 ZPO den Richtern, auch auf die Dienstzimmer zu terminieren,[9] die Öffentlichkeit würde sich dort jedoch zumeist praktisch nur schwerlich annehmbar einrichten lassen. Außerdem müsste Beteiligten, welche trotz Gestattung der Onlineteilnahme in Präsenz erscheinen, in dem Zimmer Platz geschaffen und durch das Gericht Bildschirm, Kamera und Mikrophon zur Verfügung gestellt werden.[10] Eine gute Alternative zur vor Ort erscheinenden Öffentlichkeit bei digitalen Verhandlungen wäre deshalb unteren anderem auch mit dem erheblichen Vorteil verbunden, dass die Richterschaft die Verhandlungen an ihren Dienstcomputern[11] in ihrem Richterzimmern oder sogar aus dem Homeoffice hosten und leiten könnte. Die Gerichte müssten damit weniger Sitzungssäle vorhalten, in jenen weniger Konferenztechnik bereithalten[12] und betreuen und wären bei der Terminierung nicht mehr auf noch freie Zeiten in den Sitzungssälen beschränkt. Letzteres könnte dabei sogar einen erheblichen Beitrag zur Verfahrensbeschleunigung leisten.[13] Reine Onlinegerichtsverhandlungen empfehlen sich dennoch nur dann, wenn ihre Vorteile etwaige Nachteile für die Öffentlichkeit überwiegen.Abs. 3

II. Bisherige Lösungsansätze

In der bisherigen Diskussion finden sich zwei unterschiedliche Lösungsansätze dazu, wie die Öffentlichkeit hergestellt werden könnte. Beide gehen von einer Bild- und Tonübertragung aus.Abs. 4

1. Öffentlichkeit über eigene Endgeräte

Zum einen wird erwogen die Gerichtsverhandlung durch einen Livestream[14] oder einen offenen Meetingraum[15] in das öffentliche Internet zu übertragen.[16] Interessierte sollen sich über eine URL auf der Internetseite des Gerichts[17] oder dort aushängende QR-Codes[18] einwählen können. Gegen diesen Ansatz werden insbesondere datenschutzrechtliche Bedenken[19] sowie die Sorge um die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten vorgebracht.[20] So birgt er insbesondere das Risiko, dass die Verfahrensbeteiligten aufgenommen[21] und über Video- und Bildausschnitte im Internet verunglimpft oder lächerlich gemacht werden könnten. Um dem entgegenzuwirken wird teilweise ein neuer entsprechender Straftatbestand gefordert.[22] Dessen Verfolgung wird indes durch die digitalen Verschleierungsmöglichkeiten praktisch aufwändig und gegen User im Ausland teilweise nicht durchsetzbar sein. Digital-Rights-and-Privacy-Management Systeme mögen es technisch erschweren die Verhandlungen aufzunehmen, werden aber zumindest ein Abfilmen und Aufnehmen des Wiedergabegerätes durch ein anderes Gerät nicht verhindern können (analoge Lücke). Da inzwischen nahezu jedes Smartphone mit einer Kamera und einem Mikrophon ausgestattet ist, ließe sich die analoge Lücke ausgesprochen leicht ausnutzen. Zugleich können die aufgenommenen Daten mit den Smartphones unschwer sofort bearbeitet, verschickt und veröffentlicht werden. Eine Aufzeichnung derart veröffentlichter Gerichtsverhandlung lässt sich praktisch nicht zuverlässig verhindern.[23]Abs. 5

2. Öffentlichkeit über staatliche Endgeräte

Zum anderen wurde vorgeschlagen, die Verhandlungen in den Gerichten oder zumindest gerichtsnah, beispielsweise in den Räumen städtischer Bürgerservices, auf vor Ort gestellte staatliche Bildschirme und Kopfhörer zu übertragen.[24] Da die Daten der Verhandlungen damit nicht auf fremde Endgeräte geladen werden und Teilnehmer diese nicht von überall her unbeobachtet verfolgen können, dürfte das Missbrauchspotential hierbei deutlich geringer ausfallen. Für den Vorschlag müsste dafür allerdings eine entsprechende Konferenztechnik angeschafft, unterhalten und unter Personaleinsatz betreut werden.Abs. 6

III. Der Vorschlag

Hier soll daher der Vorschlag gemacht werden, die Öffentlichkeit bei Onlinegerichtsverhandlungen dadurch herzustellen, dass von der Verhandlung allein die Tonspur in das allgemein zugängliche Internet übertragen wird. Die Beteiligten des Prozesses selbst sollten dagegen durchgehend sowohl die Ton- als auch die Bildübertragung erhalten. Auf diese Weise müsste der Staat keine kostenintensiven Wiedergabegeräte beschaffen, zugleich würde das Missbrauchspotential durch die Verwendung nutzereigener Endgeräte reduziert. Insbesondere bräuchten die Beteiligten damit nicht mehr zu befürchten, dass unvorteilhafte oder nachteilig bearbeitete Bilder von ihnen in das Netz geraten. Die Öffentlichkeit könnte sich nur noch über Redebeiträge „lustig machen“, wobei diese aber nicht mehr mit einem Bild des Sprechers verknüpft wären. Die Wahrscheinlichkeit, von Fremden wiedererkannt zu werden, dürfte dadurch stark abnehmen. Zugleich könnte zwar das Wissen, möglicherweise von Personen außerhalb der eigenen Wahrnehmungsreichweite gehört zu werden, die Prozessbeteiligten hemmen.[25] Ein solcher Effekt wird jedoch deutlich geringer ausfallen als bei der Vorstellung, darüber hinaus auch noch gesehen zu werden. Der befürchtete Effekt ließe sich noch weiter abmildern, indem den Beteiligten über eine kleine Anzeige in Echtzeit mitgeteilt wird, wie viele Personen aus der Öffentlichkeit ihnen gerade folgen. Die Beteiligten würden insofern nur der Situation gleichgestellt, in der sie sich alle zusammen wie bisher mit der Öffentlichkeit persönlich im Gerichtssaal treffen. Man darf hoffen, dass die Verhandlungsatmosphäre unter Zuhilfenahme der Anzeige in etwa der der aktuellen Verhandlungen nach § 128a ZPO entspricht. Ein Vorteil für die Öffentlichkeit bestünde darin, dass jene nicht mehr an einen bestimmten Ort anreisen müsste.Abs. 7
Man mag dem Ansatz entgegenhalten, dass die Öffentlichkeit bei ihm weniger Informationen aus der Verhandlung erhielte und damit insgesamt schwächer ausfalle. Insofern stellt sich jedoch die Frage, ob die Öffentlichkeit die in einer Bildübertragung enthaltenen Informationen überhaupt benötigt, um ihre Kontrollfunktion zu erfüllen. Nach der herrschenden Meinung[26] wird es bereits im Rahmen des § 128a ZPO in seiner aktuellen Fassung nicht für erforderlich gehalten, dass die im Sitzungssaal erschienene Öffentlichkeit auch am visuellen Informationsfluss der online zugeschalteten Gegenstellen teilnimmt. Stattdessen wird das Mithören der akustischen Daten für ausreichend erachtet.[27] Auch der Gesetzgeber scheint die Übertragung des Tons für eine angemessene Teilnahme der Öffentlichkeit als ausreichend zu erachten, da er in § 169 I 3 GVG gerade nur die Ton-, nicht aber auch die Bildübertragung vorsieht. Nach der Vorschrift kann für Personen, die für Presse, Hörfunk, Fernsehen oder für andere Medien berichten, gerichtlich eine Tonübertragung aus dem Verhandlungssaal in einen Arbeitsraum zugelassen werden. Sollte die Beschränkung auf eine Tonübertragung rechtlich zulässig sein, erscheint die fehlende Bildübertragung angesichts der Vorteile dieser Lösung durchaus verzichtbar.Abs. 8
Wenn der hier unterbreitete Vorschlag prinzipiell überzeugt, bleiben verschiedene Feinjustierungen zu diskutieren. So könnte es sich etwa durchaus empfehlen, jenen nur beschränkt auf bestimmte Verfahren wie solche ohne besondere Bedeutung und Umfang umzusetzen. Eines aber ist sicher: Stellt man bei reinen Onlinegerichtsverhandlungen die Öffentlichkeit durch die Übertragung nur ihres Tons in das allgemein zugängliche Internet sicher, bleibt die Effektivität der Kontrolle durch die Gerichtsöffentlichkeit in hohem Maße gewährleistet. Zugleich würde den Einwänden gegen die Übertragung von Gerichtsverhandlungen in des Internet Rechnung getragen und deren Öffentlichkeit erheblich weniger aufwändig hergestellt, als wenn eine Teilnahme über staatliche Endgeräte angeboten wird.Abs. 9

Fußnoten:

[*] Der Autor ist zurzeit Rechtsreferendar des Landes Schleswig-Holstein. Die dem Aufsatz zugrundeliegende Idee hatte ich in der Veranstaltung „E-Justice-Tools und strukturierter Parteivortrag“ von Herrn Prof. Dr. Maximilian Herberger und Herrn Prof. Dr. Ralf Köbler an der DUV Speyer.
[1] Vgl. Fries/Podszun/Windau, RDi 2020, 49 (54, 55); Geissler, LTZ 2022, 12 (15).
[2] Freye/Schnebbe, ZD 2020, 502; Geissler, LTZ 2022, 12; Köbler, NJW 2021, 1072; Natter, RDi 2021, 301 (302); Oltmanns, NZA 2021, 525 (528); Windau, NJW 2020, 2753; mit konkreten Zahlen Duhe/Weißenberger, RDi 2022, 176 (179); vgl. Roller, NZS 2022, 481.
[3] Denninger, BB 2020, 1464 (1466f.); vgl. Fries/Podszun/Windau, RDi 2020, 49 (54, 55).
[4] Der Beitrag verwendet der besseren Lesbarkeit halber das generische Maskulinum. Soweit allein die männliche Form genannt wird, sind daher alle Geschlechter gemeint.
[5] Duhe/Weißenberger, RDi 2022, 176; Fries/Podszun/Windau, RDi 2020, 49 (52); Geissler, LTZ 2022, 12 (15); Köbler, NJW 2021, 1072 (1073); Oltmanns, NZA 2021, 525 (528); Rauscher, COVuR 2020, 2 (5); BeckOK ZPO/von Selle, 45. Ed. § 128a ZPO Rn.6; Musielak/Voit/Stadler ZPO/Stadler, 19. Aufl. § 128a ZPO Rn.1a; Saenger ZPO/Wöstmann, 9. Aufl. § 128a ZPO Rn.2.
[6] Denninger, BB 2020, 1464; MüKo ZPO/Fritsche, 6. Aufl. § 128a ZPO Rn.4; Zöller/Greger ZPO/Greger, 33. Aufl. § 128a ZPO Rn.6; Heß/Figgener, NJW-Spezial 2021, 585; BeckOK ZPO/Jaspersen, 45. Ed. § 219 ZPO Rn.2a; Rauscher, COVuR 2020, 2 (14); BeckOK ZPO/von Selle, 45. Ed. § 128a ZPO Rn.9; Windau, NJW 2020, 2753.
[7] Fuhlrott/Oltmanns, ArbRAktuell 2020, 222 (223); Fries/Podszun/Windau, RDi 2020, 49 (52); Zöller/Greger ZPO/Greger, 33. Aufl. § 128a ZPO Rn.3; MüKo ZPO/Fritsche, 6. Aufl. § 128a ZPO Rn.10; Heß/Figgener, NJW-Spezial 2021, 585; Musielak/Voit/Stadler ZPO/Stadler, 19. Aufl. § 128a ZPO Rn.2, 9; Windau, NJW 2020, 2753 (2755); Saenger ZPO/Wöstmann, 9. Aufl. § 128a ZPO Rn.3, zu den Parteien, ihren Bevollmächtigen und Beiständen: BeckOK ZPO/von Selle, 45. Ed. § 128a ZPO Rn.3, 7, nur zu den Parteien und Bevollmächtigen: Köbler, NJW 2021, 1072.
[8] Heß/Figgener, NJW-Spezial 2021, 585; Fries/Podszun/Windau, RDi 2020, 49 (52).
[9] BeckOK ZPO/Jaspersen, 45. Ed. § 219 ZPO Rn.2.
[10] Köbler, NJW 2021, 1072 (1073).
[11] Denninger, BB 2020, 1464 (1468).
[12] Denninger, BB 2020, 1464 (1468).
[13] Diskussionspapier der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ S.46, abrufbar unter: justiz.bayern.de/media/images/behoerden-und-gerichte/oberlandesgerichte/nuernberg/diskussionspapier_ag_modernisierung.pdf (letzter Zugriff am 04.09.2022).
[14] Antrag der FDP-Fraktion BT-Drs. 19/19120; Denninger, BB 2020, 1464 (1466f.).
[15] Dahingehend wohl Denninger, BB 2020, 1464 (1467).
[16] Fries/Podszun/Windau, RDi 2020, 49 (55); Voß, VUR 2021, 243 (249); Paschke, MMR 2019, 563 (564, 565); vgl. Roller, NZS 2022, 481 (487).
[17] Denninger, BB 2020, 1464.
[18] Diskussionspapier (s.o. Fn.14) S.48.
[19] Denninger, BB 2020, 1464 (1467); Zu den datenschutzrechtlichen Implikationen des § 128a ZPO Freye/Schnebbe, ZD 2020, 502-506.
[20] Diskussionspapier (s.o. Fn.14) S.48, 69; Fries/Podszun/Windau, RDi 2020, 49 (55); Voß, VUR 2021, 243 (249); Musielak/Voit/Stadler ZPO/Stadler, 19. Aufl. § 128a ZPO Rn.2 Fn.24.
[21] So zu Verfahren nach § 128a ZPO LAG Düsseldorf, Urteil v. 13.01.2021 – 12 Sa 453/20, BeckRS 2021, 3353 Rn.31.
[22] Paschke, MMR 2019, 563 (565).
[23] Diskussionspapier (s.o. Fn.14) S.69; zu Aufzeichnungen durch externe Verfahrensbeteiligte Köbler, NJW 2021, 1072 (1073).
[24] Diskussionspapier (s.o. Fn.14) S.47; Geissler, LTZ 2022, 12 (15); Musielak/Voit/Stadler ZPO/Stadler, 19. Aufl. § 128a ZPO Rn.2 Fn.24.
[25] Vgl. BeckOK GVG/Allgayer, 15. Ed. § 169 GVG Rn.21.
[26] So die überzeugende Einschätzung von Elzer, ArbRAktuell 2021, 171.
[27] U.a. MüKo ZPO/Fritsche, 6. Aufl. § 128a ZPO Rn.4; Zöller/Greger ZPO/Greger, 33. Aufl. § 128a ZPO Rn.6; Schultzky, NJW 2003, 313 (315); Musielak/Voit/Stadler ZPO/Stadler, 17. Aufl. § 128a ZPO Rn.2 hier in der 19. Aufl. aufgrund der nun besseren technischen Gerichtsausstattung offen gelassen; Saenger ZPO/Wöstmann, 9. Aufl. § 128a ZPO Rn.4; so wohl auch KG Urt. v. 12.05.2020 – 21 U 125/19, BeckRS 2020, 8170 Rn.16; aA Elzer, ArbRAktuell 2021, 171; BeckOK ZPO/von Selle, 45. Ed. § 128a ZPO Rn.9; offen gelassen in LAG Düsseldorf, Urteil v. 13.01.2021 – 12 Sa 453/20, BeckRS 2021, 3353 Rn.30.

[online seit: 04.10.2022]
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