JurPC Web-Dok. 52/2017 - DOI 10.7328/jurpcb201732452

Rainer Koitz *

Rechtsinformatik - eine Sisyphusaufgabe?

JurPC Web-Dok. 52/2017, Abs. 1 - 122


I. Begriffsaspekte

Abs. 1
Eine Analyse der spezifisch deutschen Rechtsinformatik offenbart zunächst zweierlei:[1] Abs. 2
a) Zahlreiche sich Rechtsinformatiker nennende Wissenschaftler waren und sind nicht mit der Entwicklung von Software zur Unterstützung juristischer Abläufe befasst. Abs. 3
b) Konsequent werden der Rechtsinformatik von diesen Juristen sekundäre Aspekte bis zum verbreiteten Begriff Informationsrecht[2] zugeordnet. Abs. 4
Derartige Arbeits- und Denkweisen finden sich vereinzelt auch bei Informatikern: Abs. 5
„…
Informatik, angewandte
Informatik als instrumentelle Wissenschaft (Beispiele: Rechtsinformatik, Geoinformatik)…
Informatik, praktische
Informatik-Disziplinen, welche sich vorwiegend mit der Entwicklung und Anwendung der Software-Komponenten befassen; Beispiele: Programmentwicklung …"[3]
Überwiegend wird jedoch in der Informatik-Literatur die Softwareentwicklung als grundlegender Arbeitsgegenstand hervorgehoben: Abs. 6
„Die Angewandte Informatik beschäftigt sich mit dem Einsatz von Rechnern in den verschiedensten Bereichen unseres Lebens … Einerseits gilt es, spezialisierte Programme für bestimmte Aufgaben zu erstellen, andererseits müssen Programme und Konzepte entworfen werden, die in vielfältigen Umgebungen einsetzbar sein sollen …"[4] Abs. 7
Entsprechend haben wir die Entwicklung und Nutzung problemorientierter Standard- und Anwendersoftware für juristische Aufgaben und Prozesse als Teilgebiet der Rechtsinformatik angesehen.[5] Abs. 8
In diesem Sinne generalisierend hatte Maximilian Herberger bereits 1988 postuliert:[6] Abs. 9
„… Man sollte … nicht übersehen, dass der wahrscheinlich viel tiefer (als der Einsatz verfügbarer Software – RK) reichende Rezeptionsweg über die Integration von Methoden der theoretischen Informatik in die Rechtstheorie verlaufen dürfte (und sollte) …"
Ein derartig möglicher Weg soll nachfolgend beschrieben werden. Abs. 10

II. Rechtsnormstruktur und Rechtsnormbeschreibung

Abs. 11
Die folgenden Überlegungen betreffen das BGB-Schuldrecht; für andere Rechtsgebiete wären Modifikationen zu beachten. Abs. 12
Maßgaben in Rechtsvorschriften lassen sich als die Juristen bekannte Verbindung von Tatbestandsteil und Folgehandlungsteil darstellen. Der Tatbestandsteil ist Voraussetzung oder, wenn man will, Bedingung des im Folgehandlungsteil bestimmten Handelns. Abs. 13
Rechtlich beachtlich wird diese Verbindung einerseits durch die Vorgabe des Sollens: Verpflichtung, Berechtigung oder Verbot. Die Sollensvorgabe lässt sich in einem deontischen Operator formalisieren. Abs. 14
Schließlich ist (rechtlich) die aussagenlogische Verbindung ("wenn" … "dann") zwischen Tatbestands- und Folgehandlungsteil zu beachten. Diese Vorgabe lässt sich in einem Konditionaloperator formalisieren. Abs. 15
Rechtsnormen können unterschiedlich definiert und strukturiert werden. Für die Tiefenstruktur der in Rechtsvorschriften enthaltenen Aufforderungen und ihrer Voraussetzungen ist ein grober Ansatz für eine Formalisierung unter Einbeziehung der oben angeführten Elemente:[7] Abs. 16
rechtsnorm ::= tatbestandsteil konditionaloperator deontischer_operator Abs. 17
folgehandlungsteil
Für den Konditionaloperator scheint auf den ersten Blick eine Beschränkung auf die Implikation ("immer wenn" …"dann") zu genügen, zumal sich Implikation und Replikation ("nur wenn" … "dann") bei entsprechender Modifikation der anderen Rechtsnormelemente vertauschen lassen. Bei vielen Anwendungsproblemen sind jedoch nicht nur Implikation und Replikation für die Formalisierung von Rechtsnormen zu beachten. Vielmehr sollten für eine gegebene oder gewählte Zielstellung alle beachtlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen in die jeweiligen Rechtsnormen einbezogen, mithin die Äquivalenz ("genau wenn" … "dann") als Konditionaloperator berücksichtigt werden. Abs. 18
Der Wortlaut der Rechtsvorschriften lässt regelmässig offen, ob die Erfüllung des Tatbestandsteils eine hinreichende Bedingung (Implikation) für die Gültigkeit der Aufforderung aus dem Folgehandlungsteil, deren notwendige Bedingung (Replikation) oder deren notwendige und hinreichende Bedingung (Äquivalenz) sein soll. Wie oben gesagt, ist letztendlich die Äquivalenz der ausgezeichnete Konditional­operator. Jedoch ergibt sich erst aus dem Zusammenwirken der Rechtsnormen, welcher Operator für die einzelne Rechtsnorm zu verwenden ist. Für viele Anwendungsprobleme sind nämlich die Konsequenzen aus der Wahrnehmung und Nichtwahrnehmung der in den Folgehandlungsteilen normierten Rechte und Pflichten zu erfassen. Abs. 19*
Die Rechtsnorm enthält mit dem Konditionaloperator eine aussagenlogische Komponente, ist selber aber kein aussagenlogisches Konstrukt. Hinsichtlich der Anwendbarkeit der Aussagenlogik auf Rechtsnormen bestehen unterschiedliche Auffassungen, die anscheinend eine Formalisierung von Rechtsnormsystemen erschwert hatten.[8] Die Differenzen resultieren aus dem Unterschied zwischen Rechts­norm und der Aussage über die Gültigkeit der Rechtsnorm im Rechtssystem. Letztere wird hier als Rechtsnormbeschreibung bezeichnet. Abs. 20
Die Gültigkeit der Rechtsnorm vorausgesetzt gilt, dass der mit dem deontischen Operator verknüpfte Folgehandlungsteil (der Term also, der keine Aussage ist) für den Fall der Implikation immer (bei Äquivalenz genau, bei Replikation nur) dann gültig ist, wenn die Auswertung des Tatbestandsteils für einen konkreten Tatbestand den aussagenlogischen Wahrheitswert wahr ergibt. Abs. 21
Elemente der Rechtsnormbeschreibung sind Tatbestandsteil und Rechtsfolgeteilbeschreibung (bei Gültigkeit für ein oder mehrere konkrete Subjekte unter bestimmten quantitativen und qualitativen Voraussetzungen) als aussagenlogische Variablen sowie die durch den Konditionaloperator abgebildete aussagenlogische Relation zwischen diesen Variablen.[9] Abs. 22
Abs. 23
Bezeichnet man die möglichen deontischen Operatoren mit G ("ist verpflichtet"), V ("ist verboten") und E ("ist berechtigt"), so kann man (bei Vernachlässigung weiterer Spezifikationen) definieren: Abs. 24
Abs. 25
"G(h)" soll beispielsweise beschreiben, dass (unter bestimmten Voraussetzungen) für ein oder mehrere Subjekte gilt, h zu tun. Abs. 26
Gebote, Verbote und Erlaubnisse sind bei Bezug auf das gleiche Subjekt wechselseitig transformierbar, und zwar nach folgenden Regeln: Abs. 27
Abs. 28
Die Bedeutung dieser Regeln liegt nicht in der für die Informatik-Anwendung verschiedentlich als erforderlich oder sie fördernd angesehenen Reduzierung auf einen deontischen Operator. Die Ersetzbarkeit der Operatoren kann jedoch zur übersichtlichen Darstellung der Oberflächenstruktur normativer Regelungen und bei deren Formalisierung genutzt werden. Abs. 29
Elemente von Rechtsnormbeschreibungen im BGB-Schuldrecht, und zwar sowohl im Tatbestandsteil wie auch in der Rechtsfolgeteilbeschreibung, sind zunächst Subjekte, Objekte und Operationen: Abs. 30
Abs. 31
Zwischen diesen Elementen können einmal quantitative Beziehungen bestehen: Abs. 32
Abs. 33
Elemente des Tatbestandsteils wie der Rechtsfolgeteilbeschreibung können weiter unbestimmte Rechtsbegriffe[10] sein, deren Gültigkeit in Legaldefinitionen (auch) erklärt wird: Abs. 34
Abs. 35
Eine für ein oder mehrere Subjekte und/oder Objekte gegebene Bedingung ist dann eine aussagenlogische Beziehung, die quantitative Beziehungen und unbestimmte Rechtsbegriffe als Operanden enthalten kann: Abs. 36
Abs. 37
Damit ist der Tatbestandsteil eine aussagenlogische Beziehung, die Subjekte, Operationen, Objekte und Bedingungen als Operanden enthalten kann: Abs. 38
Abs. 39
Als Komponente der Rechtsfolgeteilbeschreibung lässt sich der Folgehandlungsteil wie folgt darstellen: Abs. 40
Abs. 41
Element der Rechtsfolgeteilbeschreibung ist weiter ein deontischer Operator: Abs. 42
Abs. 43
Die Rechtsfolgeteilbeschreibung erfasst dann die Gültigkeit des Folgehandlungsteils für einen deontischen Operator, ggf. unter Einbeziehung der Negation. Die generelle Gültigkeit lässt sich durch den Allquantor beschreiben: Abs. 44
Abs. 45
Damit sind alle Komponenten für die bereits oben gegebene Definition der Rechtsnormbeschreibung erklärt. Abs. 46

III. Subset von Rechtsvorschriften

Abs. 47
Zur Analyse rechtspraktischer Arbeiten im BGB-Schuldrecht können die oben dargestellten Überlegungen weitergeführt werden. Untersucht man etwa Anspruchsermittlung oder Vertragsgestaltung, so ist die Formalisierung zutreffender Rechtsvorschriften zu klären. Abs. 48
Rechtsvorschriften enthalten eine Menge von Rechtsnormen bzw. Rechtsnormbeschreibungen und eine Menge von Legaldefinitionen, wenngleich beide praktisch häufig schwer zu ermitteln sind. Die Rechtsnormbeschreibungen (wie in anderer Weise die Legaldefinitionen) lassen sich als Tupel darstellen, mithin als Zeilen einer Tabelle. Elemente sind dabei Tatbestandsteil, Konditionaloperator, deontischer Operator und Folgehandlungsteil. Für eine umfassende Strukturierung werden dann weitere Untergliederungen (Tabellen und Beziehungen!) erforderlich. Abs. 49
Bereits die Analyse des Tatbestandsteils ergibt ein oder mehrere Tupel bzw. Tabellenzeilen mit im Einzelfall leeren Elementen: Abs. 50
{subjekt} operation objekt Abs. 51
Zusätzlich gehört zu allen Tupeln bzw. Tabellenzeilen eine Bedingung, die im Einzelfall nur die aussagenlogische Konstante 'true' enthält. Abs. 52
Die Analyse der Rechtsfolgeteilbeschreibung ergibt ein oder mehrere Tupel bzw. Tabellenzeilen: Abs. 53
Abs. 54
Zusätzlich gehört zu allen Tupeln bzw. Tabellenzeilen wie oben eine Bedingung sowie eine quantitative Beziehung, die das Objekt betrifft, zumeist aber zu vernachlässigen ist und dann die numerische Konstante 1 enthält. Abs. 55
Vernachlässigt man zunächst Mehrfachkomponenten, die in zusätzlichen Tabellenzeilen darzustellen sind, so lässt sich die Rechtsnormbeschreibung mit den obigen Komponenten wie folgt darstellen:[11] Abs. 56
Tabellenzeile Rechtsnormbeschreibung Abs. 57
Abs. 58
Für alle Rechtsnormbeschreibungen (Rechtsnormen) ergibt sich damit die folgende Tabelle:[12] Abs. 59
Tabelle Rechtsnormbeschreibungen Abs. 60
Abs. 61
Teilweise noch schwieriger als die Rechtsnormen erkennbar sind die Beziehungen zwischen den Rechtsnormen: Abs. 62
(1) Einige Rechtsnormbeschreibungen weisen in ihren Folgehandlungsteilen identische Tupel aus Subjekt, Operation und Objekt auf. Abs. 63
(2) Die Wahrnehmung oder Nichtwahrnehmung der in den Rechtsfolgeteilbeschreibungen normierten Rechte und Pflichten ist Teil des Tatbestandsteils anderer Rechtsnormbeschreibungen – es ergibt sich eine Normenkette aus der Wahrnehmung oder Nichtwahrnehmung subjektiver Rechte (und Pflichten).[13] Abs. 64
(3) Tatbestandsteile wie Folgehandlungsteile (Bedingungen) enthalten verschiedentlich unbestimmte Rechtsbegriffe. Wenn für diese (derzeit) auch keine Formalisierung möglich ist (s. Fn. 10), so sollten für eine umfassende Unterstützung doch Verweise auf kurze Beschreibungen zu den Legaldefinitionen vorgesehen werden. Abs. 65
Die Beziehungen (1) und (2) können als besondere relationenähnliche Beziehungen (s. Fn. 12) zwischen den Tatbestandsteilen und den Rechtsfolgeteilbeschreibungen aller Rechtsnormen der analysierten Rechtsvorschrift(en) aufgefasst werden. Abs. 66
Die Beziehung (1) lässt sich wie folgt in Tabellenform darstellen: Abs. 67
Tabelle Rechtsnormbeschreibungen Abs. 68
Abs. 69
Bei Darstellung der Beziehung (2) sind nach Auswertung der Tatbestands-Bedingung positiver und negativer Fortsetzungsfall vorzusehen. Es ergibt sich folgende Darstellung in Tabellenform: Abs. 70
Tabelle Rechtsnormbeschreibungen Abs. 71
Abs. 72
Die Beziehung (3) ergibt eine Relation zwischen den Bedingungen von Rechtsnormen und Beschreibungen von Legaldefinitionen. Abs. 73
Tabelle Rechtsnormbeschreibungen Abs. 74
Abs. 75
Nachfolgend wird erläutert, wie die skizzierten Strukturen bei der Algorithmierung von Teilen der Rechtsanwendung hilfreich sein können. Der Überschaubarkeit wegen wird dabei auf die insbesondere für die Unterstützung von Nichtjuristen sinnvolle Einbeziehung der obigen Beziehung (3) verzichtet. Abs. 76

IV. Rechtsanwendung - Strukturierung und Algorithmierung

Abs. 77
Ein überschaubares Beispiel möglicher Algorithmierung ist die Anspruchsprüfung. Kompliziertere Beispiele ergeben sich für komplexe Aufgaben wie etwa die Vertragsgestaltung. Abs. 78
1. Anspruchsprüfung Abs. 79
Für die Anspruchsprüfung im BGB-Schuldrecht kann eine Tabelle der Rechtsnormbeschreibungen und ihre Verknüpfung mit einer Tabelle der jeweiligen Verzweigungen herangezogen werden. Am Beispiel des Übergabeverzuges beim Kaufvertrag ergeben sich folgende Tabellen[14]: Abs. 80
Abs. 81
Abs. 82
Die (etwas verkürzte) Anspruchsprüfung kann dann durch Abarbeitung des folgenden Programms[15] erfolgen. Das Programm stellt zwar mit der Anfangsbelegung der Variablen idnr auf den Übergabeverzug beim Kaufvertrag ab. Es kann jedoch unter Zugrundelegung entsprechender Tabellen auch für andere Anspruchsprüfungen genutzt werden. Abs. 83
* Programm zur Anspruchsprüfung Abs. 84
Abs. 85
Die erläuterte Anspruchsprüfung kann insbesondere Nichtjuristen unterstützen. Das nachfolgend skizzierte Vorgehen zur Vertragsgestaltung kann hingegen bei der Zusammenarbeit von Juristen und Fachleuten des Anwendungsbereichs (etwa Wirtschaftler, Ingenieure oder Informatiker) helfen. Abs. 86
2. Vertragsgestaltung Abs. 87
Die Gestaltung komplexer Verträge kann sich in mehreren, wiederholt zu durchlaufenden Phasen vollziehen: Abs. 88
- Ermittlung bzw. Änderung der Vertragsfaktoren, Abs. 89
- Auswahl bzw. Erweiterung oder Reduzierung von Rechtsnormen, Abs. 90
- Bestimmung bzw. Modifizierung von Zielkriterien, Abs. 91
- Ermittlung bzw. Änderung der für die Zielkriterien beachtlichen Rechtsnormen, Abs. 92
- Fixierung bzw. Modifizierung von Realisierungsvarianten, Abs. 93
- Bewertung der Realisierungsvarianten, Abs. 94
- Vorgabe bzw. Änderung von Anspruchsniveaus für die Erreichung der Zielkriterien, Abs. 95
- Ermittlung eines oder mehrerer Suboptima der Realisierungsvarianten hinsichtlich der Zielkriterien und der Anspruchsniveaus, Abs. 96
- Abschätzung des Risikos negativer Vertragserfüllung, Abs. 97
- Vertragsverhandlungen, Abs. 98
- Vertragsrealisierung, Abs. 99
- Auswertung von Vertragsgestaltung und –realisierung. Abs. 100
Wenn auch einige Phasen praktisch oft gar nicht absolviert werden, so kann das angedeutete Konzept doch Anregungen für die angesprochene Zusammenarbeit von Juristen und Spezialisten des Objektbereichs geben. Abs. 101
Die Vertragsfaktoren sollen den Aktionsraum möglicher Vertragsrealisierungen erfassen. Für Wirtschaftsverträge können das Spezifikationen des Vertragsgegenstandes, der Leistungs-, Kosten- und Absatzbedingungen sein. Abs. 102
Anstelle der Rechtsnormen werden häufig sofort Textbausteine zu Vertragsklauseln verwendet. Ist jedoch eine Tabelle zutreffender Rechtsnorbeschreibungen verfügbar, so kann die Auswahl bzw. Änderung anhand dieser Tabelle erfolgen[16]. In der zugrundelegenden Tabelle sollte zunächst die Äquivalenz als Konditionaloperator der Rechtsnormbeschreibungen fixiert sein. Da sich so aber häufig überaus komplexe Tabellenzeilen ergeben, ist auf die Einbeziehung aller für die Rechtsfolge einerseits notwendigen und andererseits hinreichenden Tatbestandsteile in den Rechtsnormbeschreibungen zu achten. Abs. 103
Ein vordergründiges Zielkriterium wird regelmäßig der aus der Vertragsrealisierung zu erwartende Gewinn sein. Praktisch spielen aber auch andere quantifizierbare Kriterien wie Umsatz und Verfügbarkeit finanzieller und materieller Ressourcen sowie schließlich qualitative Kriterien wie Akzeptanz für Vertragspartner und Kundenbindung eine Rolle. Nicht nur für komplexe Verträge ist zudem die Zeit der Vertragserfüllung als wichtiges Kriterium ansetzbar. Häufig wird dieses Kriterium in den Vertragsfaktoren erfasst. Für komplexe Verträge ist weiter die Aufteilung der Vertragsgestaltung für mehrere Phasen der Vertragserfüllung sinnvoll. Hilfe kann dabei eine Anlehnung an verfügbare bzw. ebenfalls zu entwickelnde Netzpläne sein. Abs. 104
In die Ermittlung der für die Zielkriterien beachtlichen Rechtsnormen sind selbstverständlich nur dispositive Rechtsnormen einzubeziehen. Dispositive Normen, die für ein Kriterium keine Alternativen aufweisen, sind für dieses Kriterium auszusondern. Weiter sind Normen mit einer aus Entscheidersicht pro Kriterium festen Belegung[17] (gewissermaßen "k.o.-Normen") festzuhalten, nicht aber in die folgende Auswahl einzubeziehen. Schließlich sind auch für den Objektbereich wichtige Regelungskonstrukte einzubeziehen, für die keine gesetzliche Regelung besteht - ein im Informatiksektor verschiedentlich zusätzlich sinnvolles Vorgehen. Abs. 105
Für die nachfolgende Optimierung werden dann pro Rechtsnorm bzw. Regelungskonstrukt mögliche und sinnvolle Varianten (Belegungen in der Folgehandlungsteilbeschreibung) ausgewählt. Die Anzahl möglicher Varianten kann praktisch sehr groß sein. Nach unseren Erfahrungen ist es ausreichend, sich pro Rechtsnorm auf maximal 5 deutlich unterschiedene Varianten zu beschränken. Man erhält so pro Kriterium N verschiedene Normvarianten. Abs. 106
Die Normvarianten sind dann pro Kriterium zu bewerten. Selten lassen sich die Bewertungen unmittelbar oder aus Analysen früherer Geschäfte quantifizieren. Häufig werden die Varianten nur aufgrund von Punktbewertungen vergleichbar sein, die die Urteile von Fachleuten skalieren. Abs. 107
Für nur ein Kriterium k ergibt sich der (zunächst triviale) Fall einer durch die Normenvarianten Vn gegebenen Menge zulässiger Lösungen, deren Werte hinsichtlich des Kriteriums zu vergleichen sind: Abs. 108
max {k(Vn)} Abs. 109
n = 1(1)N Abs. 110
Für mehrere Kriterien k1, k2, … km wäre in der Menge {Vn} ein Vergleich hinsichtlich mehrerer Funktionen durchzuführen, die den Einfluss der Kriterien berücksichtigen: Abs. 111
max {f(k1(Vn), k2(Vn), … km(Vn))} Abs. 112
n = 1(1)N Abs. 113
Bereits mit relativ niedrigem Wert von m wird die Anwendung des Optimalitätsprinzips problematisch. Praktiziert wird daher der Vergleich ausgewählter Realisierungsvarianten unter zusätzlicher Berücksichtigung von Anspruchsniveaus für die Zielkriterien. Zusätzlich lässt sich schließlich das Risiko negativer Vertragserfüllung mittels aus den Anspruchsniveaus abgeleiteter Risikokoeffizienten in die Vertragsgestaltung einbeziehen.[18] Soweit das nicht bereits früher geschah, ist abschließend die Erarbeitung oder Komplettierung von Textbausteinen für die gewonnenen Lösungen vorzunehmen. Abs. 114
Das hier skizzierte, bisher nur in Teilen und mit geringem Datenumfang realisierte Vorgehen wäre umfassend zu erproben. Sinnvoll und praktisch sind dabei auch Rückkopplungen aus informatisch unterschiedlich möglicher Unterstützung von Vertragsverhandlungen und aus nachfolgenden Vertragsrealisierungen. Abs. 115

V. Ausblick

Abs. 116
Die Darstellungen der Abschnitte II. bis IV. beschreiben gewissermaßen ein rechtsinformatisches top down-Vorgehen: von der Strukturierierung rechtlicher Subsysteme zu Algorithmen juristischer Unterstützung. Bei der gegenwärtigen Ausbildung und – nach Erfahrungen des Autors – bei den Denkweisen vieler Juristen ist dieser Ansatz gewöhnungsbedürftig. Abs. 117
Man findet bereits hier Argumente gegen eine Sisyphus-Analogie: Zwar sind noch umfangreiche Arbeiten erforderlich, auch Korrekturen möglich. Das Verkennen derartiger Arbeitsweisen, ein (mit Blick auf die Sisyphus-Rezeption) gleichsam ständiges Zurückfallen in eine generelle Ablehnung der Rechtsinformatik bis zu Albert Camus folgenden absurden Beschreibungen[19] mögen vielleicht Juristen vollziehen, die daraus ein Informationsrecht als Alternative ableiten.[20] Abs. 118
Erst recht trifft eine Sisyphus-Analogie nicht zu für das Schaffen von Maximilian Herberger. Er war und ist nicht nur einer der wenigen tatsächlich als Rechtsinformatiker agierenden Juristen, der (in der oben angedeuteten Sichtweise) sowohl mit top down- wie auch mit bottom up-Arbeitsweisen Anwenderverständnis und –unterstützung erreicht hat. Bereits seine Dissertationsschrift enthielt so rechtsinformatische Ansätze[21], mit denen er zum Promotionszeitpunkt wohl "nur" Denkanregungen geben wollte. Abs. 119
Seine späteren umfassenden und vielseitigen Arbeiten müssen hier nicht aufgelistet werden. Von diesen ist im angesprochenen Zusammenhang die stetige Einbeziehung der Rechtsinformatik und des Rechts der Informatik[22] hervorzuheben. Allerdings plädiert er für eine klare Trennung von Rechtsinformatik und "Informationsrecht".[23] Unter seinen Beiträgen zur Rechtsinformatik dominieren die Arbeiten zu und an juristischen Informationssystemen[24]. Diese sieht er wohl auch als Konsequenz seines Eintretens für einen generellen Zugang zum Recht[25]. Abs. 120
Konzentration auf die Rechtsinformatik und Beachtung des Informatikrechts trafen für seine Arbeit als Hochschullehrer ebenso zu wie für Initiativen und Vorsitz des EDV-Gerichtstages[26]. Das kennzeichnet ihn weiterhin als Herausgeber von jur-pc (zunächst als Print- und nachfolgend als Internetmedium) und als Autor von Publikationen[27]. Schließlich lassen Arbeiten seiner Schüler seine Anregungen und Förderung erkennen.[28] Abs. 121
Um den historischen Bogen zu schließen, sei ein Blick in die hoffnungsvolle Zukunft der Rechtsinformatik an der Universität Saarbrücken gestattet. Zwar einseitig, die Kraft interdisziplinärer Zusammenarbeit verkennend, doch heute als Antithese zu Auffassungen mancher Informationsrechtler begreifbar, hatte Friedrich L. Bauer bereits 1973 geraten, für die Informatik als Hilfswissenschaft anderer Wissenschaftsdisziplinen „Fach-Informatiker … (einzusetzen – R.K.), die sich den wissenschaftlichen Kriterien ihres Gebietes gestellt haben. Den an Informatik ‚interessierten' Fächern ist jedenfalls abzuraten, ihre ‚eigene' Bindestrich-Informatik aufzubauen, etwa eine ‚Rechtsinformatik', die schmalbrüstig und schmalspurig bleiben müßte." [29] Abs. 122

Fußnoten:

* Der Autor ist Professor für Datenverarbeitungsrecht/Datenschutz im Ruhestand an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Dresden.
[1] S. etwa Positionierungen in H. Garstka/W. Coy (Hrsg.), Wovon – für wen – wozu, Systemdenken wider die Diktatur der Daten – Wilhelm Steinmüller zum Gedächtnis, Berlin 2014; digital auch auf dem edoc-Server der Humboldt-Universität zu Berlin erreichbar: http//edoc.hu-berlin.de/
[2] Der Begriff wie manche Überlegungen zu ihm sind nicht nur inhaltlich unbefriedigend (Informationen sind zwar eine Basis der Informatik, dann aber in der Widerspiegelung als Daten; Informationen prägen aber auch andere Teile von Rechtsgebieten, insbesondere des Öffentlichen Rechts, die die Informatik wenig berühren). Damit verbunden ist der Begriff für viele Informatiker unverständlich und hat so zu Juristen bestehende Barrieren vertieft.
[3] P. Fischer/P. Hofer, Lexikon der Informatik, Heidelberg, Dordrecht, London, New York 2011, S. 430
[4] H. P. Gumm/M. Sommer, Einführung in die Informatik, München 2011, S. 3
[5] R. Koitz/M. Kemper, Rechtsinformatik – Informationstechnologien zur Rationalisierung von Rechtsbildung und Rechtsanwendung, Berlin 1989, S. 29
[6] M. Herberger, Informatik und akademische Jurisprudenz, Informatik und Recht (Frankfurt/M.) 1988/10, S. 393
[7] S. R. Koitz/M. Kemper, Rechtsinformatik – Informationstechnologien zur Rationalisierung von Rechtsbildung und Rechtsanwendung, Berlin 1989, S. 223. Der dort verwendete Begriff Funktor wird hier durch den spezielleren Begriff des Konditionaloperators ersetzt.
[8] Ausführlicher und mit Literaturangaben s. R. Koitz/M. Kemper, ebenda, S. 226 ff. Mit Blick auf eine mögliche Formalisierung wird die Sprachbeschreibung nachfolgend jedoch modifiziert.
[9] In Anknüpfung an die Backus-Naur-Form werden folgende metasprachliche Variablen verwendet:
::= Definitionszeichen
< > Begrenzer einer Sprachvariablen
½ Alternative
[ ] Begrenzer einer optionalen Sprachvariablen
{ } Begrenzer einer wiederholbaren Sprachvariablen (Wiederholung)
… Folge weiterer, nicht definierter Elemente, die vor einer Formalisierung durch definierte
Elemente zu ersetzen ist
[10] Die exakte Definition eines unbestimmten Rechtsbegriffs zum Zweck der Formalisierung scheint derzeit nicht möglich zu sein. Prägnant waren insoweit die Ergebnisse des Forschungsprogramms "Strukturanalyse der Rechtspflege" des BMJ. S. H. Fiedler/F. Haft (Hrsg.), Informationstechnische Unterstützung von Richern, Staatsanwälten und Rechtspflegern, Reihe Rechtstatsachenforschung/Beiträge zur Strukturanalyse der Rechtspflege, Bundesanzeiger, Köln 1992. Nach zukünftig möglicher Formalisierung von Rechtssystemen, wie sie nachfolgend beschrieben wird, wäre das Problem erneut zu untersuchen – auch die unbestimmten Rechtsbegriffen zugrundeliegenden Beziehungen sind relationenähnlich!
[11] Die Bedingung (Funktion!) ergibt erst bei Auswertung mit konkreten Operanden einen logischen Wert, wie das Ergebnis einer quantitativen Beziehung (Funktion) dann ein numerischer Wert ist. Die Sprachbeschreibung wird daher um die folgenden Elemente erweitert:
⊂ ⊃ Begrenzer der logischen oder numerischen Vorgabe,
deren Wert sich erst bei Anwendung der Rechtsnorm ergibt.
[12] Die Rechtsnormbeschreibungen enthalten keine Schlüssel im Sinne der Relationentheorie. Zudem sind auch Funktionen enthalten. Um relationenähnliche Beziehungen aufzubauen, wird jeder Rechtsnormbeschreibung (Tabellenzeile) eine natürliche Zahl als Identifikator zugeordnet.
[13] Die Normenverkettung kann sich nicht nur auf subjektive Rechte des Subjekts im Folgehandlungsteil der einen Norm beziehen, sondern auch auf die anderer Subjekte.
[14] Der Übersichtlichkeit halber wird auf die Darstellung der Routinen auswertung… verzichtet. Bei den Identnummern 227, 233 und 234 sind beispielsweise maßgebender Leistungstermin (mlt), tatsächlicher Leistungszeitpunkt bzw. bei noch nicht erfolgter Leistung das aktuelle Tagesdatum und das Handeln des Gläubigers auszuwerten.
Legende: SE Schadensersatz
SEV Schadensersatz wegen Verzögerung der Leistung
SEL Schadensersatz statt der Leistung
[15] Das Programm wurde vereinfachend mit Anweisungen formuliert, die der dBASE-Befehlssprache ähneln und für mit prozeduralen Programmiersprachen Vertraute verständlich sein werden.
[16] S. für den Informatikbereich JurPC Web-Dok. 159/2011.- Selbstverständlich ist in einer späteren Phase die Umsetzung in Klauseltexte erforderlich.
[17] Beispielsweise kann der Übergang der Leistungsgefahr wirtschaftlich nicht disponibel sein.
[18] Ausführlich R. Koitz/M. Kemper, Rechtsinformatik – Informationstechnologien zur Rationalisierung von Rechtsbildung und Rechtsanwendung, Berlin 1989, S. 258 ff.
[19] S. A. Camus, Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, Hamburg 1995
[20] B. Lutterbeck berichtet, dass 1982 bei einem Spitzengespräch der deutschen Forschungsorganisationen mit den damals führenden Informationsrechtlern eine Förderung der Rechtsinformatik als unnütz verworfen worden sei. In der Folge habe sich dann ein Informationsrecht etabliert. Er selber geht noch weiter und folgt Regulierungsmechanismen von Software per se. S. B. Lutterbeck, Software als Institution, in: H. Garstka/W. Coy (Hrsg.), Wovon – für wen – wozu, Systemdenken wider die Diktatur der Daten – Wilhelm Steinmüller zum Gedächtnis, a.a.O., S.117 ff.
[21] S. M. Herberger, Normstruktur und Normklarheit – Das Beispiel von § 5 Abs. 3 BetrVG, Frankfurt/M. 1983, S. 30 ff., 80 ff., 108 ff.
[22] S. etwa M. Herberger, Die Datenbanken sind im Urheberrecht angekommen, jur-pc (Wiesbaden) 1996/6, S. 207
[23] So A. Konzelmann, Recht, Informatik und Transparenz: Tagungsbericht IRIS 2014, JurPC Web-Dok. 46/2014, Abs. 14
[24] Zwei der Beispiele zu Herbergers Autorenschaft und Mitwirkung bei offline- wie online-Systemen (verschiedentlich zur Komplettierung von Buchversionen – auch umgekehrt) sind: M. Herberger (Hrsg.), Der Einigungsvertrag – CD-ROM-Edition, Disketten-Edition und Buchausgabe, Wiesbaden 1991; M. Herberger/M. Martinek/H. Rüßmann/S. Weth, juris PraxisKommentar BGB – Buch inkl. Online-Nutzung, München 2014
[25] S. etwa M. Herberger, Der Zugang zum Recht, JurPC Web-Dok. 105/2007
[26] Zwar ist der Fokus des EDV-Gerichtstages auf Einsatzmöglichkeiten der "EDV" in der Rechtspflege gerichtet. Doch gaben Plenarvorträge und Diskussionen in Arbeitsgruppen auch Anregungen zum Informatikrecht wie zur Rechtsinformatik. Hervorzuheben ist schließlich auch der jährlich vergebene Dieter Meurer Förderpreis Rechtsinformatik.
[27] S. insbesondere M. Herberger, Zehn Gebote für den klugen Umgang (vielleicht nicht nur) des Juristen mit der EDV, JurPC Web-Dok. 75/1998
[28] S. etwa die Publikationsliste von Rigo Wenning:
http://www.afs-rechtsanwaelte.de/rechtsanwaelte/rigo-wenning.php
[29] F. L. Bauer, Historische Notizen zur Informatik, Berlin, Heidelberg 2009, S. 7.

 
(online seit: 11.04.2017)
 
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