JurPC Web-Dok. 59/2016 - DOI 10.7328/jurpcb201631460

Kammergericht

Beschluss vom 08.03.2016

3 Ws 114/16 - 141 AR 121/16

Unzulässige Beschwerde gegen Versagung der Zugänglichmachung von Audiodateien

JurPC Web-Dok. 59/2016, Abs. 1 - 18


Leitsätze:

1. Erkennendes Gericht i. S. d. § 305 Satz 1 StPO ist der Vorsitzende eines Kollegialgerichts, wenn das Gesetz für eine Entscheidung seine alleinige Zuständigkeit vorsieht.

2. Ob i. S. d. § 305 Satz 1 StPO das erkennende Gericht entscheidet, bemisst sich in zeitlicher Hinsicht ausschließlich danach, ob das Hauptverfahren eröffnet ist. Auf den Zeitpunkt der Einreichung des der Entscheidung zugrunde liegenden Antrags kommt es nicht an.

3. Der von § 305 Satz 2 StPO vorausgesetzte innere Zusammenhang mit der Urteilsfällung ist in der Regel gegeben, wenn dem inhaftierten Beschuldigten die direkte Zugänglichmachung von möglichen Beweismitteln (hier: Aufspielen von Audiodateien aus Telekommunikationsüberwachung auf ein ihm gehörendes Endgerät) versagt wird.

4. Die Drittbetroffenheit i. S. d. § 305 Satz 2 StPO führt nicht zur Zulässigkeit der Beschwerde des Beschuldigten gegen eine Entscheidung, welche die Dritten gerade schützt.

Gründe:

Abs. 1
Gegen den Beschwerdeführer und weitere Angeklagte wird zurzeit vor dem Landgericht Berlin ein Strafverfahren wegen Vergehen und Verbrechen nach dem Betäubungsmittelgesetz geführt.Abs. 2
Die am 22. Oktober 2015 durch die Staatsanwalt Berlin erhobene Anklage hat die Strafkammer mit Beschluss vom 10. Dezember 2015 zur Hauptverhandlung zugelassen. Zuvor, am 25. November 2015, hat der Angeklagte beantragt, ihm die Einbringung eines schnittstellenbefreiten und nicht internetfähigen Laptops, auf dem neben den Verfahrensakten auch „Kopien der vollständigen im hiesigen Verfahren erhobenen Telefonate in digitaler Form" aufgespielt sind, in die Justizvollzugsanstalt zu erlauben. Der Angeklagte M. hat für sich dasselbe beantragt. Mit Beschluss vom 15. Dezember 2015 hat die Kammervorsitzende beiden Angeklagten die Einbringung von schnittstellenbefreiten und nicht internetfähigen Laptops, auf deren Festplatten die Strafakten als pdf-Dateien aufgespielt sind, erlaubt. Die weitergehenden Anträge auf digitale Bereitstellung der aus der Telekommunikationsüberwachung erlangten Audiodateien hat sie mit der Begründung abgelehnt, die Erfüllung dieser Gesuche würde den bereits eingetretenen Eingriff in die Grundrechte Dritter, nämlich nicht an den Straftaten beteiligter Gesprächsteilnehmer, in unverhältnismäßiger Weise vertiefen. Außerdem gebe es gegen die Angeklagten keine rechtliche Handhabe, zu gegebener Zeit die Löschung der bereitgestellten Datensätze zu erzwingen. Die Angeklagten dürften und könnten die Audiodateien daher auf fremden Geräten außerhalb ihres Haftraums anhören, etwa beim Landeskriminalamt, oder gegebenenfalls auch in Anwesenheit ihrer Verteidiger bei deren Besuchen. Gegen die Ablehnung der Bereitstellung der Audiodateien wendet sich der Angeklagte A. mit der Beschwerde. Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg, denn es ist unzulässig.Abs. 3
Die im Grundsatz nach § 304 Abs. 1 StPO statthafte Beschwerde ist als der Urteilsfällung vorausgehende Entscheidung des erkennenden Gerichts nach § 305 Satz 1 StPO unzulässig. Ob dem Angeklagten die bei der Telekommunikationsüberwachung gewonnenen Audiodateien in der von ihm begehrten Weise zugänglich zu machen gewesen wären, ist gegebenenfalls durch eine Verfahrensrüge im Revisionsverfahren zu klären.Abs. 4
1. Die Strafkammervorsitzende hat als „erkennendes Gericht" im Sinne des § 305 Satz 1 StPO entschieden.Abs. 5
a) Dass hier nicht die gesamte Strafkammer entschieden hat, ist ohne Belang. Ob die Vorsitzende im Wort- und im engeren Rechtssinn das „erkennende Gericht" ist, kann dahinstehen. Denn jedenfalls ist der Begriff funktional zu verstehen (Matt in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl., § 305 Rn. 8). Es entspricht daher einhelliger Auffassung, dass § 305 Satz 1 StPO auch für Verfügungen und Beschlüsse des Vorsitzenden gilt, welche dieser kraft seiner Verhandlungsleitung oder, wie hier, für das erkennende Gericht erlässt (vgl. Matt in Löwe/Rosenberg, aaO, Rn. 14). Denn es wäre sinnwidrig, die Strafkammer von bestimmten in § 305 Satz 1 StPO gemeinten Entscheidungen auszuschließen und sie dem Vorsitzenden zu übertragen, „zugleich aber insoweit das Eingreifen des Beschwerdegerichts unter Ausschluss des § 305 StPO vorzusehen, obwohl dieses auch künftig nicht in die Lage kommt, eine Entscheidung ... zu treffen" (so Matt in Löwe/Rosenberg, aaO, Rn. 14; vgl. auch OLG Düsseldorf NStZ 1986, 138; OLG Frankfurt NStZ-RR 1996, 238; 2003, 177; OLG Hamm NStZ-RR 2009, 352; OLG Nürnberg StraFo 2015, 102; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 58. Aufl., § 305 Rn. 2 mwN).Abs. 6
b) Die Vorsitzende hat auch in zeitlicher Hinsicht als „erkennendes Gericht" entschieden. Denn die Strafkammer hat das Hauptverfahren mit Beschluss vom 10. Dezember 2015 eröffnet, und die Vorsitzende hat den angefochtenen Beschluss am 15. Dezember 2015 erlassen.Abs. 7
aa) Der Einwand der Verteidigung, es komme auf den Zeitpunkt der Antragstellung (hier: 25. November 2015) und nicht auf jenen der Beschlussfassung an, weil es der Vorsitzenden anderenfalls ermöglicht würde, „durch eine Verzögerung der Verbescheidung des Akteneinsichtsantrags über die Zulässigkeit einer etwaigen Beschwerde zu disponieren", verfängt nicht. Zum einen widerspricht diese Sicht dem insoweit klaren Wortlaut des § 305 Satz 1 StPO („Entscheidungen der erkennenden Gerichte"). Zum anderen hätte die vom Verteidiger favorisierte Lesart zur Folge, dass dem Vorsitzenden aufgegeben würde, vor der Eröffnungsentscheidung zunächst über alle anderen Anträge zu entscheiden, gegen die in diesem Zeitpunkt noch eine Beschwerde statthaft wäre. Eine derartige Priorisierung der spezielleren gegenüber der generellen Entscheidung ist dem (Straf-) Prozessrecht schon allgemein und erst recht unter dem hier allein in Frage kommenden Gesichtspunkt der Rechtsschutzoptimierung fremd. Dass sie zudem sachwidrig wäre, zeigt die Möglichkeit, dass die Strafkammer die Eröffnung ablehnt. Der Vorsitzende hätte in diesem Fall ineffizient und letztlich sinnlos über gegebenenfalls kleinteilige, rechtlich komplexe und jedenfalls irrelevante Prozessanträge entscheiden müssen.Abs. 8
bb) Ob ausnahmsweise etwas anderes zu gelten hätte, wenn der Vorsitzende die Entscheidung über prozessuale Nebenanträge sach-, pflicht- und nachgerade treuwidrig über den Zeitpunkt der Eröffnungsentscheidung hinaus verzögert, muss nicht entschieden werden, weil dies hier offensichtlich nicht der Fall ist.Abs. 9
2. Wie ohne weiteres ersichtlich ist, geht die angefochtene Entscheidung der Urteilsfällung zeitlich voraus. Auch besteht der erforderliche innere Zusammenhang zwischen der Entscheidung und der Urteilsfällung.Abs. 10
Versagt der Vorsitzende die Akteneinsicht oder die Einsicht in Beweismittel nach der Eröffnung des Hauptverfahrens, so steht diese Entscheidung grundsätzlich in engem inneren Zusammenhang mit der Urteilsfällung (vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 2003, 177 (unter Aufgabe früherer Rechtsprechung in StV 2001, 611); OLG Nürnberg NStZ-RR 2015, 250 (m. abl. Anm. Altenhain, StraFo 2015, 377); LG Aurich, Beschluss vom 22. Januar 2013 - 12 Qs 9/13 - (juris); LG Neubrandenburg StRR 2015, 436 (Volltext bei juris); Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 147 Rn. 41 mwN; a.A. in Bezug auf Akteneinsicht: OLG Brandenburg NJW 1996, 67). Die Akteneinsicht und das ergänzende Einsichtsrecht in die Beweismittel (§ 147 Abs. 1 StPO) gewährleisten nämlich nicht nur allgemein den Anspruch des Beschuldigten auf rechtliches Gehör und ein faires Verfahren, speziell auf Waffengleichheit (vgl. BVerfG NJW 1983, 1044; BGH NJW 1990, 585). Zugleich dienen diese Rechte der Vorbereitung von konkreten Beweisanträgen oder Beweisanregungen in der Hauptverhandlung (vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 2003, 177), woraus sich der von § 305 Satz 1 StPO vorausgesetzte innere Zusammenhang mit der Urteilsfällung ohne Weiteres ergibt (vgl. neben OLG Frankfurt NStZ-RR 2003, 177 auch LG Lüneburg, Beschluss vom 27. November 2011 - 26 Qs 271/15 - (juris)). Entgegen der im nachgereichten Schriftsatz der Verteidigung vom 3. März 2016 zum Ausdruck kommenden Einschätzung bestätigt dies auch die Antragsschrift vom 25. November 2015. Darin wird deutlich, dass der Angeklagte wesentliche Teile der unverschriftet gebliebenen und von der Staatsanwaltschaft nicht als beweiserheblich angesehenen Audiodateien für „verfahrensrelevant" hält und zum Gegenstand der Beweisaufnahme machen möchte (AS S. 3). Dasselbe gilt für Telefonate, „bei denen die durch das LKA angenommenen Sprecher nicht mit den tatsächlichen Sprechern korrespondieren" (AS S. 3). Da das erkennende Gericht, nachdem es seiner Aufklärungspflicht nachgekommen ist (§ 244 Abs. 2 StPO), aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung seine Überzeugung schöpft und die Beweise würdigt (§ 261 StPO), liegt der innere Zusammenhang mit der Urteilsfällung bei allen Entscheidungen, die sich - wie hier - auf Art und Umfang der Beweisaufnahme auswirken, auf der Hand (vgl. Matt in Löwe/Rosenberg, aaO, Rn. 18).Abs. 11
3. Die Entscheidung über die Versagung der Bereitstellung von Beweismitteln unterliegt auch einer bei der Urteilsfällung veranlassten Überprüfung durch das erkennende Kollegialgericht. Dies ergibt sich schon daraus, dass es dem erkennenden Gericht obliegt, die Prozessgrundrechte zu gewährleisten, weshalb grundrechtsrelevante Entscheidungen vor der Urteilsfällung nochmals auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen sind (vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 1996, 238; 2001, 374; 2003, 177 jeweils mwN). Dieselbe Verpflichtung ergibt sich daraus, dass die Strafkammer nicht nur allgemein gehalten ist, das Verfahren prozessrechtstreu zu gestalten, sondern auch den Revisionsgrund des § 338 Nr. 8 StPO (unzulässige Beschränkung der Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt) vermeiden und vor der Urteilsfällung unzulässige Verteidigungsbeschränkungen aufzuheben. Schließlich hat der Angeklagte die Möglichkeit, seinen Antrag auf Bereitstellung der Audiodateien in der Hauptverhandlung zu wiederholen, um so eine unmittelbare Überprüfung der Entscheidung der Vorsitzenden durch die Kammer und gegebenenfalls eine Abhilfe zu erreichen.Abs. 12
4. Der Beschwerdeführer hat auch die Möglichkeit, das Urteil anzufechten (§ 333 StPO) und die gegebenenfalls von der Strafkammer bestätigte Entscheidung der Vorsitzenden u.a. unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung (§ 338 Nr. 8 iVm § 147 Abs. 1 StPO) und der Verletzung der Grundsätze über das faire Verfahren überprüfen zu lassen (vgl. grundlegend BGH NStZ 2014, 347 und StV 2010, 228 ; OLG Frankfurt NStZ-RR 2003, 177; OLG Bamberg zfs 2015, 353; OLG Naumburg DAR 2013, 37).Abs. 13
5. Schließlich liegt auch kein Fall des § 305 Satz 2 StPO vor, aus dem sich die Zulässigkeit der Beschwerde ergeben könnte.Abs. 14
Allerdings ist die angefochtene Entscheidung eine solche, „durch die dritte Personen betroffen werden", für die § 305 Satz 2 StPO die Beschwerde, gewissermaßen als Ausnahme von der Ausnahme, zulässt. Die Kammervorsitzende hat - wie der Senat im Anschluss an die herrschende Meinung (vgl. OLG Celle StV 2016, 156; OLG Nürnberg NStZ-RR 2015, 250; OLG Karlsruhe NStZ 2012, 590) meint: zu Recht - die Bereitstellung der Audiodateien u.a. mit der Begründung versagt, die Zugänglichmachung würde den unbeteiligte Dritte betreffenden Eingriff in die Grundrechte auf vertrauliche Information und auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 10 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG), den die heimliche Aufzeichnung von Telefonaten bedeutet, vertiefen. In Übereinstimmung mit dieser Argumentation ist die durch die Staatsanwaltschaft eingelegte Beschwerde gegen solche Entscheidungen von Kammervorsitzenden, welche die Bereitstellung von Telekommunikationsdaten ermöglichten, für nach § 305 Satz 2 StPO zulässig gehalten worden (vgl. OLG Nürnberg StraFo 2015, 102; OLG Celle StV 2016, 146). Diese Fallkonstellationen unterscheidet sich aber grundlegend von der hier zu behandelnden.Abs. 15
a) Die Staatsanwaltschaft hat keine Möglichkeit, die Bereitstellung der Telekommunikationsdateien anders als mit der Beschwerde zu rügen. Im Unterschied zum Beschuldigten ist es der Anklagebehörde verwehrt, eine zu dessen Ungunsten eingelegte Revision mit der Verletzung des § 147 Abs. 1 Satz 1 StPO oder anderer gerade den Beschuldigten schützenden Verfahrensgrundsätze zu begründen. An der von § 305 Satz 1 StPO vorausgesetzten anderweitigen Anfechtbarkeit (vgl. oben 4.) fehlt es jedenfalls im hier zu behandelnden Fall, in dem sich die Anklagebehörde gegen eine den Beschuldigten begünstigende Entscheidung wendet.Abs. 16
b) Der in § 305 Satz 2 StPO niedergelegte Grundsatz, dass drittbelastende Entscheidungen entgegen § 305 Satz 1 StPO anfechtbar sind, gilt im Regelfall nicht für die Beschwerde des Beschuldigten. Die Eröffnung der Anfechtbarkeit dient dem Schutz der Drittbetroffenen, zB Zeugen oder anderer Personen iSv § 81c StPO oder § 103 StPO (vgl. Zabeck in Karlsruher Kommentar, StPO 7. Aufl., § 305 Rn. 13). Der Beschwerdeführer beansprucht für sich hier aber ein Recht, das gerade eine Vertiefung des Eingriffs in die Grundrechte der am Verfahren unbeteiligten Telefongesprächspartner bedeuten würde, und er beanstandet eine Entscheidung, die deren Grundrechte gerade schützt (vgl. OLG Celle StV 2016, 156; OLG Nürnberg NStZ-RR 2015, 250). Der Regelungszweck des § 305 Satz 2 StPO würde pervertiert, wenn die Drittbetroffenheit zum Nachteil der am Verfahren Unbeteiligten zur Zulässigkeit der Beschwerde des Beschuldigten führen könnte.Abs. 17
Ob Fälle denkbar sind, in denen sich die von § 305 Satz 2 StPO gemeinten Interessen der unbeteiligten Dritten und der Rechtskreis des Beschuldigten decken und ob sodann etwas anderes zu gelten hätte, kann hier offen bleiben.Abs. 18

 
(online seit: 26.04.2016)
 
Zitiervorschlag: Gericht, Datum, Aktenzeichen, JurPC Web-Dok, Abs.
Zitiervorschlag: Kammergericht, Unzulässige Beschwerde gegen Versagung der Zugänglichmachung von Audiodateien - JurPC-Web-Dok. 0059/2016