JurPC Web-Dok. 90/2011 - DOI 10.7328/jurpcb/201126586

Alexander Seidl / Florian Albrecht *

Zur strafrechtlichen Verwertbarkeit von "Vorratsdaten"  —  Anmerkung zu BGH, Beschl. v. 18.01.2011 - 1 StR 663/10

JurPC Web-Dok. 90/2011, Abs. 1 - 83


Leitsätze der Verfasser

1. Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit der Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung kann eine Löschungspflicht bezüglich bereits rechtmäßig übermittelter Daten nicht entnommen werden. JurPC Web-Dok.
90/2011, Abs. 1
2. Telekommunikationsdaten, die vor dem 02.03.2010 auf der Grundlage der einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts vom 11.03.2008 rechtmäßig erhoben und übermittelt wurden, können auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit der Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung in einem Strafverfahren zu Beweiszwecken verwertet werden. Abs. 2
3. Die Rechtmäßigkeit der auf eine einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts gestützten staatlichen Eingriffe entfällt nicht mit einer die Eingriffshandlung (zukünftig) untersagenden Entscheidung in der Hauptsache. Abs. 3



  I n h a l t s ü b e r s i c h t
Ls.   Leitsätze der Verfasser
I.   Einführung in die Problematik
II.   Entscheidungsinhalt und Begründung
III.   Kontext der Entscheidung und rechtliche Bewertung
          1.       Vorläufige Regelung gem. § 32 BVerfGG
          2.       Hauptsacheentscheidung des Bundesverfassungsgerichts
          3.       Selbständiges Beweisverwertungsverbot
IV.   Die Zukunft der Vorratsdatenspeicherung
          1.       Europarechtlicher Hintergrund
          2.       Vorratsdatenspeicherung in Deutschland
            a)     Quick Freeze
            b)     Eckpunktepapier zur Sicherung vorhandener Verkehrsdaten und Gewährleistung von Bestandsauskünften im Internet (Bundesministerium der Justiz)
            c)     Quick Freeze Plus ("Vorratsdatenspeicherung light")
            d)     Mindestdatenspeicherung"
V.   Rechtspolitische Schlussfolgerungen zur Vorratsdatenspeicherung


I.  Einführung in die Problematik

Mit Urteil vom 02.03.2010(1)hat das Bundesverfassungsgericht die deutsche Regelung der Vorratsdatenspeicherung für nichtig erklärt und hohe Erfordernisse für eine Neureglung der anlasslosen Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten aufgestellt.(2) Mit der Nichtigerklärung wird der im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung erfolgten Datenerhebung rückwirkend die Berechtigung entzogen.(3) Abs. 4
Zudem hat das Bundesverfassungsgericht angeordnet(4), dass die aufgrund seiner mehrfach wiederholten und erweiterten einstweiligen Anordnung vom 11.03.2008(5) von Diensteanbietern erhobenen, "aber einstweilen nicht nach § 113b Satz 1 Halbs. 1 TKG an die ersuchenden Behörden übermittelten, sondern gespeicherten Telekommunikationsverkehrsdaten […] unverzüglich zu löschen [sind]." Abs. 5
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat die Frage aufgeworfen, wie in bereits laufenden Strafverfahren mit Verkehrsdaten umzugehen ist, die auf Grundlage der einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts erhoben und an die Strafverfolgungsbehörden übermittelt wurden; insbesondere, ob ein Beweisverwertungsverbot greifen kann.(6) Der tendenziell zur Annahme eines Beweisverwertungsverbots neigenden Literatur(7) hält die Rechtsprechung die selbständige Legitimierungsfunktion einer einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts entgegen und lehnt daher ein Beweiserhebungs- bzw. Verwertungsverbot ab.(8) Dieser Rechtsprechung hat sich nunmehr auch der BGH angeschlossen. Abs. 6

II.  Entscheidungsinhalt und Begründung

Der Angeklagte war wegen Diebstahls und Beihilfe zum Diebstahl zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und fünf Monaten verurteilt worden. Seine gegen die Verurteilung gerichtete Revision (Sach- und Verfahrensrüge) blieb erfolglos. Abs. 7
Eingehend befasst sich das Revisionsgericht allein mit der Verfahrensrüge, mit welcher der Angeklagte unter Berufung auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung(9) ein Verwertungsverbot hinsichtlich der im Rahmen des Strafverfahrens erhobenen Telekommunikationsdaten geltend macht. Die angegriffene Verurteilung stützte die Strafkammer maßgeblich auf Erkenntnisse, die insbesondere aus Verbindungsdaten eines dem Angeklagten zugeordneten Mobiltelefons gewonnen werden konnten. Diese Verbindungsdaten waren auf der Grundlage mehrerer ermittlungsrichterlicher Beschlüsse erhoben worden, die sich auf die damals noch geltenden - zwischenzeitlich allerdings durch das Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten - §§ 113a, 113b TKG, § 100g StPO (soweit danach Verkehrsdaten nach § 113a TKG erhoben werden dürfen) stützten. Abs. 8
Nach Auffassung der Revision wären die Behörden verpflichtet gewesen diese Daten nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unverzüglich zu löschen. Die Strafkammer hätte die Verbindungsdaten zudem nicht als Beweismittel in die Hauptverhandlung einführen dürfen. Abs. 9
Die formgerecht erhobene Verfahrensrüge erachtet der BGH als unbegründet. Er beruft sich diesbezüglich zunächst auf die mehrfach wiederholte einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung(10), welche für die noch vor der Hauptsacheentscheidung des Bundesverfassungsgerichts abgeschlossene Beweiserhebung als Legitimationsgrundlage fortwirke. "Ein Beweisverwertungsverbot mit der Folge, dass die auf dieser Grundlage rechtmäßig erhobenen und an die Strafverfolgungsbehörden übermittelten Telekommunikationsdaten nicht zum Gegenstand der Beweisaufnahme und der Urteilsfindung gemacht werden dürften, besteh[e] nicht." Abs. 10
Die Rechtmäßigkeit der Beweismittelgewinnung folge auch nach der Feststellung der Nichtigkeit der §§ 113a, 113b TKG, § 100g StPO (soweit danach Verkehrsdaten nach § 113a TKG erhoben werden dürfen) im Hauptsachverfahren noch aus der maßgeblichen einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts vom 11.03.2008.(11) Diese werde von der im Hauptsacheverfahren erfolgten Nichtigkeitserklärung des Bundesverfassungsgerichts nicht erfasst, sondern schaffe "eine zwar befristete, aber doch endgültige Ordnung".(12) Abs. 11
Ein selbständiges Beweisverwertungsverbot, das der weiteren strafprozessualen Verwertung der rechtmäßig erhobenen und übermittelten Verbindungsdaten entgegenstünde, sei nicht ersichtlich. Abs. 12

III.  Kontext der Entscheidung und rechtliche Bewertung

Der klar strukturierten und nachvollziehbar begründeten Entscheidung des BGH kann gefolgt werden. Eine abweichende Beurteilung der Problematik scheint angesichts der logischen und tragfähigen Argumentation des BGH schwer begründbar. Abs. 13

1.  Vorläufige Regelung gem. § 32 BVerfGG

Mit seiner Entscheidung folgt der BGH der herrschenden Meinung, wonach einer einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts eine "interimistische Befriedungsfunktion" zuzubilligen ist.(13) Demnach ist eine nachträgliche Neubewertung der bereits vorläufig geregelten Materie auch dann, wenn in der Hauptsache eine anders lautende Regelung ergeht, nicht mehr möglich.(14) Die einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts wird somit zur (vorläufigen) Ermächtigungsgrundlage für die Durchführung der Vorratsdatenspeicherung.(15) Abs. 14

2.  Hauptsacheentscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Der vorübergehenden Billigung der Vorratsdatenspeicherung und der strafprozessualen Verwertung der aufgrund der einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts erhobenen und übermittelten Telekommunikationsdaten steht die Hauptsacheentscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht entgegen. Wenngleich diese eine klare Einlassung zu der bestehenden Problematik nicht enthält, kann den Ausführungen der Bundesverfassungsgerichts (Leitsatz Nr. 3) entnommen werden, dass lediglich diejenigen, rechtmäßig aufgrund der einstweiligen Anordnung erhobenen Daten zu löschen sind, die noch nicht an die Strafverfolgungsbehörden übermittelt wurden.(16) "Einer solchen Regelung mit Gesetzeskraft (vgl. § 31 Abs. 2 BVerfGG) hätte es nicht bedurft, würde der auf der Grundlage der einstweiligen Anordnung durchgeführten Datenspeicherung und - übermittlung durch die Hauptsacheentscheidung ipso iure die Rechtsgrundlage entzogen. Ein Löschungsgebot hinsichtlich bereits übermittelter Daten hat das Bundesverfassungsgericht dagegen nicht statuiert und damit zum Ausdruck gebracht, dass die Ergebnisse der bereits vollzogenen Ermittlungsmaßnahmen nicht rückwirkend beseitigt werden, sondern vielmehr weiter verwendet werden dürfen."(17) Abs. 15

3.  Selbständiges Beweisverwertungsverbot

Zudem geht der BGH zutreffend davon aus, dass ein Beweisverwertungsverbot selbst dann nicht angenommen werden könne, wenn man im vorliegenden Zusammenhang aufgrund der ex-tunc-Wirkung der Nichtigerklärung der Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung von einem (rückwirkenden) Beweiserhebungsverbot ausgehe.(18) Ein Rechtssatz, wonach von einer unrechtmäßigen Maßnahme zwingend auf ein Beweisverwertungsverbot geschlossen werden müsse, existiert nicht.(19) Vielmehr ist in einen umfassenden Abwägungsprozess einzutreten, der die schutzbedürftigen Belange des Betroffenen und das Interesse der Allgemeinheit an einer funktionierenden Strafrechtspflege in angemessenen Ausgleich zu bringen hat.(20) Insoweit gilt es zu berücksichtigen, dass trotz der Schwere des Eingriffs eine Verletzung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung nicht festgestellt werden kann(21) und die Tataufklärung im Falle der Annahme eines Beweisverwertungsverbots in unverhältnismäßiger Weise erschwert würde(22). Abs. 16
Zutreffend betont in diesem Zusammenhang Volkmer, dass eine andere Bewertung hinsichtlich der in der Zeit vom 01.01.2008 (Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung) bis zum 11.03.2008 (Inkrafttreten der einstweiligen Anordnung) unter Berücksichtigung der Vorgaben des § 100a StPO gespeicherten und übermittelten Verkehrsdaten geboten sein könnte.(23) Mangels Wirkung der erst später ergangenen einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts erfolgte die Datenverwendung und -verwertung in diesem Zeitraum nämlich auf Grundlage einer ex tunc nichtigen Rechtsnorm.(24) Auf Grundlage der Annahme, dass "aus rechtsstaatlicher Sicht [ein] größerer Fehler als das Fehlen einer den Grundrechtseingriff legitimierenden Norm […] nur schwer vorstellbar [ist]"(25), könnte man angesichts der Unrechtmäßigkeit des staatlichen Eingriffs in diesem Zeitraum für ein Verwertungsverbot plädieren.(26) Abs. 17
Allerdings scheitert die Annahme eines Beweisverwertungsverbots auch in dieser Variante an den hohen Erfordernisses der Rechtsprechung hinsichtlich der anzustellenden Interessenabwägung. In diesem Zusammenhang gilt es nämlich insbesondere zu berücksichtigen, dass sich der "Missgriff der Ermittlungsbehörden" darauf beschränkt, "die betreffenden Daten 'zu früh‘ - nämlich vor Erlass der einstweiligen Anordnung des BVerfG - erhoben zu haben." Dieser Fehler ist (zumindest nach den hohen Erfordernissen der Rechtsprechung) nicht so schwerwiegend, dass er ein Beweisverwertungsverbot nach sich ziehen kann.(27) Abs. 18
Anders zu bewerten sind allerdings diejenigen Fälle, in denen die aus der einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts folgenden Erfordernisse nicht beachtet wurden und dennoch Vorratsdaten übermittelt wurden. Hier wird regelmäßig von einem Beweisverwertungsverbot auszugehen sein.(28) So verhält es sich auch dann, wenn "der aus verfassungsrechtlichen Gründen zum rechtsstaatlichen Mindeststandard gehörende" Richtervorbehalt nicht beachtet wurde.(29) Abs. 19

IV.  Die Zukunft der Vorratsdatenspeicherung

1.  Europarechtlicher Hintergrund

Die Einführung der Vorratsdatenspeicherung diente der Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.03.2006 über die Vorratsspeicherung von Daten.(30) Diese Richtlinie sieht eine Vorratsspeicherung von Daten vor, die im Rahmen der Bereitstellung öffentlicher elektronischer Kommunikationsdienste verarbeitet werden. Die Speicherpflicht betrifft gemäß der Richtlinie genau spezifizierte Verkehrsdaten aller über Festnetz oder Mobilfunknetz erbrachten Dienste, wobei die Vorratsdatenspeicherung ausschließlich den Zweck verfolgen darf, den zuständigen staatlichen Behörden Zugriff auf die Daten zu ermöglichen, um "schwere Straftaten" zu ermitteln, festzustellen und zu verfolgen.(31) Abs. 20
Die Umsetzung dieses europäischen Vorhabens war nicht nur in Deutschland von großen, öffentlichkeitswirksamen Protesten begleitet. Bereits am 08.10.2009 hatte der Verfassungsgerichtshof Rumäniens die dortige Form der Richtlinienumsetzung als verfassungswidrig verworfen.(32) Österreich und Schweden verweigerten die Umsetzung der Richtlinie und wurden deswegen am 29.07.2010 bzw. am 04.02.2010 im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens durch den EuGH verurteilt.(33) Zuletzt hatte am 31.03.2011 das Verfassungsgericht in Brünn die tschechische Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung für verfassungswidrig erklärt.(34) Abs. 21
Eine inhaltliche Überprüfung der Richtlinie 2006/24/EG dahingehend, ob sie gegen die am 01.12.2009 in Kraft getretene EU-Grundrechtecharta verstößt und damit unwirksam ist, ist seitens des irischen High Court(35) mit Entscheidung vom 05.05.2010 dem EuGH vorgelegt worden und seitdem anhängig. Abs. 22
Ferner ist diese Richtlinie Gegenstand einer umfassenden Evaluierung durch die EU-Kommission, in deren Rahmen vor allem auch die Vereinbarkeit mit den Grundrechten der Bürger der Mitgliedstaaten geprüft wird. Änderungen der Richtlinie seien bereits absehbar - Umfang und Tragweite der Änderungen jedoch noch nicht. Abs. 23
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es auf europäischer Ebene mit dem Verfahren vor dem EuGH und der Evaluierung durch die Kommission zwei Determinanten gibt, die die Zukunft der Vorratsdatenspeicherung bestimmen werden. Abs. 24

2.  Vorratsdatenspeicherung in Deutschland

In Deutschland sind die Meinungen gespalten; das Spektrum der verschiedenen Ansichten geht von der Erforderlichkeit der raschen Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung (z.B. Deutscher Richterbund) bis hin zur absoluten Ablehnung jeglicher Art der Vorratsdatenspeicherung bzw. deren Alternativen (z.B. Piratenpartei). Abs. 25
In der Folge sollen die ins Gespräch gebrachten Alternativverfahren zur Vorratsdatenspeicherung kurz dargestellt werden. Abs. 26
a)  Quick Freeze
Allgemein handelt es sich bei Quick Freeze um ein zweistufiges Verfahren zur Sicherung von Telekommunikationsdaten, die zur Strafverfolgung, zur Gefahrenabwehr oder aber beispielsweise auch zur Verfolgung von Urheberrechtsverstößen erforderlich sind. Abs. 27
Auf der ersten Stufe (Sicherungsanordnung) werden die Anbieter von Telekommunikationsdiensten verpflichtet, bestimmte, in der Anordnung näher benannte (bei den TK-Anbietern zu Abrechnungszwecken bereits vorhandene und nach der Anordnung neu hinzukommende) Verkehrsdaten nicht zu löschen. Die Sicherungsanordnung unterliegt nur geringen Anforderungen, z.B. Anfangsverdacht einer Straftat. Danach können etwa die Daten einer bestimmten Person, die einer Straftat verdächtig ist, "eingefroren" werden. Auf der zweiten Stufe (Erhebungsanordnung) müssen die Ermittlungsbehörden innerhalb einer vorgegebenen Frist den Nachweis erbringen, dass ihnen die vorgehaltenen Daten nach den gesetzlichen Vorgaben in einem Ermittlungsverfahren übermittelt werden müssen. Diese Auskunft unterliegt wesentlich strengeren Anforderungen und bedarf regelmäßig einer richterlichen Genehmigung. Sofern innerhalb der Frist keine entsprechende Anordnung ergeht, sind die Daten zu löschen. Abs. 28
Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts handelt es sich beim Quick-Freeze-Verfahren nicht um ein weniger einschneidendes Mittel, das ebenso weitreichende Aufklärungsmaßnahmen ermöglicht. Ein solches Verfahren, das Daten aus der Zeit vor der Anordnung ihrer Speicherung nur erfassen kann, soweit sie noch vorhanden sind, sei nicht ebenso wirksam wie eine kontinuierliche Speicherung, die das Vorhandensein eines vollständigen Datenbestandes für die letzen sechs Monate gewährleistet.(36) Abs. 29
Gegner des Quick Freeze argumentieren, dass bei diesem Verfahren viel mehr Daten abgerufen würden, als bei der bisherigen Vorratsdatenspeicherung. Beim "Einfrieren" würden die kompletten Server-Logfiles gespeichert, nicht nur die IP-Adresse und der Zeitpunkt des Einloggens.(37) Außerdem seien die Ermittler mit Quick Freeze ständig unter Zeitdruck, sie würden häufig Verkehrsdaten bei den Providern anfordern, egal, ob sie sie wirklich brauchen.(38) Abs. 30
b)  Eckpunktepapier zur Sicherung vorhandener Verkehrsdaten und Gewährleistung von Bestandsauskünften im Internet (Bundesministerium der Justiz)
Das Eckpunktepapier will einen Lösungsansatz vorschlagen, der eine unterschiedslose Speicherung der Verkehrsdaten aller Bürger in Deutschland vermeidet. Im Vordergrund steht eine anlassbezogene Speicherpflicht, bei der nur die Speicherung von Verkehrsdaten derjenigen Personen angeordnet wird, die einen hinreichenden Anlass dazu gegeben haben.(39) Nicht ausreichend erscheine es, lediglich die Speicherdauer (in welchem Umfang auch immer) zu verkürzen und es im Übrigen beim früheren Speicherumfang und dem anlasslosen Zugriff auf Verkehrsdaten zu belassen.(40) Abs. 31
Das Eckpunktepapier differenziert zwischen der Sicherung vorhandener Verkehrsdaten und der Gewährleistung von Bestandsdatenauskünften im Internet. Abs. 32
Im Internetbereich erfolgt eine eng befristete Speicherung von Verkehrsdaten zum Zweck, Bestandsdatenauskünfte, d.h. eine Zuordnung dynamischer IP-Adressen zu Personen, zu ermöglichen. Das Eckpunktepapier spricht sich damit in Bezug auf den Internetbereich für das Verfahren "Quick Freeze Plus" aus. Bei diesem auch als "Vorratsdatenspeicherung light" bekannten Ansatz sollen Verbindungsdaten sieben Tage verdachtsunabhängig von den Providern aufbewahrt werden.(41) Zulässig soll allein die Verwendung zur Auskunftserteilung über Bestandsdaten des Anschlussinhabers sein, die bereits heute nach § 113 TKG i.V.m. §§ 161, 163 StPO zur Verfolgung von Straftaten möglich ist. In diesen Fällen sind den Strafverfolgungsbehörden bereits die IP-Adressen bekannt, es geht nur noch um die Zuordnung, welchem Teilnehmer (unter Angabe von Name und Adresse) diese bestimmte IP-Adresse zu einem bestimmten Zeitpunkt zugewiesen war (Bestandsdatenauskunft). Abs. 33
Im Übrigen können die bei den TK-Unternehmen aus geschäftlichen Gründen bereits vorhandenen Verkehrsdaten anlassbezogen gesichert ("eingefroren") werden und stehen den Ermittlungsbehörden unter Richtervorbehalt eine begrenzte Zeit zur Verfügung. Für diesen Bereich spricht sich das Eckpunktepapier also für das "Quick Freeze" Verfahren aus. Abs. 34
c)  Quick Freeze Plus ("Vorratsdatenspeicherung light")
Das Quick-Freeze-Plus-Verfahren wurde ursprünglich vom Bundesdatenschutzbeauftragten Peter Schaar ins Gespräch gebracht. Notwendig sei dieses Verfahren, weil bestimmte Straftaten, insbesondere solche, die ausschließlich über das Internet begangen werden, nur schwer aufzuklären sind, wenn die Zuordnung von dynamischen IP-Adressen zu den Verursachern nicht möglich ist. Abs. 35
Gegen (Basic) Quick Freeze wird eingewandt, dass insbesondere bei Flatrate-Verträgen überhaupt keine Daten aufgezeichnet würden, die eingefroren werden könnten. Schaar halte es deshalb "für durchaus sinnvoll, darüber nachzudenken, ob nicht eine auf wenige Tage beschränkte Speicherungspflicht für Verkehrsdaten eingeführt und das Quick-Freeze-Verfahren auf diese Weise als zugleich effektive und grundrechtsschonendere Alternative zur Vorratsdatenspeicherung realisiert werden sollte.(42) Im Unterschied zum Eckpunktepapier des BMJ scheint aber nach Ansicht Schaars das Quick-Freeze-Plus-Verfahren auf alle Verkehrsdaten anzuwenden zu sein, nicht nur auf den Internetbereich. Abs. 36
d) "Mindestdatenspeicherung"
Der neue Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich prägte auf dem 23. Bundeskongress der Polizeigewerkschaft den Begriff der "Mindestdatenspeicherung" von sechs Monaten.(43) Das Wort "Mindestdatenspeicherung" solle dabei positivere Assoziationen auslösen als das Wort "Vorratsdatenspeicherung". Eine solche Mindestdatenspeicherung diene laut Friedrich dazu, das kriminelle Kommunikationsfeld eines Täters beleuchten zu können. Durch eine nicht vorhandene Speicherungspflicht für Daten durch die Internetprovider, sollen laut Bundesinnenminister Friedrich 85% aller Anfragen seitens der Strafverfolgungsbehörden bei den Providern unbeantwortet geblieben sein. Im Ergebnis ist die Mindestdatenspeicherung damit nichts anderes als eine den Vorgaben des BVerfGs entsprechend ausgestaltete, verfassungsgemäße Vorratsdatenspeicherung. Abs. 37

V. Rechtspolitische Schlussfolgerungen zur Vorratsdatenspeicherung

Die Entscheidung zwischen einer verfassungsgemäßen Ausgestaltung der Vorratsdatenspeicherung und einem ebenso verfassungskonform gestaltbaren Quick-Freeze-Verfahren ist in erster Linie eine rechtspolitische. Abs. 38
Die Bezeichnung Quick Freeze Plus jedenfalls erscheint irreführend, denn insoweit wird vom Grundgedanken des Quick Freeze Verfahrens abgewichen, dass nicht anlassbezogen die Löschung von Verkehrsdaten ausgesetzt wird, sondern, dass anlasslos Verkehrsdaten gespeichert werden. Im Ergebnis meint Quick Freeze Plus eine Vorratsdatenspeicherung mit verkürzter Speicherpflicht. Treffender wäre also die Bezeichnung "Vorratsdatenspeicherung light". Allenfalls das Eckpunktepapier des BMJ in seiner Gesamtheit könnte als Quick Freeze Plus bezeichnet werden: Quick Freeze für den Nicht-Internet-Bereich und Vorratsdatenspeicherung mit kurzer Frist für den Internetbereich quasi als "Plus". Abs. 39
Die Differenzierung im Eckpunktepapier scheint auf den ersten Blick sinnvoll. Jedoch ergeben sich dadurch im Nicht-Internet-Bereich erhebliche Lücken. Denn auch in diesen Bereichen kommen im täglichen Leben zahlreiche Flatratetarife zur Anwendung, z.B. Festnetzflatrate ggf. in Verbindung mit Flatrate vom Festnetz zum Mobilfunk, Mobilfunkflatrates auch in unterschiedliche Netze und SMS-Flatrates. Verkehrsdaten zu Abrechnungszwecken dürfen zumindest für den netzinternen Bereich nach §§ 96, 97 TKG nicht erhoben werden. Ein Zugriff der Ermittlungsbehörden wäre also in diesen Fällen nicht möglich. Ob dies gewollt ist, ist eine rein rechtspolitische Entscheidung. Auch mit Blick in die Zukunft und der flächendeckenden Einführung von IPv6 macht eine solche Differenzierung keinen Sinn, denn dann werden die IP-Adressen nicht mehr dynamisch vergeben. Bei einer statischen Zuweisung wäre jedoch eine anlasslose Speicherung auch auf diesem Sektor überflüssig.
JurPC Web-Dok.
90/2011, Abs. 40


F u ß n o t e n

 1  BVerfG, Urt. v. 02.03.2010 - 1 BvR 256/08 u.a., NJW 2010, 833. Abs. 41
 2 Besprechungen der Entscheidung finden sich u.a. bei Roßnagel, NJW 2010, 1238; Wybitul, BB 2010, 889; Wolff, NVwZ 2010, 751 und Forgó/Krügel, K&R 2010, 217. Abs. 42
 3  Volkmer, NStZ 2010, 318. Abs. 43
 4  BVerfG, Urt. v. 02.03.2010 - 1 BvR 256/08 u.a., NJW 2010, 833; Ziffer 3 des Tenors. Abs. 44
 5  BVerfG, Beschl. v. 11.03.2008 - 1 BvR 256/08, NVwZ 2008, 543. Abs. 45
 6  Dazu bereits ausführlich Volkmer, NStZ 2010, 318; Marlie/Bock, ZIS 2010, 524. Abs. 46
 7  NJW-Spezial 2010, 378; NJW-Spezial 2010, 601. Abs. 47
 8  OLG Hamm, Beschl. v. 13.04.2010 - 3 Ws 140/10, MMR 2010, 583; OLG München, Beschl. v. 27.05.2010 - 2 Ws 404-10, 2 Ws 404/10, BeckRS 2010, 19914; a.A. wohl LG Verden, vgl. Marlie/Bock, ZIS 2010, 524, 526 f. Abs. 48
 9  BVerfG, Urt. v. 02.03.2010 - 1 BvR 256/08 u.a., NJW 2010, 833. Abs. 49
 10  BVerfG, Beschl. v. 11.03.2008 - 1 BvR 256/08, NVwZ 2008, 543. Abs. 50
 11  Hierin hatte das Bundesverfassungsgericht festgelegt, dass im Rahmen der Verfolgung von Katalogtaten im Sinne des § 100a Abs. 2 StPO Verkehrsdaten zu übermitteln sind, wenn die Voraussetzungen des § 100a Abs. 1 StPO vorliegen. Abs. 51
 12  So die vom BGH zitierte Ausführung des Generalbundesanwalts. Abs. 52
 13  Lechner/Zuck, BVerfGG, 4. Auflage 1996, § 32 Rn. 6; Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, Stand: 33. Ergänzungslieferung 2010, § 32 Rn. 8; Marlie/Bock, ZIS 2010, 524, 527; Volkmer, NStZ 2010, 318, 320; a.A. wohl LG Verden, vgl. Marlie/Bock, ZIS 2010, 524, 526 f. Abs. 53
 14  Vgl. Graßhof, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, Stand: 33. Ergänzungslieferung 2010, § 32 Rn. 8; mit weiteren Literaturhinweisen BGH, Beschl. v. 18.01.2011 - 1 StR 663/10, Rn. 13 f. Abs. 54
 15  Marlie/Bock, ZIS 2010, 524, 527; das Bundesverfassungsgericht wird zum "Interimsnormgeber", BGH, Beschl. v. 18.01.2011 - 1 StR 663/10, Rn. 15. Abs. 55
 16  Zutreffend BGH, Beschl. v. 18.01.2011 - 1 StR 663/10, Rn. 16. Abs. 56
 17  BGH, Beschl. v. 18.01.2011 - 1 StR 663/10, Rn. 16. Abs. 57
 18  BGH, Beschl. v. 18.01.2011 - 1 StR 663/10, Rn. 24 ff. Abs. 58
 19  Volkmer, NStZ 2010, 318 ff. Abs. 59
 20  BGH, Beschl. v. 18.01.2011 - 1 StR 663/10, Rn. 25. Abs. 60
 21  BGH, Beschl. v. 18.01.2011 - 1 StR 663/10, Rn. 26. Abs. 61
 22  Vgl. BGH, Beschl. v. 18.01.2011 - 1 StR 663/10, Rn. 27. Abs. 62
 23  Volkmer, NStZ 2010, 318, 320. Abs. 63
 24  Volkmer, NStZ 2010, 318, 320. Abs. 64
 25  Volkmer, NStZ 2010, 318. Abs. 65
 26  Vgl. Volkmer, NStZ 2010, 318, 320. Abs. 66
 27  Volkmer, NStZ 2010, 318, 320. Abs. 67
 28  Volkmer, NStZ 2010, 318, 320. Abs. 68
 29  Gietl, DuD 2010, 398, 403. Abs. 69
 30  Für die Regelungsbereiche des Internet-Zugangs, der Internet-Telefonie und der E-Mail bis zum 15.03.2009 in nationales Recht zu transformieren.; zu den europarechtlichen Grundlagen der Vorratsdatenspeicherung Braun, in: Taeger/Gabel, BDSG, 2010, §§ 113a, 113b TKG Rn. 7 ff. Abs. 70
 31  Roßnagel, NJW 2010, 1238. Abs. 71
 32  Curtea Constituţională a României, Entscheidung Nr. 1258 vom 08.10.2009. Abs. 72
 33  Zum Verfahren gegen Österreich: EuGH, Urt. v. 29.07.2010 - C-289/09. Abs. 73
 34  Daneben ergingen weitere verfassungsgerichtliche Urteile in verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, z.B. in Zypern und Bulgarien. Abs. 74
 35  Der High Court ist das oberste Zivil- und Strafgericht der Republik Irland. Abs. 75
 36  Vgl. BVerfG, Urt. v. 02.03.2010 - 1 BvR 256/08 u.a., Rn. 208. Abs. 76
 37  http://www.zeit.de/politik/deutschland/2011-01/vorratsdaten-leutheusser-maiziere. Abs. 77
 38  http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,738708,00.html. Abs. 78
 39  Eckpunktepapier S. 2. Abs. 79
 40  Eckpunktepapier S. 2. Abs. 80
 41  Eckpunktepapier S. 5 f. Abs. 81
 42  http://www.golem.de/1011/79406.html. Abs. 82
 43  Nach anderen Quellen soll dieser Begriff auf den Innenminister Nordrhein-Westfalens Ralf Jäger zurückzuführen sein.
Abs. 83
* Ass. jur. Alexander Seidl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sicherheitsrecht und Internetrecht,
Akademischer Rat a. Z. Florian Albrecht, M.A., ist Geschäftsführer der Forschungsstelle für Rechtsfragen der Hochschul- und Verwaltungsmodernisierung (ReH..Mo),
beide Universität Passau.
[ online seit: 24.05.2011 ]
Zitiervorschlag: Autor, Titel, JurPC Web-Dok., Abs.
Zitiervorschlag: Seidl, Alexander, Zur strafrechtlichen Verwertbarkeit von "Vorratsdaten"  - Anmerkung zu BGH, Beschl. v. 18.01.2011 - 1 StR 663/10 - JurPC-Web-Dok. 0090/2011