JurPC Web-Dok. 51/2008 - DOI 10.7328/jurpcb/200823455

Swen Kiesewetter-Köbinger *

Wie nagelt man Pudding an die Wand?

JurPC Web-Dok. 51/2008, Abs. 1 - 16


 
Patentprüfung von Computerprogrammanmeldungen sollte eigentlich ganz einfach sein. Eigentlich! Denn Schutzbegehren für solche Gegenstände stehen der Patentfähigkeit entgegen. Aber nur insoweit! Die Thematik ist patentrechtlich schon schwer genug und kann auf europäischer Ebene als weitgehend ungelöst angesehen werden. Was macht man als Patentprüfer aber, wenn man nun ein Computerprogramm als Entgegenhaltung zu einer Computerimplementierten "Erfindung" hat? JurPC Web-Dok.
51/2008,  Abs. 1
 
Die Schwierigkeiten, die sich daraus zusätzlich ergeben können, lassen sich sehr gut anhand von Beispielen aus der Praxis des Autors erkennen. Ein solcher Fall ist eine Anmeldung für ein "Verfahren zum Vorabspeichern von Computernetzwerk-Information"[1]. Der Fachmann nennt solche Programme "Proxy Caches". Das Internetdokument "Proxy Caches" [2]führt eine lange Liste solcher Computerprogramme. Nach Auskunft der WaybackMachine [3] führte diese Internetadresse solch eine Liste auch schon vor dem Anmeldetag der Anmeldung. Abs. 2
 
Ein Systemadministrator, der solch eine Funktion, wie in DE 100 08 949 C2 beansprucht, implementieren wollte, hätte sich sicherlich bei diesen damals bekannten Proxy Caches umgesehen und wäre bei dem Begriff "prefetching" mit "Wcol" [4]fündig geworden. "Schön, dass es mit [5], [6] und [7] auch noch eine gute Dokumentation der Funktionalität gibt" hätte er sich gedacht, was bei Open Source Software nicht unbedingt immer zu erwarten ist. So muss man wenigstens nicht den Quelltext [8]durchforsten, um die Funktionalität zu erkunden [9]. Abs. 3
 
Als misstrauischer Prüfer schaut man dann auch noch nach, ob die Autoren ihr Programm tatsächlich auf der INET'97 [10]präsentiert haben. CiteSEER erfasste den Beitrag leider erst später [11]. Soweit, so gut, denkt sich der Prüfer und hält die gefundenen Dokumente mit ihren Zeitangaben mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit für zuverlässig bewiesen; zumindest als Indizienkette sind mit dieser Zusammenschau der Dokumente Zweifel ausgeräumt. Freie Beweiswürdigung nach § 286 ZPO [12]sollte ja auch für Patentprüfer gelten. Abs. 4
 
Denkste! Im nachfolgenden Beschwerdeverfahren [13]findet sich der Prüfer plötzlich auf der Klägerseite und mit den Anforderungen des Strengbeweises konfrontiert, ohne selbst weiter beteiligt zu sein. Der Nachweis des selben sachlichen Inhalts durch unterschiedliche Internetdokumente unterschiedlicher Server mit jeweils unabhängigen Zeitangaben genügte nicht. Auch die unabhängigen Zeitangaben "sogenannter Internetarchive wie z.B. http://www.archive.org" genügte dem Senat nicht, denn "die Zuverlässigkeit von unter solchen Adressen abrufbaren Informationen ist nicht höher als die jeder unter einer anderen Internetadresse abrufbaren Information. Zudem sind solche Archive in aller Regel weder vollständig noch zeitnah." Abs. 5
 
Womöglich stellt der Senat hier Anforderungen an elektronische Dokumente, wie an Urkunden gemäß § 416a ZPO [14]. Da Internetentgegenhaltungen Privaturkunden vergleichbar sind, muss nach § 440 Abs 1 ZPO [15]deren Echtheit bewiesen werden. Aber welcher Nagel ist für das "an die Wand nageln" puddingartiger Weichware mit ausschließlich elektronischen Dokumenten geeignet? Abs. 6
 
§ 294 Abs 1 ZPO [16] erlaubt eine Versicherung an Eides statt. Also ganz einfach die Autoren CHINEN K., YAMAGUCHI S. in Japan zu einer eidesstattlichen Versicherung auffordern? Oder die verantwortlichen Betreiber der WaybackMachine in den USA? Die werden einem Prüfer was husten. Wie im Fall [17] kann man damit rechnen, keine Antwort zu bekommen. Bei noch nicht offengelegten Patentanmeldungen läuft man zudem Gefahr, Geheimnisverrat zu betreiben. Der zeitliche Aufwand für solche Beweiserhebungen ist im normalen Prüfungsverfahren nicht zu rechtfertigen. Abs. 7
 
Also muss der Prüfer bei der Prüfstoffpflege schneller sein, als die Anmelder, zeitnah (täglich?) das Internet durchforsten (wie die WaybackMachine), prüfstoffrelevante Dokumente ausdrucken und mit Datumsstempel und Unterschrift versehen, denn laut Senat "hängt die Zeitangabe, mit der der Internet- Browser einen solchen Ausdruck versieht, von der Systemzeit des ausdruckenden Rechnersystems ab. Deren Einstellung liegt aber im Zugriffsbereich der ausdruckenden Stelle, wie eine Überprüfung durch den Senat ergab, so dass die Zeitangabe auf einem solchen Ausdruck nur bedingt geeignet ist, das Alter der Information zu belegen." Aber hoppla, bei dem geringsten Verdacht auf solche Urkundenfälschung durch die ausdruckende Prüfungsstelle [18]muss unverzüglich die Staatsanwaltschaft eingeschaltet werden! Abs. 8
 
Der Senat fordert ein glaubwürdiges amtliches Archiv [19], das vollständiger und zeitnäher als die WaybackMachine ist: Abs. 9
  • Zeitnäher bedeutet ganz einfach mehr Rechercheure mit Suchroboter und eine bessere Netzanbindung als die WaybackMachine, Google oder Yahoo.
  • Vollständiger bedeutet zumindest noch mehr Speicherplatz als die WaybackMachine [20].
  • Glaubwürdig bedeutet für elektronische Dokumente eine qualifizierte elektronische Signatur gemäß § 126a Abs 1 BGB [21] mit § 2 Nr. 3 SigG [22].
  • Abs. 10
    Bei 1. und 2. ist der Staatshaushalt kräftig gefordert, denn dazu erfordert es eine Mannschaft, welche der von Google, Yahoo und WaybackMachine zumindest ebenbürtig ist. Fordert man nach 3. eine digitale Signatur für alle Entgegenhaltungen, so erfüllt dies derzeit noch nicht mal DEPATISnet [23], obwohl die Übertragung zertifiziert (über https [24]) abläuft. Wer bösgläubig ist, kann darum auch die Echtheit der Dokumente aus DEPATISnet in Zweifel ziehen, denn diese liegen ausschließlich elektronisch vor und werden von dem Privatunternehmen "Bundesdruckerei" [25]erzeugt. IEEE [26], ACM, Beuth, ISO, ETSI uvam. liefern ihre Internetdokumente alle ohne qualifizierte elektronische Signatur und sind wohl kaum glaubwürdiger als die ISOC [27], deren Tagungsband zur INET'97 nicht anerkannt wurde. Wieso sollten andere Dokumente glaubwürdiger sein? Kein Prüfer holt sich seine Dokumente mehr aus der Zeitschriftenbibliothek, sondern elektronisch. Abs. 11
     
    Der Archivierung elektronischer Dokumente hat der Gesetzgeber mit § 53 Abs 5 UrhG [28] zudem einen kräftigen Riegel vorgeschoben. § 45 Abs 1 UrhG [29]erlaubt nur Vervielfältigungsstücke von Werken in Verfahren und nicht zur vorausschauenden Dokumentation. § 45 Abs 2 UrhG erlaubt für die Zwecke der Rechtspflege nur die Vervielfältigung von Bildnissen, nicht von Werken wie elektronischen Texten oder gar Computerprogrammen. Damit müsste das Amt für jedes in die amtliche Dokumentation des Standes der Technik einzustellende Werk eine Erlaubnis der Rechteinhaber einholen, damit deren Verfügungs- und Verwertungsrecht gewahrt bleibt. Vollständigkeit adieu! Abs. 12
     
    Manches lässt sich mit Geld bezahlen, aber viele Dokumente des Internet sind jedermann frei zugänglich. Trotzdem müssen die jeweiligen Verfügungsrechte beim Aufbau einer Dokumentation des Standes der Technik respektiert werden. Bei dem Open-Source-Programm procmail [30]beispielsweise gilt die GNU GPL [31], die relativ leicht zu erfüllen ist. Andere freie Lizenzen weichen davon ab. Bei jeder Archivierung in der Dokumentation des DPMA sind diese Lizenzregeln aber zu beachten. Im Zweifel muss nachgefragt werden. Welch ein Aufwand! Abs. 13
     
    Bei procmail als Hauptentgegenhaltung in DE 19681387 B4 [32]fehlten dem Senat Beweise für die öffentliche Zugänglichkeit vor dem Prioritätstag [33]. Alte Debian- [34] oder Slackware-Distributionen [35]gab es nicht im Amt (denn Software ist ja bekanntlich "nicht technisch", wieso also sollte Software im Amt dokumentiert werden) und auf den älteren privaten S.u.S.E.-CDs fehlte ausgerechnet procmail. Dem Prüfer hat das HISTORY-File [36] iVm. mit dem Dateiänderungsdatum auf dem Internetserver als Beweis für die Vorveröffentlichung nach § 3 Abs. 1 Satz 2 PatG genügt [37], weil er das Programm schon von früheren Zeiten als UNIX-Systemadministrator hinreichend kannte. Aber der Senat bewertete die Beweiskraft anders. Abs. 14
     
    Folgt man dem Senat gemäß den Entscheidungen BPatG 17 W (pat) 1/02, 17 W (pat) 10/02 und 17 W (pat) 47/00 [38], so ignoriert man solche hinderlichen Hinweise aus dem Internet am besten und erteilt. Nur wenn diese Dokumente der Patentfähigkeit nicht entscheidend entgegen stehen, wie in BPatG 17 W (pat) 14/03 [39], 23 W (pat) 301/02, 23 W (pat) 325/03 [40] und 23 W (pat) 359/04 drückt man ein Auge zu oder lässt es dahinstehen. Markenrechtlich wird zumindest in den Entscheidungen BPatG 28 W (pat) 59/06 [41], 28 W (pat) 239/04 [42], 33 W (pat) 4/05 [43]und 33 W (pat) 240/02 [44] dem Internetarchiv mehr Vertrauen geschenkt. Abs. 15
     
    Am Europäischen Patentamt hat man sich der Internetproblematik anders angenommen [45]. In den EPA Prüfungsrichtlinien [46] Teil C VI 13 mit Teil E IV 1.2 legt man die Gegenbeweislast auf den Anmelder und geht von der Authentizität der Datumsangaben bei Internetdokumenten aus. Welche Beweis- und Gegenbeweismittel die Technischen Beschwerdesenate anerkennen und ob sie im Zweifel selbst Beweis erheben, wird sich herausstellen. Am DPMA werden die Prüfer aber bis auf Weiteres Pudding an die Wand nageln müssen oder auf Einsprüche mit zweiseitigem Verfahren hoffen.
    51/2008,  Abs. 16


    Fußnoten:

    [1] DE 100 08 949 C2
    [2] http://www.web-caching.com/proxy-caches.html
    [3] http://web.archive.org/web/20000116045731 /http://www.web-caching.com/proxy-caches.html
    [4] http://web.archive.org/web/19990117021431 /http://shika.aist-nara.ac.jp/products/wcol/wcol.html
    [5] CHINEN K., YAMAGUCHI S.: "An Interactive Prefetching Proxy Server for Improvements of WWW Latency" http://web.archive.org/web/19990202192422 /http://shika.aist-nara.ac.jp/member/k-chinen/publications/wcol-inet97/index.html
    [6] CHINEN K.: "Cuckoo - collect resources on other proxy´s cache" http://web.archive.org/web/19990117003540 /http://shika.aist-nara.ac.jp/products/wcol/cuckoo.html
    [7] "Prefetching Concepts of Wcol" http://web.archive.org/web/19990427175536 /http://shika.aist-nara.ac.jp/products/wcol/tech/p_concept.html
    [8] http://de.wikipedia.org/wiki/Quelltext
    [9] Empfehlenswert hierzu Spinellis D.: "Code Reading: The Open Source Perspective". Addison Wesley, 2003. ISBN 0-201-79940-5 http://www.spinellis.gr/codereading/
    [10] http://web.archive.org/web/19990504143528 /http://info.isoc.org/isoc/whatis/conferences/inet/97/proceedings/A1/A1_3.HTM
    [11] http://web.archive.org/web/20011130044053 /http://citeseer.nj.nec.com/context/1041319/0
    [12] http://bundesrecht.juris.de/zpo/__286.html
    [13] BPatG 17 W (pat) 1/02 BlPMZ 2003, 154-156 = JurPC Web-Dok. 121/2003
    [14] http://bundesrecht.juris.de/zpo/__416a.html; siehe auch Thomas Deutsch, Die Beweiskraft elektronischer Dokumente, JurPC Web-Dok. 188/2000, Abs. 29ff.
    [15] http://bundesrecht.juris.de/zpo/__440.html
    [16] http://bundesrecht.juris.de/zpo/__294.html
    [17]Für DE19718410C2 wurde bei der Firma MATROX ein Nachweis der Vorveröffentlichung von ALBANESE, Stephen: "DSP-based Vision Comes Of Age", in DSP and Multimedia Technology, März/April 1997, http://www.matrox.com/imaging/news/techart/archives/dspvision.htm  jetzt: http://www.matrox.com/imaging/news_events/feature/archives/1997/dspvision.cfm angefragt. Die Zeitschrift wurde zwischenzeitlich eingestellt.
    [18] § 267 Abs 3 Nr 4 StGB http://bundesrecht.juris.de/stgb/__267.html
    [19] "Dokumentation des Patentamts" laut § 29 Abs 3 PatG http://bundesrecht.juris.de/patg/__29.html
    [20] Mehr als 1015 Bytes laut http://en.wikipedia.org/wiki/Waybackmachine#Wayback_Machine
    [21] http://www.gesetze-im-internet.de/bgb/__126a.html
    [22] http://www.gesetze-im-internet.de/sigg_2001/__2.html
    [23]https://depatisnet.dpma.de/DepatisNet/depatisnet
    [24]http://de.wikipedia.org/wiki/Https
    [25] http://de.wikipedia.org/wiki/Bundesdruckerei
    [26] Von McTiernan, C.E.; "The ENIAC patent" IEEE Annals of the History of Computing, http://dx.doi.org/10.1109/85.667303kennt der Autor zumindest zwei verschiedene Versionen mit unterschiedlicher Seitenzahl.
    [27] Internet Society http://www.isoc.org/
    [28] http://www.gesetze-im-internet.de/urhg/__53.html
    [29] http://www.gesetze-im-internet.de/urhg/__45.html
    [30] http://www.procmail.org/
    [31] http://www.procmail.org/procmail-3.22/COPYING
    [32] Das verblüffend ähnliche Patent DE 100 48 113 C2 wurde zum Softwarepatent des Monats August 2006 gekürt http://www.nosoftwarepatents-award.com/vote200608/patent4.de.html
    [33] BPatG 17 W (pat) 10/02 in JURIS http://www.juris.de/jportal/ 
    [34] http://www.de.debian.org/doc/manuals/project-history/ch-detailed.de.html
    [35] http://www.slackware.com/info/
    [36] http://www.procmail.org/procmail.HISTORY.html
    [37] Hierzu Niedlich W.: "Veröffentlichungen im Internet" MittdtschPatAnw 2004, 349-351 oder EPA T_1134/06 http://legal.european-patent-office.org/dg3/pdf/t061134eu1.pdf; siehe auch WIKIPEDIA http://en.wikipedia.org/wiki/Internet_as_a_source_of_prior_art
    [38] BPatG 17 W (pat) 47/02 in JURIS http://www.juris.de/jportal/
    [39]BPatG 17 W (pat) 14/03 in JURIS http://www.juris.de/jportal/
    [40]BPatG 23 W (pat) 325/03 in JURIS http://www.juris.de/jportal/
    [41]BPatG 28 W (pat) 59/06 in JURIS http://www.juris.de/jportal/
    [42]BPatG 28 W (pat) 239/04 in JURIS http://www.juris.de/jportal/
    [43]BPatG 33 W (pat) 4/05 in JURIS http://www.juris.de/jportal/
    [44] BPatG 33 W (pat) 240/02 in JURIS http://www.juris.de/jportal/
    [45]Andlauer D., Sideris M., Tsitsilonis L. "Seminar on Search and Documentation Working Methods Internet as a source of prior art and status of the results" http://academy.epo.org/schedule/2006/ic04/IC-04/G5p.pdfsowie Sideris M. "Internet as source of prior art" DG1 European Patent Office 2006 Seminar on Search and Documentation Working Methods http://academy.epo.org/schedule/2006/ic04/IC-04/G5p_supplementary_material.pdf
    [46] http://www.epo.org/patents/law/legal-texts/guidelines_de.html

    * Dr. Swen Kiesewetter-Köbinger ist Patentprüfer am DPMA. Dieser Aufsatz gibt einzig die Meinung des Autors wieder.
    [ online seit: 01.04.2008 ]
    Zitiervorschlag: Autor, Titel, JurPC Web-Dok., Abs.
    Zitiervorschlag: Kiesewetter-Köbinger, Swen, Wie nagelt man Pudding an die Wand? - JurPC-Web-Dok. 0051/2008