JurPC Web-Dok. 111/2000 - DOI 10.7328/jurpcb/2000157113

Christian Sagawe *

Vom Lückenfüller zum (unentbehrlichen ?) Hilfsmittel:
Die Mailingliste der Anwälte

JurPC Web-Dok. 111/2000, Abs. 1 - 21


Rechtsanwälte müssten - wenn es nach den Mandanten ginge - allwissend sein. Welcher Praktiker kennt nicht die Situation, mit Fragen wie den folgenden´konfrontiert zu werden: Muß ein nicht vereinbarter Kerosinzuschlag für eine Pauschalreise gezahlt werden? Können Vereinbarungen mit dem behandelnden Arzt nach § 2 GOZ gegenüber dem privaten Krankenversicherer durchgesetzt werden? Kennen Sie einen deutsch sprechenden japanischen Anwalt, der bei der Durchsetzung eines Unterhaltsanspruchs beraten kann? Darf sich ein (gegnerischer) Anwalt, wenn die Beweislage schlecht ist, die Forderung seines Mandanten abtreten lassen, um den Mandanten im Prozeß als Zeugen auftreten lassen zu können? Muß der Verkäufer bei einer Gutschrift nur den Warenwert, oder auch die zuvor bereits gewährten 4% Skonto erstatten? Können nach dem neuen § 284 Abs.3 BGB Verzugszinsen auch vor dem 30-Tages-Zeitraum geltend gemacht werden, wenn die Forderung sofort fällig ist und nach kurzer Zeit gemahnt wird?JurPC Web-Dok.
111/2000, Abs. 1
Fragen über Fragen (eine kleine Auswahl der letzten drei Wochen), deren Beantwortung in der Regel eine sorgfältige Recherche erfordert. Wohl dem, der einen erfahrenen Kollegen zwei Türen weiter befragen kann, wenn die Zeit zum Nachlesen oder die Spezialliteratur im Büro nicht vorhanden ist. Der Anwalt, der nicht in der glücklichen Lage ist, zu allen Sach- und Rechtsgebieten über die erforderlichen Ressourcen zu verfügen, kann jetzt ohne großen technischen Aufwand viele Kollegen gleichzeitig um Rat bitten, nämlich mit Hilfe der Mailingliste "ANWALT".Abs. 2
Deren Entstehung geht auf einen "Arbeitskreis Internet" zurück, den die Hanseatische Rechtsanwaltskammer in Hamburg 1997 ins Leben rief, bei dem etwa 30 bis 40 Rechtsanwälte alle zwei Monate Informationen und Meinungen zum damals noch ganz neuen Medium Internet austauschten. Um die Kommunikation in den doch recht langen Intervallen nicht einschlafen zu lassen, kam die Idee auf, den Kontakt - getreu der Devise "learning by doing" - per E-Mail aufrechtzuerhalten. Damit dann aber auch jede Nachricht tatsächlich alle Teilnehmer des Arbeitskreises erreicht, hätte jeder Teilnehmer seine E-Mail natürlich an sämtliche anderen Teilnehmer verschicken müssen. Dieses Verfahren wäre indes sehr umständlich gewesen, und die Probleme, wenn ein neuer Teilnehmer hinzu kommen würde oder sich eine E-Mail-Adresse änderte, waren vorhersehbar. Die Lösung war die Einrichtung einer sogenannten Mailingliste.Abs. 3
Die Idee der Mailingliste ist ganz einfach: Ein zentraler Computer verwaltet die E-Mail-Adressen der Teilnehmer der Mailingliste. Schreibt einer der Teilnehmer eine Nachricht an die E-Mail-Adresse der Mailingliste, wird diese Nachricht automatisch an alle weiter verteilt (Kommunikation "one to many"). Jeder der Empfänger kann dann seinerseits zur E-Mail Stellung nehmen, wenn er möchte, indem er seinerseits eine Nachricht an den zentralen Computer sendet.Abs. 4
So einfach die Idee ist, so kompliziert ist die praktische Umsetzung. Die Software muß z.B. gewährleisten, daß E-Mails, die ihren Empfänger nicht erreichen (aus welchem Grund auch immer) nicht zurück an die Liste geschickt werden und sich so unnützer E-Mailverkehr schnell zu einem Kollaps hoch schaukelt. Oder ebenso wichtig ist es, zu gewährleisten, daß der Zugang begrenzt werden kann und eben nur die Mitglieder der Mailinglisten schreiben und lesen dürfen.Abs. 5
Damals war das Neuland; inzwischen gibt es zahlreiche Anbieter, die die Verwaltung von Mailinglisten anbieten, teils sogar kostenlos (dann durch Werbung finanziert), als Shareware oder auch als kommerzielle Software. Abs. 6
http://www.egroups.de/
http://www.kbx.de/
http://www.listserv.com/
Abs. 7
Die Wahl fiel auf die sehr vielseitige Software "Listserv", die in einer abgespeckten Fassung auch als Freeware zur Verfügung steht, und von dem Hamburger Provider MANTiS betreut wird. Die Anmeldung zur Teilnahme an der Mailingliste ANWALT (so wurde sie getauft) erfolgt durch eine E-Mail an die OrganisationsadresseAbs. 8
mailto:listserv@listserv.mantis.de
mit dem Text
subscribe anwalt "Ihr Name"
Abs. 9
(wobei natürlich die Anführungszeichen weggelassen und der tatsächliche Namen eingeben werden muß). Ein "Betrifft" (subject) ist nicht erforderlich. Die Listensoftware antwortet dann umgehend mit einer Begrüßungs-E-Mail an die angegebene Adresse und bittet darum, das Abonnement zu bestätigen (auf diese Weise wird verhindert, daß unerwünschte Abonnements für Dritte gezeichnet werden).Abs. 10
Eine Zugangskontrolle in dem Sinne, daß nur Anwälten die Teilnahme gestattet ist, erfolgte bisher nicht. Zwar richtet sich die Liste ausschließlich an Anwälte und ist dem Informations- und Meinungsaustausch der Rechtsanwälte vorbehalten. Die Erfahrungen der Vergangenheit haben allerdings gezeigt, daß ganz wertvolle Beiträge nicht nur von Berufsträgern, sondern auch von Justitiaren, Rechtslehrern, Richtern und Rechtspflegern kamen. Gleichwohl erscheint die Beschränkung auf anwaltliche Belange wichtig: Zum einen, um von vorne herein die Erörterung von Fallgestaltungen des großen BGB-Scheins zu verhindern, zum anderen, um nicht dem Versuch ausgesetzt zu sein, daß Rechtssuchende auf diese Art kostenlosen Rechtsrat erhoffen (und damit den Anwalt dem Vorwurf standeswidriger Beratung aussetzen). Sogar Mitarbeiter von Softwarehäusern, die Rechtsanwaltssoftware vertreiben, sind vertreten. Schließlich können sie so die Wünsche (und Verwünschungen) ihrer Zielgruppe am besten kennenlernen. Auf einen Umstand wird indes großes Gewicht gelegt: Es wird erwartet, daß jeder seinen Status offenlegt (sich "outet" im Jargon der Liste) und so keine Schleichwerbung betrieben wird.Abs. 11
Die erörterten Themen sind so vielschichtig und vielfältig wie die anwaltliche Tätigkeit selbst. Anstoß ist häufig die Situation, daß ein Listenteilnehmer von einem Mandanten (Gegner, Gericht) mit einer Frage konfrontiert wird, die nicht zu seinem täglichen Brot gehört. Bringt der Blick ins Gesetz, den Kommentar und die Internet-Suchmaschine kein Resultat (wer vorher fragt, findet sich mitunter bösen Bemerkungen ausgesetzt), fragt der Kollege die anderen Listenteilnehmer (die von einigen auch "die Listigen" genannt werden). Erstaunlicherweise gibt es kaum einen Sachverhalt, wie ungewöhnlich er auch immer sein mag, zu dem nicht einer der Teilnehmer einen Tip oder einen Hinweis geben kann. Immer wieder ist man überrascht über den geballten Sachverstand der Kollegen, der weiterhilft. Dabei kann natürlich nicht jedes Problem ad hoc gelöst werden; das wäre gewiß zuviel erwartet. Allerdings hilft in der Regel schon die Erörterung weiter, die einen auf neue Gedanken bringen kann, wie die Sache weiter bearbeitet werden kann.Abs. 12
Nun könnte man vermuten, daß wenig oder keine Bereitschaft besteht, die ungelösten Fälle anderer Kollegen zu bearbeiten. Weit gefehlt: Die enorme Hilfsbereitschaft der Listenteilnehmer ist immer wieder überraschend. Es gibt kaum eine Frage, die ohne Antwort und Hilfestellung bleibt. Da jeder Kollege weiß, wie schnell man in seiner täglichen Arbeit auf Grenzen stößt, die Ideen oder Informationen von außen notwendig machen, besteht die Bereitschaft, nach dem Prinzip "do ut des" Fragen anderer Kollegen zu beantworten.Abs. 13
Neben der konkreten Hilfestellung bei der Fallbearbeitung gibt es noch zahlreiche weitere Funktionen der Liste:Abs. 14
* Der Erfahrungsaustausch bei der Benutzung von neuer Technologie (z. B. Spracherkennung) oder der Funktionalität von Anwaltsprogrammen spielt immer wieder eine große Rolle.
* Wer einen Korrespondenzanwalt mit besonderen Sprach- oder Fachkenntnissen sucht, sei es hierzulande oder in fernen Ländern, erhält schnell Hilfestellung. Bei der Vergabe von Korrespondenzmandaten wird mancher Listenteilnehmer auch gerne einen Kollegen ansprechen, der ihm durch seine Beiträge in der Anwaltsliste bereits aufgefallen ist.
* Eine weitere hilfreiche Funktion ist die Beschaffung von Literatur oder Rechtsprechung: Wer in der Situation steht, kurzfristig abgelegene Fundstellen überprüfen zu müssen, kann in der Regel auf Unterstützung der Kollegen mit besser ausgestatteten Bibliotheken rechnen (natürlich nur solange dies nicht als einfache und billige Literaturverschaffung mißbraucht wird).
* Und schließlich eignet sich die Mailingliste hervorragend zur Verbreitung von Informationen über neue Homepages, Rechtsprechung, Stand der Gesetzgebung und derlei mehr. Auf diese Weise wurden z. B. die Listenteilnehmer sehr früh vor dem "I love you"-Wurm gewarnt.
Abs. 15
Aus den anfangs 28 Listenteilnehmern aus Hamburg im Januar 1998 sind inzwischen über 400 Teilnehmer aus allen Bundesländern geworden, einschließlich einiger Kollegen aus den angrenzenden Ländern (und Brasilien). Die zur Verhinderung von Werbe-E-Mails anfallenden laufenden Kosten der Liste hat erfreulicherweise die Hanseatische Rechtsanwaltskammer in Hamburg übernommen, was auch keinerlei geographische Zugangsbeschränkung mit sich brachte.
http://www.rechtsanwaltskammerhamburg.de/
Abs. 16
Die steigende Zahl der Teilnehmer führte naturgemäß auch dazu, daß die Zahl der täglichen Nachrichten wächst; im Schnitt sind es zur Zeit 20 bis 30 E-Mails am Tag (die auch auf Wunsch gesammelt am Stück gesendet werden können). Wer vor der schieren Zahl erschreckt, möge folgendes bedenken: Alle E-Mails sind als Listen-E-Mails dadurch gekennzeichnet, daß ihnen im "Betrifft" ein [ANWALT] vorangestellt wird. Auf diese Art ist die Nachricht schnell von persönlichen E-Mails, die unmittelbare Aufmerksamkeit beanspruchen, unterscheidbar. Viele Listenteilnehmer haben sich für die Liste zudem entweder eine separate E-Mail-Adresse zugelegt, oder mit Hilfe ihres Mail-Clients ein Fach angelegt, in dem die ANWALT-E-Mails abgelegt werden. Andere Listenteilnehmer wiederum schätzen den steten Fluß der E-Mails, der Abwechslung in den Arbeitstag bringen kann. Abs. 17
Wer das erste Mal an einer Mailingliste teilnimmt, wird zunächst wahrscheinlich etwas verwirrt sein von der Vielzahl der parallel geführten "Gespräche" (in der Internetfachsprache "Threads" = Fäden genannt). Mit etwas Routine lassen sich die einzelnen Gespräche mit Hilfe der Überschriften rasch einordnen. Der Vorschlag, die Liste in Themengruppen aufzuteilen, wurde mit großer Mehrheit abgelehnt. Hauptargument war, daß gerade die Vielfalt der Themen den Reiz der Liste ausmacht und ansonsten der Einblick in die Vielfalt anwaltlichen Tuns verloren ginge.(1)Abs. 18
Aller Voraussicht nach wird die Teilnehmerzahl der Anwaltsliste weiter wachsen. Alle jetzigen Teilnehmer hoffen, daß dieses Wachstum noch mehr Informationen und Kenntnisse bringt, ohne den ausnehmend freundlichen Umgangston der Listenteilnehmer untereinander zu beeinträchtigen. Manchem erscheint es wie ein kleines Wunder, daß in diesem Berufsstand, der unter großem Konkurrenzdruck und -kampf leidet, ein derart zuvorkommendes Miteinander möglich ist.Abs. 19
So faszinierend die virtuelle Kommunikation allerdings auch sein mag, das direkte Gespräch kann sie auch nicht ersetzen. Ein Vorschlag, daß sich die interessierten Listenteilnehmer einmal persönlich kennenlernen sollten, wurde deshalb mit großem Interesse aufgenommen. Auf dem sogenannten Listentreffen 24.-26. März 2000, das die Hanseatische Rechtsanwaltskammer in Hamburg organisierte, trafen sich dann 45 Listenteilnehmer zu einem anregenden und lehrreichen Wochenende.
http://www.etzel-burmester.de/ausblick/anwliste.html
Abs. 20
Ein oft gehörter Satz an diesem Wochenende war: "Ach, soo sehen Sie aus?!".
JurPC Web-Dok.
111/2000, Abs. 21

Fußnote:

(1) Daneben gibt es übrigens eine Reihe weiterer juristischer Mailinglisten, die nicht auf anwaltliche Themen und Teilnehmer beschränkt sind, zum Beispiel

* Juristenliste: http://www.egroups.de/group/juli
* Swisslawlist: http://www.kbx.de/
* Net-Lawyers (US): mailto:listserv@peach.ease.lsoft.com
* Christian Sagawe ist Rechtsanwalt in Hamburg. Sein Tätigkeitsschwerpunkt ist die Beratung dänischer Mandanten in Deutschland im Bereich des Handels- und Gesellschaftsrechts. Homepage: http://www.tyskret.com; E-Mail: sagawe@tyskret.com.
[online seit: 17.07.2000]
Zitiervorschlag: Autor, Titel, JurPC Web-Dok., Abs.
Zitiervorschlag: Sagawe, Christian, Vom Lückenfüller zum (unentbehrlichen ?) Hilfsmittel: Die Mailingliste der Anwälte - JurPC-Web-Dok. 0111/2000