JurPC Web-Dok. 192/1998 - DOI 10.7328/jurpcb/19981312193

BGH, Beschluß vom 14.10.98 (3 StR 236/98)

Einführung eines Polygraphentests ins Strafverfahren

JurPC Web-Dok. 192/1998, Abs. 1 - 9


§ 244 Abs. 2 StPO

Leitsatz

Die gerichtliche Aufklärungspflicht gebietet es nicht, die Ergebnisse eines vom Angeklagten ohne Wissen des Gerichts eingeholten, unter Einsatz eines Polygraphen ("Lügendetektor") erstellten Glaubwürdigkeitsgutachtens in das Strafverfahren einzuführen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten ist rechtzeitig begründet worden, so daß der die Revision gemäß § 346 Abs. 1 StPO verwerfende Beschluß des Landgerichts aufgehoben werden muß. In der Sache bleibt sie ohne Erfolg, da die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ergeben hat. Ergänzend zur Antragsschrift des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat:JurPC Web-Dok.
192/1998, Abs. 1
1. Die Rüge, das Landgericht habe § 231 Abs. 2 StPO verletzt, ist bereits nicht zulässig erhoben.Abs. 2
Nach dem Vortrag der Revision war die Gesundheit des Angeklagten nach dem vierten Verhandlungstag - Montag, dem 13. Oktober 1997 - angegriffen, so daß er am Abend hausärztliche Hilfe herbeiholte. Dabei wurden eine depressive und ängstliche Stimmungslage, blasse Hautfarbe, deutlich überhöhter Blutdruck und defizitärer Puls festgestellt. Der Arzt empfahl dem Angeklagten, "einen Ortswechsel vorzunehmen, damit eine weitere Verhandlung aus medizinischer Sicht überhaupt möglich ist". Die Fortsetzung der Hauptverhandlung war auf den folgenden Montag bestimmt; für den Tag davor war eine erneute ärztliche Untersuchung verabredet. Der Angeklagte fuhr am Mittwoch ca. 1.100 Kilometer nach Siena (Italien). Dort bekam er am Freitag Gleichgewichtsstörungen und mußte am Samstag wegen eines akuten Schwindelanfalles in der Notaufnahme eines Krankenhauses ambulant behandelt werden und bekam zehntägige Bettruhe verordnet. Das Landgericht hat daraufhin das Verfahren in Abwesenheit des Angeklagten durch Urteil beendet.Abs. 3
Bei der Prüfung, ob der Angeklagte bei der Fortsetzung der Hauptverhandlung eigenmächtig ausgeblieben war, also ohne Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe wissentlich seiner Anwesenheitspflicht nicht genügt hatte (BGHSt 37, 249, 255) , kommt es auf die Einzelheiten des Gesundheitszustandes des Angeklagten vor Reiseantritt an. Nur so kann das Revisionsgericht beurteilen, ob der Angeklagte durch eine solche Reise vorsätzlich seine Verhandlungsunfähigkeit herbeigeführt hat. Die Revisionsbegründung muß diese Tatsachen vollständig vortragen. Entgegen § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO teilt die Revision den Bericht eines den Angeklagten behandelnden Facharztes für Neurologie und Psychiatrie vom 6. Oktober 1997 nicht vollständig mit. Es fehlt die Einschätzung des Arztes, daß sich bei dem Angeklagten "ein depressives Syndrom ... mit Schlaf- und Antriebsstörungen, Lustlosigkeit, Denkhemmung, Konzentrationsschwäche, Reizbarkeit, Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme sowie Verschlimmerung des schon länger bestehenden Blutdrucks und zusätzlichen Herzrhythmusstörungen" entwickelt habe. Damit ist die Rüge nicht zulässig erhoben.Abs. 4
Die Rüge wäre im übrigen auch nicht begründet. Angesichts des Krankheitsbildes sieht der Senat in Übereinstimmung mit dem Generalbundesanwalt und dem Landgericht das Fehlen des Angeklagten bei der Fortsetzung der Hauptverhandlung als eigenmächtig an. Wer bei einer derart angegriffenen Gesundheit eine solch lange Reise unternimmt, obwohl er vier Tage später wieder zuhause sein muß, setzt mutwillig seine Verhandlungsfähigkeit aufs Spiel und ist durch eine sodann auftretende Verschlimmerung seines bestehenden Krankheitsbildes, die zu Bettlägerigkeit führt, wegen des Fehlens bei Fortsetzung der Verhandlung nicht entschuldigt.Abs. 5
2. Die Rüge, das Landgericht habe gegen § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO verstoßen, bleibt ohne Erfolg. Ihr liegt folgendes Geschehen zugrunde: Der Angeklagte hatte beantragt, Herrn Prof. Dr. U. "als sachverständigen Zeugen zum Beweis der Tatsache zu vernehmen, daß die am 7. Oktober 1997 durchgeführte Aussagenkontrolle mit Hilfe eines Polygraphen ergeben hat, daß der Angeklagte die tatbezogenen Fragen wahrheitsgemäß verneint hat, was ein starker Indikator für die Unschuld des Angeklagten hinsichtlich des Anklagevorwurfes ist". Das Landgericht hat die Beweisaufnahme als unzulässig abgelehnt. Dies begegnet im Ergebnis keinen Bedenken.Abs. 6
Soweit dem Antrag die Tatsachenbehauptungen entnommen werden können, der Angeklagte habe sich an einem bestimmten Tag einem Polygraphentest unterzogen und dabei Fragen, die sich auf den Gegenstand der Anklage bezogen (vgl. hierzu Rill/Vossel NStZ 1998, 481, 482), verneint, hätte der Antrag allerdings nicht wegen Unzulässigkeit der Beweisaufnahme abgelehnt werden dürfen. Hierauf würde indes das Urteil nicht beruhen, weil das Landgericht von diesen Beweistatsachen erkennbar ausgegangen ist.Abs. 7
Darüberhinaus handelt es sich nicht um einen ordnungsgemäßen Beweisantrag, da keine dem Beweis durch Vernehmung des (sachverständigen) Zeugen zugängliche, hinreichend konkrete Tatsachen unter Beweis gestellt werden (vgl. BGHSt 37, 162, 163 f.; 39, 251, 253) . Es handelt sich vielmehr um das Ergebnis von Schlußfolgerungen ("wahrheitsgemäß" "Indikator für Unschuld"), die - ggf. nach gutachterlicher Beratung durch einen Sachverständigen - zu ziehen grundsätzlich Sache des Gerichts ist.Abs. 8
3. Auch die Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) verpflichtete das Landgericht nicht zur Anhörung von Prof. Dr. U. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes greift die Verwendung des Polygraphen im Strafverfahren in unzulässiger Weise in das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Persönlichkeitsrecht des Betroffenen ein, und zwar auch dann, wenn dieser mit einer derartigen Beweiserhebung einverstanden ist (BGHSt 5, 332; vgl. BVerfG NStZ 1981, 446; 1998, 523). Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob an dieser Auffassung festzuhalten ist, da sich dem Landgericht schon aus anderen Gründen eine Beweiserhebung nicht aufzudrängen brauchte. Die Anwendung des Polygraphen setzt, von generellen Bedenken gegen den hier praktizierten Kontrollfragentest (vgl. Rill/Vossel NStZ 1998, 481) abgesehen, jedenfalls voraus, daß der Untersuchte nicht nur mit der Zuverlässigkeit des Verfahrens rechnet, sondern auch annehmen muß, ein für ihn ungünstiges Ergebnis werde in derselben Weise Berücksichtigung finden wie ein günstiges. Anderenfalls sind verläßliche Resultate von vornherein in Frage gestellt, weil der Respekt des Untersuchten vor dem "Entdecktwerden" einen wichtigen Faktor für das Gelingen des Tests darstellt (sog. "friendly examiner syndrome", vgl. Rogall in SK-StPO 14. Lfg. § 136 a Rdn. 73; Eisenberg, Beweisrecht der StPO 2. Aufl. Rdn. 698, 701; Frister ZStW 106 (1994), 303, 311). So liegt es aber hier: Der Angeklagte hatte sich auf privater Grundlage während der laufenden Hauptverhandlung der Untersuchung unterzogen; über deren Ergebnisse konnte er frei verfügen, die Bekanntgabe eines ggf. für ihn und die Beurteilung seiner Einlassung nachteiligen Ergebnisses mußte er nicht befürchten. Mit dem Ergebnis einer solchen Untersuchung brauchte sich das Landgericht nicht auseinanderzusetzen.
JurPC Web-Dok.
192/1998, Abs. 9
[online seit: 17.12.98]
Zitiervorschlag: Gericht, Datum, Aktenzeichen, JurPC Web-Dok., Abs.
Zitiervorschlag: Bundesgerichtshof, Einführung eines Polygraphentests ins Strafverfahren - JurPC-Web-Dok. 0192/1998