JurPC Web-Dok. 21/1998 - DOI 10.7328/jurpcb/199813216

Cornelia Petcu *

Expertensysteme

JurPC Web-Dok. 21/1998, Abs. 1 - 27


1. Einleitung und Überblick

In den frühen Jahren der künstlichen Intelligenz barg die Forschung auf diesem Gebiet große Erwartungen: Man hoffte, daß Computer binnen weniger Jahre in der Lage seien, wie Menschen zu denken, zu sprechen, zu lernen und sich zu bewegen. Doch stellte sich nach mehreren Fehlschlägen heraus, daß es nicht so einfach möglich ist, ein Allzweckprogramm mit allen Eigenschaften menschlicher Intelligenz und Fähigkeiten zu entwickeln.1JurPC Web-Dok.
21/1998, Abs. 1
Vielmehr setzte sich die Einsicht durch, daß Denkprozesse von Spezialisten auf einem eng begrenzten Aufgabengebiet leichter in eine Programmstruktur hinein modelliert werden können. Es sind infolgedessen in den vergangenen Jahrzehnten verstärkt Expertensysteme für die unterschiedlichsten Anwendungsgebiete entwickelt worden. Mittlerweile kann auch der EDV-Laie mit Hilfe der vorhandenen Entwicklungswerkzeuge Expertensysteme für seinen Anwendungsbereich entwickeln. Abs. 2
Dieser Aufsatz soll zunächst den Aufbau und die Funktionsweise eines Expertensystems skizzieren und als Beispiel ein Expertensystem beschreiben, welches als das erste Expertensystem gilt. Im zweiten Teil werden Entwicklungswerkzeuge, sogenannte Shells, vorgestellt, mit deren Hilfe Expertensysteme leicht entwickelt werden kann.Abs. 3

2. Was ist ein Expertensystem ?

Expertensysteme sind "intelligente" Computersysteme, in denen die fachliche Kompetenz , d.h. das Sach- und Erfahrungswissen, von Experten gespeichert wurde. Sie benutzen neben Fakten- und Regelwissen Heuristiken 2 und vages Wissen. Expertensysteme sind imstande, über Regeln aus dem vorgegebenen Wissen selbständig Schlüsse zu ziehen, z.B. Problemlösungen anzubieten. Beim Aufbau der ersten Systeme wurde so vorgegangen, daß man einen anerkannten menschlichen Experten interviewte und versuchte, sein Wissen zu erfassen - daher der Name "Expertensysteme". Abs. 4
Expertensysteme werden vor allem dort eingesetzt, wo es noch keine exakten Theorien und keine ausgearbeiteten Algorithmen gibt, sondern nur Erfahrungswerte, bruchstückartige Regeln und Heuristiken. Abs. 5

2.1 Aufbau eines Expertensystems

Ein ausgebautes Expertensystem besteht im allgemeinen aus fünf verschiedenen Komponenten:3 Abs. 6
  • Die Wissensbasis bildet die Grundlage. Sie enthält alle Kenntnisse des Fachmanns, meist in Form von Fakten (deklarativem Wissen) und Regeln ( prozeduralem Wissen), oder auch als Rahmen (Beschreibungen von Objekten) und Skripten (Beschreibungen von Abläufen). Die allgemeine Form einer Regel lautet: Wenn P dann Q.
    Regeln sind wie folgt zu interpretieren: Wenn die Prämisse P erfüllt ist, dann wird die Konklusion Q abgeleitet oder die Aktion Q ausgeführt.
Abs. 7
  • Der Schlußfolgerungs-Mechanismus (Inferenzmaschine) dient der Wissensauswertung. Er sucht und verknüpft Fakten und Regeln nach einer vorgegebenen Strategie und produziert so Folgerungen und Ergebnisse. Es werden hauptsächlich zwei Auswertungsstrategien in Expertensystemen eingesetzt:
Abs. 8
Bei der Vorwärtsverkettung werden vom Anwender zuerst Fakten genannt. Die Inferenzmaschine prüft dann, ob diese Daten in einen Zusammenhang stehen. Abs. 9
Bei der Rückwärtsverkettung wird hingegen vom Anwender eine Behauptung aufgestellt oder eine Frage aufgestellt. Anschließend wird untersucht, ob es Regeln und Fakten gibt, mit denen diese Behauptung bewiesen werden kann. Die Auswahl der geeigneten Strategie hängt von dem Anwendungsgebiet ab. Abs. 10
  • Die Erklärungskomponente soll dem Anwender begründen, durch welche Regeln und Fakten ein Ergebnis zustande kam, und sie gibt dem Experten die Möglichkeit zu überprüfen, ob das System seine Schlußfolgerungen korrekt nachbildet.
Abs. 11
  • Der Dialogteil bildet die Schnittstelle zwischen Benutzer und Expertensystem. Dabei ist es meist Ziel der Entwickler von Expertensystemen, den Dialog entweder in einer weitgehend natürlichen Sprache zu führen, oder aber die Ergebnisse graphisch oder in anderer, leicht verständlicher Form darzubieten.
Abs. 12
  • Die Wissensaquisition ermöglicht es dem System zu "lernen", das heißt neues Wissen in die Wissensbasis einzufügen oder altes Wissen zu verändern, ohne daß dies explizit programmiert werden muß. Ist das zu verwaltende Expertenwissen nicht exakt, sondern beruht es auf statistischen Wahrscheinlichkeiten oder auf vagen Aussagen - z.B. ärztliche Diagnose, Bewertung von Aktien - so muß das System probabilistische Aussagen ableiten können und nicht ein nur mögliches oder wahrscheinliches Ergebnis als "sicher" behaupten.
    Es gibt mehrere Ansätze, solche Probleme zu behandeln: Analogie-Schlüsse liegen vor, wenn bei unbekanntem Sachverhalt Schlüsse von ähnlichen Fällen gezogen werden, approximatives Schließen und Fuzzy-Logik wird angewendet, wenn unsicheres und vages Wissen gegeben ist.
Abs. 13

2.2 Einsatzgebiete

Ein typisches Einsatzgebiet von Expertensystemen ist die Diagnose und Therapie von Krankheiten. In diesem Abschnitt soll ein Expertensystem beschrieben werden, das seit 1972 an der Stanford-Universität entwickelt wurde und als das erste Expertensystem gilt. Es handelt sich dabei um das Expertensystem Mycin.Abs. 14
Mycin berät den Arzt bei der Befundermittlung und der Diagnoseerstellung von ansteckenden Infektionskrankheiten des Blutes und von Hirnhautentzündungen und es unterstützt ihn bei der Therapie. Aus den Ergebnissen von Blutuntersuchungen, den Werten von Bakterienkulturen und anderen Angaben gewann man Rückschlüsse darauf, welche Mikroorganismen eine Infektion hervorriefen. Dazu gelangte es mit Regeln wie nachstehender:Abs. 15
WENN sich die Kultur im Blut befindet und gram-positiv ist und die Eingangspforte der Magen-Darm-Trakt ist
   UND
         [A] - der Unterleib der Infektionsort ist
      ODER
         [B] - das Becken der Infektionsort ist,
DANN liegt der Schluß nahe, daß Enterobakterien die Gruppe von Organismen sind, für die eine Therapie angezeigt erscheint.
Abs. 16
Um die Leistungsfähigkeit von Mycin zu testen, wurde folgender Versuch durchgeführt: Es wurden 10 Patienten zufällig ausgesucht. Mycin, sieben Ärzte aus Stanford und ein Medizinstudent gaben ihre Behandlungsvorschläge für jeden Kranken ab. Acht Spezialisten beureilten diese Empfehlungen. Sie wußten nicht, daß einer der zu beurteilenden Fachleute ein Expertensystem sein könnte. Die Gutachter bewerteten die Vorschläge folgendermaßen: Mycin bekam in 52 aller Fälle recht, die Ärzte in 34-50 der Fälle und der Student nur in 24 Fällen. In dieser Studie bekam Mycin also mit 52/80 die höchste Zustimmungsrate. In vielen anderen Fallstudien erreichte Mycin die beachtliche Trefferrate von 90%. Solche Erfolge haben dazu beigetragen, die anfänglich grundsätzlichen Bedenken gegen Expertensysteme abzubauen und die allgemeine Akzeptanz zu erhöhen. Abs. 17

3. Expertensystem-Shells

3.1 Was ist eine Shell ?

Bei den ersten Expertensystemen war es noch üblich, für jedes Problem eine eigene spezielle Lösung zu entwickeln. Später haben sich dann zweckmäßige, allgemeiner einsetzbare Formen der Wissensrepräsentation und der Wissensverarbeitung herauskristallisiert. Teilweise wurden sie als Shells - also als "leere Schalen" für verschiedene Anwendungssysteme - aus existierenden Systemen der ersten Generation "herausabstrahiert". Die Shell enthält die problemunabhängigen Komponenten, während in der Wissensbasis das problemspezifische Wissen enthalten ist. Ein Beispiel hierfür ist Emycin, also die Inferenzmaschine aus Mycin. Abs. 18
Viele der entwickelten Shells werden kommerziell angeboten, während andere wiederum kostenlos erhältlich sind. Der Einsatz einer bestehenden Shell für die Entwicklung eines eigenen Expertensystems bringt eine Reihe von Vorteilen:Abs. 19
  • Die Entwicklungszeit für ein Expertensystem kann erheblich gesenkt werden, da die Zeit für das Erstellen und Testen der Shell entfällt;
  • In der Regel sind für die Erstellung der Wissensbasis keine speziellen Programmierkenntnisse erforderlich, d.h. es werden geringere Ansprüche an die Programmierkenntnisse der Entwickler gestellt.
  • Es existiert meist wenigstens ein fertiges in der Praxis erprobtes Expertensystem, das als Modell und Maßstab für das eigene System dienen kann.
Abs. 20

3.2 Clips

In diesem Abschnitt soll dem interessierten Leser eine Shell und ihre Erweiterungen dargestellt werden:
CLIPS wurde bei der NASA entwickelt und ist eine regelbasierte Shell. Die neueste Version 6.05 einschließlich ausführlicher Dokumentation und Installationsanleitung ist unter folgender Adresse kostenlos erhältlich: http://www.ghgcorp.com/clips /download/
Abs. 21
Clips wurde in C++ geschrieben und ist für folgende Betriebssysteme verfügbar: Windows 3.1 / 95, Macintosh, Unix. Abs. 22
Die Regelsyntax ist einfach. Jede Regel ist eine Aussage vom Typ WENN - DANN. Der WENN - Teil kann eine oder mehrere Bedingungen enthalten. Zusammengesetzte Schlußfolgerungen sind möglich. Clips bietet eine graphische Oberfläche, die die Arbeit mit dem System erleichtert. Abs. 23

3.3 Fuzzy-Clips

Eine Ursache für die Unsicherheit von Wissen ist die Unbestimmtheit der menschlichen Sprache. Sie äußert sich in Begriffen wie "groß", "zuverlässig", "alt" etc. Abs. 24
Um Schlüsse über unbestimmtes Wissen zu ermöglichen, wurde Clips zu Fuzzy-Clips erweitert. Fuzzy-Clips verfügt über zwei Verfahren, mit Unsicherheit und Unschärfe umzugehen. Die unscharfe Logik versucht, die Aussagenlogik auf Gebiete anwendbar zu machen, wo die Aussagen nicht zweiwertig, das heißt entweder wahr oder falsch sind, sondern jede Ausprägung zwischen diesen Werten nehmen können. Z.B. gehört dann ein 50-jähriger nicht mehr entweder in die Menge der alten Menschen oder in die Komplementärmenge der jungen Menschen. Für die Aktivierung von Regeln müssen die Bedingungen im Wenn - Teil der Regel nicht (wie beim deduktiven Schluß) streng erfüllt sein, sondern werden schon dann aktiviert, wenn die Bedingungen in unscharfer Weise über einen Zugehörigkeitsgrad gestützt werden.Abs. 25
Unsicherheit bezüglich Regeln oder Fakten wird mit Hilfe von Konfidenzfaktoren modelliert. Der Konfidenzfaktor gibt an, inwieweit man einem Fakt oder einer Regel vertrauen oder seiner sicher sein kann. Es handelt sich jedoch nicht um Wahrscheinlichkeiten. Der Konfidenzgrad wird als Zahl angegeben, die auf einer Skala zwischen 0 und 1 definiert ist.Abs. 26
FuzzyClips ist ebenso kostenlos erhältlich. 4 Download - Adresse ist: http://ai.iit.nrc.ca/fuzzy/fuzzy.html. Unter dieser Adresse befindet sich auch die Dokumentation in Postscript-Format. Diese gibt eine kurze Anleitung zur Installation von FuzzyClips auf Windows95 / Unix / Macintosh und bietet eine sehr gute Übersicht über das System.
JurPC Web-Dok.
21/1998, Abs. 27

Fußnoten:

1 Crevier, Daniel: Eine Schöne neue Welt. Die aufregende Geschichte der künstlichen Intelligenz. 1994, Econ.

2 Heuristik: Lehre von den Wegen zur Gewinnung neuer Erkenntnisse ( eigentlich "Findungs-, Erfindungskunst"; zu grch. heuriskein "finden")

3 Harmon, P. , King, D. : Expertensysteme in der Praxis: Perspektiven, Werkzeuge, Erfahrungen, 1989, Oldenbourg, 3. Auflage.

4 Schnupp, Peter, Leibrandt, Ute Expertensysteme. Nicht nur für Informatiker, 1986, Springer.


* Cornelia Petcu ist Diplom-Volkswirtin und Diplom-Kauffrau und steht kurz vor dem Abschluß ihres Informatikstudiums. Sie promoviert derzeit im Rahmen eines gemeinsamen Fuzzy-Logic-Projektes der Lehrstühle von Prof. Dr. Herberger, Prof. Dr. Rüßmann und Prof. Dr. Steinmetz an der Universität des Saarlandes.
[20.02.98]
Zitiervorschlag: Autor, Titel, JurPC Web-Dok., Abs.
Zitiervorschlag: Petcu, Cornelia, Expertensysteme - JurPC-Web-Dok. 0021/1998