JurPC Web-Dok. 45/2009 - DOI 10.7328/jurpcb/200924340

Carlo H. Borggreve / Joerg Andres *

Digitale Betriebsprüfung als "Privatvergnügen" des Unternehmers?

- Zum faktischen Verbot einer GDPdU-Rückstellung -

JurPC Web-Dok. 45/2009, Abs. 1 - 20


Was viele kleine und mittelständische Unternehmen immer noch nicht so genau vor Augen haben: Seit Anfang 2002 bereits darf der Steuerprüfer neben bzw. anstelle der bisher üblicherweise in Papierform oder auf Datenspeicher abgelegten Aufzeichnungen, Geschäftspapiere und andere Urkunden der Buchhaltung  direkt auf digitale Daten aus und in  den EDV-Systemen des Unternehmens zugreifen. Dem Prüfer müssen Lesbarkeit der Daten und bestimmte Auswertungsmöglichkeiten des EDV-Systems ermöglicht werden. Er kann auch verlangen, dass die zum Teil viele Jahre zurück reichenden Daten nach seinen Vorgaben maschinell ausgewertet oder ihm die gespeicherten Daten und Aufzeichnungen auf einem maschinell verwertbaren Datenträger zur Verfügung gestellt werden. Ein entsprechendes Gesetz und eine Verwaltungsanweisung zu den "Grundsätzen zum Datenzugriff und zur Prüfbarkeit digitaler Unterlagen (GDPdU) regeln und konkretisieren das. JurPC Web-Dok.
45/2009,   Abs. 1
Auf die Unternehmen kamen seit Einführung dieser neuen Regeln bereits Kosten für erweiterte IT-Einrichtungen, Personalschulung sowie neue Aufbewahrungs- und Archivierungsmethoden in mehrstelliger Millionenhöhe zu.  Diese müssen nach ausdrücklicher gesetzlicher Regelung von den Unternehmen getragen werden. Abs. 2
Für den Kaufmann verbindet sich damit zwangsläufig die Frage nach der Bildung von entsprechenden Rückstellungen. Abs. 3

Ablehnende Haltung der Finanzverwaltung
Die Oberfinanzdirektion (OFD) Rheinland hat dazu am 5.11.2008 verfügt, dass solche Rückstellungen von den Finanzämtern nicht anzuerkennen sind. Die überraschende Begründung: das durch die GDPdU vom Steuerpflichtigen geforderte Verhalten sei nicht so hinreichend konkretisiert, dass man von einer Außenverpflichtung sprechen könne. Dass bei Nichtbeachtung die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen droht, sei keine Belastung, die eine Rückstellung rechtfertige. Eine steuerliche Betriebsprüfung als Auslöser einer solchen Sanktion sei ein ungewisses Ereignis, das am Bilanzstichtag noch keine ernsthafte Inanspruchnahme verursacht habe. Abs. 4
Die zum Bilanzstichtag bestehenden Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflichten führten erst später zum Datenzugriff durch Einsichtnahme der gespeicherten Daten und Nutzung vorhandener Datenverarbeitungssysteme durch den Steuerprüfer. Das Unternehmen sei grundsätzlich frei, entsprechende Anpassungsmaßnahmen auch später zu ergreifen. Abs. 5

Gegenposition und Bedenken
Die Argumente in der Verfügung der OFD Rheinland sind irritierend und bedenklich. Zuerst hat die Finanzverwaltung mit ihren umfangreichen Ankündigungen und Begleitmaßnehmen zur Einführung der GDPdU eine jahrewährende rechtliche und IT-technische Diskussion ausgelöst, eine große Anzahl von Unternehmen, bei denen regelmäßig (oder fast regelmäßig) steuerliche Außenprüfungen erfolgen, zu großem Organisations- und damit letztlich finanziellem Aufwand getrieben, und betrachtet das alles nunmehr völlig distanziert als ein jeweils ungewisses Ereignis in der Zukunft. Dabei handelt es sich eindeutig um Aufwendungen aus öffentlich-rechtlicher Verpflichtung. Die aus den GDPdU folgenden Auflagen an die steuerpflichtigen Unternehmen sind gesetzlich geregelte, gesonderte steuerliche Modalitäten der allgemeinen handels- und steuerrechtlichen Aufbewahrungspflichten. Sie lösen besondere Kosten aus, die am Bilanzstichtag zwar ungewiss in ihrer Höhe, aber dem Grunde nach sehr konkret umschrieben sind. Sie machen -  nicht anders als die Aufwendungen für die Aufbewahrung von Geschäftsunterlagen - die Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten gemäß § 249 Abs. 1 HGB erforderlich. Und nach dem in diesem Fall immer noch bestehenden Maßgeblichkeitsgrundsatz muss eine solche Rückstellung auch in der Steuerbilanz angesetzt werden. Abs. 6
Die Grundsätze hierzu hat das BFH-Urteil vom 19. August 2002 (BStBI. II 2003 S. 131) zum Passivierungsgebot für zukünftige Kosten der Aufbewahrung von Geschäftsunterlagen klar heraus gearbeitet: Abs. 7
Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten aus öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen sind zu bilden, wenn
  • eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung gegenüber einem Dritten hinreichend konkretisiert (Außenverpflichtung) und
  • wirtschaftlich verursacht ist und
  • mit der tatsächlichen Inanspruchnahme ernsthaft zu rechnen ist (Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme) und
  • die Ausgaben nicht als Anschaffungs- oder Herstellungskosten aktivierungspflichtig sind.
Abs. 8
Auf die Aufwendungen für GDPdU-Technik übertragen bedeutet das: Abs. 9
Die gesetzliche Vorgabe in § 147 Abs. 6 AO i. V. m. den GDPdU ist hinreichend konkret in Bezug auf die Verpflichtung zur Aufbewahrung und zur Auswertbarkeit der Daten. Dass die konkrete Umsetzung der Aufbewahrung digitaler Unterlagen, z. B. hinsichtlich der Eingrenzung der steuerlich relevanten Unterlagen oder hinsichtlich der Mindestauswertungsmöglichkeiten der archivierten Daten an zurückliegenden Bilanzstichtagen oftmals noch unklar ist, ändert daran nichts. Abs. 10
Die Frage einer Sanktionsbewehrung hat der BFH in seinem Urteil vom 19. August 2002 (a.a.O.) mit Hinweis auf §§ 283, 283b StGB bejaht. Abs. 11
Ob neben der gesetzlich normierten Verpflichtung fallweise auch ein gewisses eigenbetriebliches Interesse an der Archivierung digitaler Unternehmensdaten besteht, ist dabei unerheblich. In den weitaus meisten Fällen wird dies auch nicht zutreffen. Denn die Auswertungsmöglichkeiten des Archivsystems denen des Aktivsystems entsprechen zu lassen, hat praktisch immer erhebliche zusätzliche (finanzielle) Belastungen zur Folge. Abs. 12
Typisch für steuerrelevante IT-Systeme ist es, dass produktive Daten nicht mehr als 36 bis 48 Monate in den Aktivsystemen geführt werden. Nach Ablauf dieses Zeitraums kommt es zur Reorganisation, d. h. zur Entfernung der Daten von den aktiven IT-Systemen und ihrer Sicherung auf Datensicherungsmedien. Daher ist die Anpassung der steuerrelevanten IT-Systeme Voraussetzung dafür, dass diese Systeme in die Lage versetzt werden, die aufbewahrungspflichtigen Daten über die gesamte Aufbewahrungsfrist aufzubewahren und während dieses Zeitraums der Finanzverwaltung mittels der in § 147 Abs. 6 AO definierten Zugriffsarten bereitzustellen. Für die Gewährleistung der Identifikation der steuerrelevanten Daten und IT-Systeme und deren Anpassung ist in der Regel ein gesondertes GDPdU-Projekt einzurichten in dessen Rahmen die Identifikation der steuerrelevanten Daten und der IT-Systeme sowie die zur Änderung der üblichen organisatorischen Regelungen erforderlichen organisatorischen und IT-technischen Schritte erfolgt, damit die Anforderungen des § 147 Abs. 2 und Abs. 6 AO prozessgesichert erfüllt werden. Die unverhältnismäßig lange Zeitspanne der Aufbewahrungspflicht (10 Jahre) sowie die hohen Anforderungen an die Auswertbarkeit von Altdaten dürften jedoch einem überwiegenden eigenbetrieblichen Interesse erkennbar entgegenstehen. Selbst bei einer Rekonstruktion aus Datensicherungsmedien können die Zugriffsarten nach § 147 Abs. 6 AO (hier: die Zugriffsarten des unmittelbaren und mittelbaren Zugriffs) nicht mehr realisiert werden. Darüber hinaus käme es zu einer Verletzung der Anordnung in § 146 Abs. 5 Satz 3 AO, die eine unverzügliche Einräumung der Befugnisse nach § 147 Abs. 6 AO vorsieht. Abs. 13
Im Übrigen hat der BFH in seinem vorgenannten Urteil zu Aufbewahrungs-Rückstellungen festgestellt, dass ein eigenbetriebliches Interesse gegenüber der öffentlich-rechtlichen Verpflichtung zurücktritt. Abs. 14
Die wirtschaftliche Verursachung im Zeitpunkt der Bilanzaufstellung kann nicht ernstlich zweifelhaft sein. Für Unterlagen in Papierform wie für originäre digitale Unterlagen fällt die Entstehung in die Wirtschaftsjahre, für die die Unterlagen aufbewahrt werden müssen. Der BFH erachtet die Pflicht zur Aufbewahrung für im Wesentlichen vergangenheitsbezogen und sieht damit die wirtschaftliche Verursachung im Entstehungsjahr als gegeben an. Abs. 15
Wenn der Fiskus selbst die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme bezweifelt, begibt er sich auf rechtpolitisch bedenkliches Terrain. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sich die Steuerpflichtigen an die gesetzlichen Vorschriften halten und ihren Aufbewahrungspflichten nachkommen. Dies spricht für die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme der Rückstellungen. Im Regelfall dürfte somit die Inanspruchnahme von Rückstellungen für die gesetzlich vorgeschriebenen Aufbewahrungspflichten auch für digitale Geschäftsunterlagen hinreichend wahrscheinlich sein, jedenfalls für Unternehmen, bei denen steuerliche Außenprüfungen sich lückenlos auf sämtliche Veranlagungs-, Erhebungs- bzw. Besteuerungszeiträume erstrecken. Abs. 16
Seitdem mit dem Jahressteuergesetz 2009 zudem mit der Einführung des neuen § 146 Abs. 2b AO faktisch eine deutliche Ausweitung des Anwendungsbereichs des § 147 Abs. 6 AO festgeschrieben wurde, kann die Finanzverwaltung nunmehr ein Verzögerungsgeld zur Durchsetzung des Rechts auf Datenzugriff von bis zu € 250.000,-- (in Worten: Euro Zweihundertfünfzigtausend) verhängen.Abs. 17
Spätestens jetzt muss sich die Finanzverwaltung fragen lassen, ob angesichts solcher Sanktionsmöglichkeiten noch allein auf die Gefahr einer Schätzung als möglicher Belastung, die eine Rückstellung begründen könnte, abgestellt werden kann. Welcher vernünftige Kaufmann kann sich in Anbetracht eines solchen Drohszenarios noch eine Nicht-Vorbereitung auf die digitale Betriebsprüfung auch nur im Ansatz leisten? Abs. 18

Fazit
Die umstrittene Verfügung der OFD Rheinland vom 5.11.2008 kann von der Steuerpraxis nicht widerspruchslos hingenommen werden. Zahlreiche Experten und Verbände haben bereits Protest angemeldet. Abs. 19
Die Finanzverwaltung täte gut daran, die Verfügung schnellstens aufzuheben. Diese sollte durch eine differenzierende Anweisung ersetzt werden, wonach die Rückstellungsfähigkeit dem Grunde nach anerkannt wird, wenn Unternehmen Aufwendungen tätigen, um die gesetzlichen GDPdU-Vorschriften einzuhalten. Der Bundesfinanzhof dürfte schon bald Gelegenheit haben festzustellen, ob solche Anweisungen im Einklang mit seiner Rechtsprechung zur Rückstellungsbildung für künftige Kosten der Aufbewahrung von Geschäftsunterlagen stehen.
JurPC Web-Dok.
45/2009,   Abs. 20
* Dr. Carlo H. Borggreve war zunächst als Sachgebietsleiter in der Finanzverwaltung und anschließend als Referent im Bundeswirtschaftsministerium tätig. Ende 1983 wechselte er als Syndikusanwalt zu einem namhaften Montankonzern. Er verantwortete dort als Zentralbereichsleiter die Steuer- und Bilanzfragen bis er 2004 die Leitung des Bereichs Steuern eines renommierten Versicherungskonzerns im Rheinland übernahm. Seit Mitte 2007 ist er Partner einer Wirtschaftskanzlei in Dortmund mit Beratungsschwerpunkt im Gesellschafts-und Unternehmenssteuerrecht sowie Steuerverfahrensrecht und Partner der ADVOCATAX Steuerberatungsgesellschaft mbH, Düsseldorf. Er ist Dozent für internationales Steuerrecht an der RFH Köln.
Dr. Joerg Andres ist Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht und Steuerberater www.andresrecht.deund Partner der ADVOCATAX Steuerberatungsgesellschaft mbH, Düsseldorf. Er war zudem langjährig als Justiziar und Personalchef beim größten in Deutschland ansässigen Werbe- und Kommunikationsagenturkonzern an gleicher Stätte tätig und engagiert sich ehrenamtlich im Vorstand des Marketing Club Düsseldorf. Er ist spezialisiert auf die Bereiche Gesellschaftsrecht, Erbrecht und steuerlich veranlasste Streitigkeiten sowie deren Vermeidung. Zudem ist er langjähriger Dozent für Vertragsgestaltung und Verhandlungsführung an der RFH Köln.
[ online seit: 03.03.2009 ]
Zitiervorschlag: Autor, Titel, JurPC Web-Dok., Abs.
Zitiervorschlag: Borggreve, Carlo H., Digitale Betriebsprüfung als "Privatvergnügen" des Unternehmers? - Zum faktischen Verbot einer GDPdU-Rückstellung - - JurPC-Web-Dok. 0045/2009